Wer hätte ahnen können, dass nach dem hart erkämpften Sieg des Linksbündnisses bei den vorgezogenen Parlamentswahlen die weit abgeschlagenen Konservativen nun von der Schwäche des Macron-Lagers profitieren? Sie machen jetzt gemeinsame Sache mit Marine Le Pens rechtsextremem Rassemblement National. Die Entwicklungen der letzten Woche sind so schwindelerregend, dass es schwerfällt, Worte für das zu finden, was man im Élysée-Palast des Präsidenten nun fabriziert hat. Alternative Fakten? Demokratie-Raub? Ein Rechts-Coup? Wochenlang hat Präsident Emmanuel Macron keine Eile gehabt, eine neue Regierung zu ernennen. Er hatte sich rundheraus geweigert, die Kandidatin des Linksbündnisses, Lucie Castets, zur Premierministerin zu ernennen, wie es korrekte demokratische Praxis gewesen wäre. Mit der Ernennung Michel Barniers hat er nun alles auf den Kopf gestellt, wofür die französischen Wählerinnen und Wähler sich ausgesprochen hatten.

Denn mit Barnier regiert nun ein Vertreter der französischen Rechtskonservativen Les Républicains – einer Partei, die bei den vorgezogenen Parlamentswahlen nur als fünftstärkste Partei abgeschnitten hat und lediglich 41 von 577 Sitzen erlangte. Die europakritischen Republikaner hatten sich im Zuge der Wahlen dem aktiven Kampf gegen die Rechtsextremen, der sogenannten republikanischen Front, verweigert. Noch bitterer ist, dass Barnier nur „unter Aufsicht“ des rechtsextremen Rassemblement wird regieren können, denn tatsächlich ist es Marine Le Pen, die das Schicksal der Regierung Barnier nun in den Händen hält. Der Rassemblement, der bei den Wahlen mit 123 Sitzen in der Nationalversammlung zwar stärkste Partei wurde, ist angesichts der linken und zentristischen Bündnisse jedoch nur dritte Kraft in der französischen Demokratie.

Barniers Regierung muss unweigerlich bei jedem Vorhaben um die Unterstützung des Rassemblement werben.

Barniers Regierung, die es mit einem Parlament zu tun haben wird, das dem Präsidenten gegenüber zu zwei Dritteln feindlich eingestellt ist, muss unweigerlich bei jedem Vorhaben um die Unterstützung des Rassemblement werben. Dieser hat in Aussicht gestellt, Barnier „nicht gleich“ abwählen zu wollen, sondern ihn zu „prüfen“. Aus den Reihen des rechtsextremen Bündnisses hieß es am Wochenende unmissverständlich: „Wenn Barnier der kleine Telegrafist von Macron ist, wählen wir ihn ab!“ Die düpierten Wahlsieger, das Linksbündnis Nouveau Front Populaire, kündigten schon am Tag der Nominierung an, ein Misstrauensvotum gegen Barnier anzustreben. Die linken Bündnispartner verfügen zusammen mit 192 Sitzen über eine relative Mehrheit in der Assemblée.

Insofern benötigt Barniers Regierung stets die Unterstützung des Rassemblement National, um zu überleben. Barnier, der schon etliche hohe politische Ämter innehatte, der unter anderem Minister und EU-Kommissar war und zuletzt für die EU die Brexit-Verhandlungen führte, muss sich im Klaren darüber sein, dass er eine gewisse Distanz zu Macron aufbauen muss, auch wenn manche ihn als enttäuschten Macronisten sehen. Denn Le Pens Unterstützung wird zweifelsohne ihren Preis haben. „Wir wollen klare Kursänderungen sehen“, kündigte Le Pen bereits an. Barnier dürften gewisse Kompromisse nicht allzu schwerfallen. Am Tag seiner Ernennung riefen linke Medien in Erinnerung, dass Barnier im Nominierungswettbewerb seiner Partei zu den Präsidentschaftswahlen 2022 viele bereits mit Forderungen schockierte, nach denen sich Frankreich „frei machen müsse“ vom vertraglichen Korsett der EU. Barnier bezog sich dabei auf die Migrationspolitik und hatte damals sogar einen Einwanderungsstopp via Moratorium gefordert.

Le Pens Unterstützung wird zweifelsohne ihren Preis haben.

Macron scheint es bei allem Taktieren vor allem darum gegangen zu sein, dass nach den für ihn vernichtenden Parlamentswahlen sich nun keine Regierung daran macht, sein neoliberales Projekt rückabzuwickeln, wie die Linke es bei Renten und Sozialausgaben vorhat. Mit dem 73-jährigen Barnier hat er folgerichtig seinen perfekten Kandidaten gefunden: erfahrener Verhandler, Technokrat, rechtskonservativ und vor allem loyal, ohne neuerliche persönliche Ambitionen auf das Präsidentenamt. Barnier selbst hatte sich vor Jahren im Kampf um Frankreichs Renteneintrittsalter für die Rente ab 65 ausgesprochen – auch damit liegt er auf Macrons Linie. Ob mit Barnier nun in Frankreich der Konservatismus sein Comeback feiert und der Macronismus ein Ende findet, darüber werden vielleicht die anstehenden Ernennungen der Minister etwas verraten.

Im frustrierten linken Bündnis leckt man sich die Wunden. Dort geht es zunächst auch darum, das wohlfeile Narrativ der „Schuld“ abzuwehren. Geschickt hatte Macron es in den letzten Wochen verstanden, es stets so aussehen zu lassen, als sei die Linke aufgrund ihrer inneren Spannungen selbst schuld daran, dass sie nicht regieren könne. Dabei hatte er – in autoritärer Lesart der Verfassung seine Rollenkompetenz überschreitend – alles getan, um die Linke von der Regierung fernzuhalten. Dass er dazu Verfassungsrechtler gegen sich aufbringt, Wählerwillen ignoriert und sogar aktiv um das Wohlwollen der Rechtsextremen wirbt, illustriert das Ausmaß der Krise der französischen Demokratie. Barnier, so viel ist klar, wird sich auf einem sehr schmalen Grat vorantasten müssen und eventuell bald abstürzen.