Während die ganze Welt auf die Ukraine schaut, wird im Schatten der Aufmerksamkeit im Nachbarland Belarus gegen unabhängige Gewerkschaften vorgegangen. Am 19. April 2022 kam es dort zum bisher massivsten Angriff auf ihre Strukturen: Mehr als 20 Gewerkschaftler und Gewerkschaftlerinnen wurden verhaftet, darunter die Chefs dreier unabhängiger Gewerkschaften, mehrere Stellvertretende Vorsitzende und so gut wie alle Vertreterinnen und Vertreter des Kongresses der Demokratischen Gewerkschaften Belarus (BKDP) sowie weitere Vertreter derunabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Die Büros der Freien Metallarbeitergewerkschaft (SPM) und des BKDP wurden durchsucht. Zehn unserer Kolleginnen und Kollegen sind derzeit noch in Untersuchungshaft, darunter der BKDP-Vorsitzende und sein Stellvertreter, die Führungsspitze der Gewerkschaft der Radioelektrischen Arbeiter (REP), SPM-Vertreter und andere.
Sie werden beschuldigt, gegen Artikel 342, Absatz 1 des belarussischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben: „Organisation von gemeinsam begangenen Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung grob verletzen und durch die rechtmäßige behördliche Anordnungen missachtet werden oder die den Verkehrsbetrieb oder die Arbeit von Unternehmen, Behörden oder Organisationen stören, sowie die aktive Beteiligung an solchen Aktivitäten ohne Anzeichen für noch schwerer wiegende Straftaten.“ Während der Beweisaufnahme kommen noch weitere Anklagepunkte hinzu.
Der Angriff auf die unabhängigen Gewerkschaften wirkt so, als sollten die letzten verbliebenen Vereinigungen der Zivilgesellschaft in Belarus ausgemerzt werden.
Diese Tatbestände beziehen sich zwar eher auf konkrete Personen und nicht auf ganze Organisationen, aber mit den Massenverhaftungen ist es den Behörden dennoch gelungen, die Arbeit der unabhängigen Gewerkschaften lahmzulegen. Zugleich entfalten die Festnahmen die gewünschte abschreckende Wirkung auf die übrigen Mitglieder. Die ganze Aktion wirkt so, als sollten die letzten verbliebenen Vereinigungen der Zivilgesellschaft in Belarus ausgemerzt und alle Möglichkeiten abgeschafft werden, die eigenen Rechte zu verteidigen.
Was den Schutz der Arbeitnehmerrechte angeht, befindet Belarus sich heute auf dem Niveau der 1980er Jahre. Die traditionellen Gewerkschaften sind eine Mogelpackung. Sie sind ein Werkzeug der amtierenden Regierung und der staatlichen Propaganda und vertreten die Interessen der Arbeitgeber. Sie finden sich bereitwillig damit ab, dass die arbeitende Bevölkerung auf Geheiß der Regierung den „Gürtel enger schnallen“ und schlechtere Arbeitsbedingungen und eine Minderung der Lebensqualität hinnehmen soll.
Der von der Regierung unterstützte Belarussische Gewerkschaftsbund (FPB) hat uneingeschränkte Handlungsfreiheit, die Mitgliedschaft ist de facto obligatorisch (der FPB hat rund 4 Millionen Mitglieder) und das Beitragsaufkommen dementsprechend hoch. Die Gewerkschaften des FPB sorgen dafür, dass die Belegschaften nicht wissen, welche Konditionen in den Tarifverträgen stehen, nach welchem Prozedere diese Verträge geschlossen werden und welche Rechte sie als Arbeitnehmer haben. Vielen Beschäftigten ist nicht einmal klar, unter welchen Voraussetzungen welche Löhne und Tarife bezahlt werden. Obendrein haben längst nicht alle Arbeitnehmer in Belarus eine Ahnung, wie viel Steuern von ihrem Lohn einbehalten werden.
Alle Reformen, die von der Regierung ins Spiel gebracht werden, beeinträchtigen die Interessen der Arbeiterschaft. Das gilt besonders für die neoliberalen Schocktherapien, die als Reformen deklariert werden. Von allen Reformen, die in den vergangenen zehn Jahren am belarussischen Arbeitsrecht vorgenommen wurde, hatten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nie einen Vorteil. Im belarussischen Arbeitsrecht ist alles ausgehebelt, was sich überhaupt nur aushebeln lässt.
