Das Interview führten Roland Bathon und Ruslan Suleymanov.

Warum protestieren die russischen Bürger in Russland nicht in größerer Zahl über den von Wladimir Putin entfesselten Krieg in der Ukraine? Weil sie nicht so direkt von ihm gefährdet sind wie die Ukrainer in ihren Luftschutzbunkern?

Zunächst einmal muss man sagen, dass die Russen im Gegensatz zu den Ukrainern bei Konfrontationen mit den Offiziellen bisher immer verloren haben. Alle Versuche, die Politik der Regierung durch friedliche Demonstrationen irgendwie zu beeinflussen, Ergebnisse verfälschter Wahlen zu annullieren, den Rücktritt von Spitzenpolitikern zu erzwingen, vom Inhalt her volksfeindliche Veränderungen rückgängig zu machen, blieben ergebnislos. Sie endeten nur in Strafen für einen Teil der Aktiven und ihrer Organisationen. Als nun dennoch zehntausende Russinnen und Russen gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straßen gingen, war ich sicher, dass sie nicht gehofft haben, den Krieg damit beenden zu können. Es einte ein Gefühl der Hilflosigkeit, weil der russische Staat in solchen Situationen den Menschen noch nie entgegengekommen ist.

Der reagierte stets mit der Politik der eisernen Hand, ohne Kompromisse, Proteste sind für ihn nicht akzeptabel. In diesen Zusammenhang muss ich auch auf die beispiellose Grausamkeit hinweisen, in der die Behörden diese aktuellen Proteste unterdrückt und ihre Teilnehmer bestraft haben. 16 000 Menschen wurden innerhalb von nur wenigen Tagen festgenommen. Abschreckend wirken darüber hinaus drakonische Gesetze, die vom Regime neu eingeführt wurden. Man kann bis zu 15 Jahre Gefängnis bekommen, wenn man einfach nur die „falsche“ Information, die der russischen Propaganda widerspricht, mit „Gefällt mir“ markiert oder weiterverbreitet; bei der Teilnahme an einem friedlichen Protest können es bis zu sechs Jahre sein. Das ist natürlich alles sehr entmutigend, aber das Entscheidende ist, dass die Menschen nicht das Gefühl haben, dass ihre Handlungen etwas bewirken – und das bei einem hohen persönlichen Preis. Was dem Putin-Regime in den vergangenen Jahren als Einziges gut gelungen ist, ist die Einschüchterung, Unterdrückung und Manipulation des eigenen Volkes mit der Propaganda korrupter Medien.

Haben sich die Menschen mit dieser „totalen Staatspropaganda“ abgefunden, nachdem die letzten recht freien Medien wie Echo Moskwy oder Doschd in Russland nach Kriegsbeginn geschlossen wurden?

Für weitreichende Schlussfolgerungen ist es nach meiner Meinung noch zu früh. Der Kriegsbeginn ist erst drei Monate her. Die vom russischen Staat gestartete Propagandakampagne ist beispiellos in ihrer massiven Aggressivität und ihrer Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen. Im Zusammenhang mit der Mobilisierung der Bevölkerung werden Kriegsgegnerinnen und -gegner nicht nur diffamiert und geächtet, sondern wirklich schikaniert. Deswegen trauen sich Personen mit anderer Meinung nicht mehr, diese zu äußern. Eine Strategie der Anpassung an dieses Klima ist ein einfach erklärbarer Konformismus. Personen ziehen es vor, bei Themen, die für sie keine prinzipielle Bedeutung haben, die Meinung zu vertreten, von der sie glauben, dass die Mehrheit sie hat.

Wenn die Behörden dann sagen würden, man wird zum Verräter, wenn man eine Kampagne für Kannibalismus nicht unterstützt, würden sie zwar selbst keine Menschen essen, aber selbst gegen diese Kampagne nichts haben. Um bei Bedarf nicht aufzufallen, schwenken solche Menschen auch mal eine Fahne oder malen irgendwo ein „Z“ hin. 

Gleichzeitig sehen wir aber, dass die wirkliche Opferbereitschaft der Menschen für den Krieg sehr gering ist. Wir sehen keine Schlangen von Freiwilligen, die darauf warten, an die Front zu gehen, um gegen die angeblichen ukrainischen Nazis zu kämpfen. Wir sehen keine größeren Spendensammlungen für die Soldaten, die im Krieg sind. Alle öffentliche Unterstützung läuft auf die Bereitschaft hinaus, den Buchstaben „Z“ auf die staubige Heckscheibe von Autos zu malen oder irgendwo ein Georgsband aufzuhängen. Wir sprechen hier eben nicht von einer hysterischen Begeisterung, wie sie die Feldzüge der Nationalsozialisten hatten oder eine wirklich patriotische Mobilisierung, wie sie eigentlich aufgrund der Propaganda zu erwarten war.

Bedeutet das, dass selbst diese massive, aggressive Propaganda wirkungslos ist?

Sie ist effektiv darin, die Illusion einer öffentlichen Zustimmung zu erzeugen. Die Propaganda basiert auf zwei Säulen: Erstens dem Antiamerikanismus und der Antiwestlichkeit im Allgemeinen. Sie sind auf das Gefühl zurückzuführen, dass unser Land als Supermacht in der Konfrontation mit dem Westen besiegt wurde, eine Art Neid auf die Bewohner des verbliebenen Imperiums. Daraus folgt ein Unwille, sich mit dem Ergebnis dieser Niederlage abzufinden, die auch weitgehend virtuell blieb, nicht greifbar. Dieses Bild muss die Propaganda aktiv verbreiten, da der Westen ja keine demütigenden Friedensbedingungen wie Reparationen auferlegte, kein Besatzungsregime installierte, sondern humanitäre Hilfe leistete. Diese Niederlage ist somit ein subjektives, rein emotionales Empfinden der Eliten, die wie Parasiten imperialistische Nostalgie und Ressentiments nutzen und diese auch im Volk verbreiten. So wie das Hitler nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und im Chaos der Endzeit der Weimarer Republik tat.

Die zweite Säule als Basis der Propaganda ist, natürlich in völliger Verzerrung der Realität, dass der aktuelle aggressive Bruderkrieg eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges, des deutsch-sowjetischen Krieges sei. Dieser ist eine heilige Kuh für jeden, der in der Sowjetunion und danach auf ihrem Gebiet gelebt hat, außer vielleicht die Balten. Es kann keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Absichten der Sowjetunion und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg samt 27 Millionen getöteten Sowjetbürgerinnen und -bürgern geben. So steht hier ein sehr bequemes Werkzeug zur Verfügung, um die Bevölkerung in einen gehorsamen Zustand zu versetzen und selbst die zweifelhaftesten Unternehmungen der aktuellen Regierung zu rechtfertigen. Das wurde bereits bei der Eroberung der Krim ausprobiert: Die Annexion wurde damit erklärt, dass die Nazis in der Ukraine angeblich an der Macht seien und die russische Bevölkerung dort unterdrücke und sie geschützt werden müsse. Als ob der Zweite Weltkrieg immer noch andauert und dort nicht etwa Ukrainerinnen und Ukrainer leben, mit denen wir tausende Jahre immer Seite an Seite gelebt haben – samt gegenseitiger Durchdringung von Kultur, Familien, politischen Eliten. Und plötzlich sollen von irgendwo Nazis hergekommen sein und der Kampf gegen sie rechtfertigt die Aneignung von ganzen Gebieten. Da das funktionierte, wurde die Technik nun zur Rechtfertigung der aktuellen, unmenschlichen, blutigen und sonst kaum vermittelbaren Kampagne herangezogen. Sie beruht auf Schlüsselreizen, auf die fast alle postsowjetischen Menschen anspringen, und gelang zumindest rhetorisch.

Warum schweigen die Mütter von russischen Soldaten, deren Söhne in diesem Krieg getötet wurden? Das sind ja immerhin mehrere tausend Gefallene.

Zum einen wird die Zahl der Toten und Verwundeten auf russischer Seite streng geheim gehalten. Dafür hat Putin schließlich dieses Gesetz über Sondereinsätze geschaffen, das in „Friedenszeiten“ Verluste bei Spezialeinsätzen zu Staatsgeheimnissen macht. Deswegen ist der Krieg für Russlands Offizielle auch kein Krieg. In einem Krieg müssen solche Zahlen veröffentlicht werden. Nur einmal vor zwei Monaten hieß es, es seien 1 500 Soldaten gefallen – die Ukraine spricht mittlerweile von 30 000 toten russischen Soldaten. Aber das Schlimmste ist, dass die Mütter der Toten nicht zuverlässig informiert werden und im Glauben leben, ihre Söhne wiederzusehen.

Es kämpfen vor allem Leute aus armen Regionen, für die der Krieg die einzige Möglichkeit ist, ihre Familien zu ernähren. Das erklärt auch die entsetzlichen Plünderungen an der Front. Der Lebensstandard im Osten der Ukraine ist für solche Leute eine Art Offenbarung. Der Tod von Soldaten wird weiterhin mit Geld entschädigt, mehrere Millionen Rubel, die sich der Staat noch leisten kann.

Desinformation, Verschleierung und Bestechung sind somit vorübergehende Garanten für Stabilität, wie wir sie sehen. Tote und Verwundete stammen vor allem aus abgelegenen Regionen Russlands, die für die großen russischen Medien unsichtbar sind – natürlich werden sie auch absichtlich ignoriert. Alles ist fragmentiert, die Leute sehen die Verbindung nach anderswo nicht. So fehlt das Gefühl einer Katastrophe.

Aber, es werden mehrere zehntausend Soldaten mit offensichtlichen Verletzungen nach Hause zurückkehren, bei 30 000 Toten wird es auch 100 000 Verwundete geben. Und diese Menschen können auch nicht getäuscht werden, sie sahen den Tod um sich herum, sie mussten selbst töten. Ihnen ist bewusst, dass sie für nichts gekämpft haben und für sie nicht gesorgt wurde. Selbst wenn sie am Anfang durch Propaganda einer Gehirnwäsche unterzogen waren – danach haben sie gesehen, womit sie wirklich konfrontiert waren. Sie werden durch den Verlust ihrer Gesundheit und Kameraden hart geworden sein – was das für das Machtgefüge an Auswirkungen hat, ist schwer vorherzusagen.

Haben die Eroberungen, etwa von Cherson oder Mariupol, die Sehnsucht der Menschen nach einer neuen UdSSR wiederbelebt?

Es gab immer Sowjetnostalgie. Sie wurde nicht wiederbelebt, sie ist eher der Treibstoff der neoimperialen Politik des heutigen Russlands. Unter Ausnutzung dieser Nostalgie annektierte man die Krim und die Donbassrepubliken der Rebellen. Es gab immer das Bewusstsein verlorener imperialer Größe. Das ist nichts spezifisch Russisches und geht auch anderen Imperien so, die ihre Kolonien verloren haben und sich in einem Auflösungsprozess befinden. Das ist immer schmerzhaft und gibt es sogar in Teilen der britischen oder französischen Gesellschaft, trotz all der dortigen Aufklärung. Oder bei den Ungarn, die gegenüber einigen Balkanvölkern verächtlich eingestellt sind.

In unserem Land haben normale Russen nicht die Möglichkeit, die Achtung ihrer Menschenwürde im Alltag zu spüren. Sie sind machtlos, hilflos, verbittert, arm und unterdrückt. Gleichzeitig trauen sie sich nicht, den Behörden Vorschläge zu machen, da diese bei jedem Versuch von Widerstand gnadenlos zurückschlagen. So ersetzen die Menschen ihre Sehnsucht nach Menschenwürde durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer großen Macht und übertragen ihre Bedürfnisse auf die Nation. Wenn ein gewöhnlicher Russe sieht, wie Russland seinen Nachbarn Angst einflößt, wenn etwa am 9. Mai Panzer und Raketenwerfer über den Roten Platz donnern, entschädigt das für das Gefühl persönlicher Demütigung und Ohnmacht im eigenen Alltag. Deswegen sind die Menschen so anfällig für Propaganda.

Warum unterstützen sogar viele Russen außerhalb des Landes diese sogenannte „Sonderoperation“? Sie haben ja Zugang zu anderen Informationsquellen.

Es reicht nicht, Zugang zur Wahrheit zu haben. Man muss an sie glauben wollen. Tatsache ist, dass sich viele im Westen lebende Russinnen und Russen nicht wirklich an das Leben unter den dortigen Bedingungen anpassen konnten. Aufgrund des anfänglichen Gefühls, Untertanen eines großen Imperiums zu sein, sind sie dann gegenüber den Ländern, die sie besuchen, herablassend und abweisend. Sie weigern sich, die Sprache gut zu lernen, sich anzupassen. Damit machen sie sich selbst zu Menschen zweiter Klasse. Aus diesem Grund geben sie sich mit revanchistischen Bekundungen aus Russland zufrieden. Die geben ihnen Hoffnung, sich wieder als Bürger eines Imperiums fühlen und Rache nehmen zu können. Generell mache ich die Beobachtung, wo immer ein Russe hinkommt – das kann auch für Russlanddeutsche oder russische Juden gelten –, wählt er rechtsextreme politische Kräfte. Etwa Trump in Amerika oder Nationalisten in Israel, die eine kompromisslose Palästinenserpolitik betreiben. Der Punkt dabei ist, dass sich diese Menschen in der Russischen Föderation oder Sowjetunion als Teil der Macht fühlten, die ihnen Emotionen vermittelte.

Ein wichtiges Problem für viele Russen ist aktuell die Frage der kollektiven Verantwortung. Sind etwa Russinnen und Russen für Putin verantwortlich, obwohl sie gegen sein Regime gekämpft haben?

Hier ist es nach meiner Meinung, und wie auch von Philosophen vorgeschlagen, nötig, Schuld und Verantwortung zu trennen. Es ist klar, dass weder die Russen, die gegen die Metamorphose Russlands in einen totalitären Staat protestiert haben, noch diejenigen, die einfach passiv blieben, eine Schuld zu tragen haben. Die Schuld klebt an einer bestimmten Person, die sich viel mehr auf sich einbildet, als sie wirklich ist. Ein Mensch, der auf Kosten von zehntausenden von Menschenleben über die Frage seines Fortbestehens entscheidet, geht auch so in die Geschichtsbücher ein. Die einfachen Russen sind völlig falsch informiert, weil sie in den letzten 30 Jahren auf die verschiedensten Weisen getäuscht wurden, weil man ihnen keinen wirklichen Einfluss auf die Politik zutraut und sie bestenfalls mit Almosen entschädigt werden. Im schlimmsten Fall lügt man ihnen ins Gesicht und schüchtert sie mit Polizei und Gerichten ein. So sehe ich keine eindeutige Schuld bei der russischen Bevölkerung an sich.

Vergleicht man die Situation mit der in Nazi-Deutschland, war die Unterstützung für die Nationalsozialisten dort wesentlich höher. Und es gab viel mehr Enthusiasmus im Vergleich zur russischen Unterstützung für Putin. Wir sehen momentan keine vor Freude weinenden Frauen oder Millionen auf den Straßen wie im Berliner Olympiastadion. Im Gegenteil, alles ist sehr träge. Bis zu zehn Millionen Deutsche haben im Zweiten Weltkrieg an Feindseligkeiten teilgenommen und sich schuldig gemacht, während in der Ukraine bisher nur 160 000 Russen kämpfen.  Wenn an Kriegsverbrechen von Seiten Nazideutschlands alle Einheiten der SS und andere Spezialverbände teilgenommen haben, also hunderttausende von Menschen, sprechen wir in der Ukraine bestenfalls über einige hundert russische Militärangehörige. Das heißt, das bisherige Maß an Verantwortung des russischen Volkes ist trotz der Bemühungen der Behörden mit dem Maß der damaligen Verantwortung der deutschen Bevölkerung nicht zu vergleichen.

Putins persönliche Strategie, sich der Verantwortung zu entziehen, besteht jedoch darin, diese Verantwortung auf das ganze Volk abzuwälzen. Die von ihm alleine getroffene Kriegsentscheidung auf der Sitzung des Russischen Sicherheitsrats hat selbst seinen inneren Kreis in einen Zustand der Panik und Resignation versetzt. Der Fehler liegt zunächst bei einer bestimmten Person und möglicherweise seinem direkten Umfeld.

Was die Haftung betrifft, liegt die Sache jedoch anders. Verantwortung ergibt sich nicht daraus, dass Sie russischer Staatsbürger oder Staatsbürgerin sind. Der Krieg wird jedoch im Namen ganz Russlands und seines Volkes geführt – Putin und sein Gefolge betonen das ständig, um sich in Zukunft als Clique potenzieller Angeklagter von jeder Verantwortung zu distanzieren. Deswegen glaube ich, dass die Verantwortung jeder Person mit russischem Pass oder russischer Herkunft darin besteht, erstens unermüdlich daran zu erinnern, dass sie mit dem Krieg nicht einverstanden sind. Und zweitens müssen Russinnen und Russen nach besten Kräften auch zumindest einige ukrainische Bekannte unterstützen, die sich durch den Krieg in einer schwierigen Situation befinden. So können sie zumindest etwas tun, um den kolossalen Schaden zu heilen, den das Putin-Regime derzeit in seinen Beziehungen zur Ukraine und der ganzen Welt anrichtet.

Fühlen Sie sich als Schriftsteller gegenüber der Bevölkerung Russlands besonders verantwortlich? Wie haben russische Schriftsteller allgemein auf den Krieg in der Ukraine reagiert?

Ich möchte Sie daran erinnern, dass in den ersten Kriegstagen 2 000 Kulturschaffende einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet haben. Jetzt versuchen die Offiziellen, auf jede erdenkliche Art so zu tun, als ob nur wenige Schriftsteller wie Ljudmilla Ulitstakaja, Boris Akunin, Dmitry Bykow oder ich sich eindeutig gegen den Krieg ausgesprochen haben. Tatsächlich haben aber hunderte Autoren „Nein“ zum Krieg gesagt. Nur wenige unterstützen ihn und dienen sich dem Kreml an. Es handelt sich um so etwas wie Funktionärs-Dandys der literarischen Berufsverbände, die Sowjetnostalgiker sind, aber keine Autoren.

Was mich persönlich betrifft, so neige ich nicht dazu, meinen eigenen Einfluss auf die Köpfe der Menschen zu überschätzen. Ich denke im Allgemeinen, das mein Maß an Verantwortung als Person, die mit dem Wort arbeitet und mit dem Publikum durch das Wort kommuniziert, darin liegt, Stimmungen und Bedeutungen zu formulieren. Es muss verständlich gemacht werden, dass die öffentliche Unterstützung für einen brudermörderischen, blutigen, räuberischen Krieg in erster Linie auf Lügen basiert.  Man muss die Menschen daran erinnern, dass niemand die Wahrheit ausgelöscht hat und sie immer noch existiert.

Unabhängig vom Ausgang, was steht Russland nach dem Krieg bevor?

Ich befürchte, dass das, was Putin getan hat, Mechanismen in Gang gesetzt hat, die für das Land apokalyptische Szenarien eröffnet haben. Militärische Operationen mitten in Städten, Hinrichtungen von Zivilisten, Völkermord, Kriegsverbrechen und sogar Bürgerkriege sind Tabus. Die Mehrheit der Sterbenden auf beiden Seiten spricht Russisch. Es ist kein Konflikt mit imaginären Nazis, sondern ein postimperialer Bürgerkrieg um das Recht auf Bestimmung, wie die Zukunft Russlands und des nachsowjetischen Raums gelenkt werden soll. Dass ein Staat zerfällt und wir einen Teil davon abbeißen, während gleichzeitig Feindseligkeiten auch auf unserem Territorium stattfinden und auf das Gebiet der Krim verlagert werden könnten, beseitigt eigentlich alle Tabus in Fragen des Territoriums von Russland selbst. Russland verletzt die territoriale Integrität seines langjährigen Verbündeten, eigentlich eines Mitbegründers unseres Imperiums, und legitimiert damit spiegelbildliche Reaktionen. Ich fürchte, dass das auf lange Sicht zum Zerfall von Russland selbst führen kann