Die unabhängigen Gewerkschaften werden konsequent unterdrückt und aufgerieben. Der BKDP hat heute rund 10 000 Mitglieder – halb so viele wie 2002.
Die unabhängigen Gewerkschaften hingegen arbeiten schon seit 30 Jahren unter widrigsten Bedingungen, übernehmen die Verteidigung von Arbeitnehmerinnen in Gerichtsverfahren, versuchen die juristische Unwissenheit abzubauen und melden Rechtsverstöße bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Deshalb sind sie der Regierung ein Dorn im Auge und werden konsequent unterdrückt und aufgerieben – etwa durch die Einführung einer neuen Vorschrift, nach der Organisationen eine juristische Adresse vorweisen müssen, damit sie sich registrieren lassen können, oder durch die Bedrohung einfacher Gewerkschaftsmitglieder. Der BKDP hat heute aufgrund dessen nur noch rund 10 000 Mitglieder – halb so viele wie 2002.
In Belarus laufen gegenwärtig gesellschaftliche Prozesse ab, die unumkehrbar sind. Aus psychologischer Sicht könnte man sagen, dass die Gesellschaft dabei ist, mündig zu werden. Die Menschen haben inzwischen in wichtigen Fragen den Durchblick, sind bereit, sich zu informieren und individuell und kollektiv Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen auf verschiedenen Ebenen auf das Leben in ihrem Land Einfluss nehmen; dabei reicht das Spektrum von der Wohnumfeld- oder Quartiersverbesserung bis hin zu Verhandlungen mit Regierungsstellen. Dadurch wird es für die staatliche Propaganda immer schwerer, zu den Menschen durchzudringen, die Entsolidarisierung der Gesellschaft voranzutreiben und der Allgemeinheit einzureden, sie sei machtlos, damit sie sich weiterhin passiv verhält. In dieser Situation bleiben dem autoritären Regime nur die altbewährten Mittel der Einschüchterung und der rigorosen Repression. Das Ausmaß der Repressalien ist ein Indiz dafür, wie groß die Angst der Regierung vor der Öffentlichkeit ist.
Das Ausmaß der Repressalien ist ein Indiz dafür, wie groß die Angst der Regierung vor der Öffentlichkeit ist.
Es besteht kein Zweifel, dass die Diktatur in Belarus zum Untergang verdammt ist. Früher oder später wird eine Übergangszeit anbrechen, wie das Land sie nach dem Zerfall der Sowjetunion schon einmal erlebt hat. Damals gab es keine leidenschaftlichen Demokratiebestrebungen. Heute ist die Situation ganz anders, doch leider hat die Mehrheit der belarussischen Bevölkerung nicht viel Erfahrung mit dem Aufbau und der Arbeitsweise demokratischer Institutionen. Mehr denn je braucht das Land fähige Fachleute, Ökonomen, Juristinnen, Konstrukteure und Angehörige anderer Berufsgruppen, die mithelfen könnten, Krisenbewältigungsmechanismen und Pläne für den Erhalt von Arbeitsplätzen zu entwickeln und damit zu verhindern, dass die belarussische Wirtschaft vollends Schiffbruch erleidet. Doch gerade diese Fachkräfte bekämpft das Regime seit Jahren unter Mitwirkung des FPB, der einfach seine Hände in den Schoß legt.
Die Gewerkschaften sind wohl bis heute die langlebigste und plausibelste Struktur. Zudem wird die weltweite gewerkschaftliche Zusammenarbeit auf allen Ebenen kontinuierlich immer weiter intensiviert. In der Frage, was reformiert werden muss, haben die unabhängigen Gewerkschaften eine feste Grundhaltung, die sich auf die Kernarbeitsnormen und Übereinkommen der ILO stützt. Darin sind die roten Linien festgeschrieben, hinter die aus Sicht der Gewerkschaften keine Reform zurückfallen darf. Das gilt besonders für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, den öffentlichen Sektor und das Allgemeinwohl, für Auslandsinvestitionen, die natürlichen Ressourcen und die Ökologie. Mensch, Arbeit und Natur sind keine Ware. Deshalb dürfen wir uns nicht ausschließlich auf die Instrumente des freien Marktes verlassen. Wir brauchen Garantien. Vor allem deshalb sollten wir uns schon jetzt darüber Gedanken machen, mit welcher Strategie es gelingen kann, die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch strukturiertes Handeln demokratischer Gewerkschaften zu verteidigen.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld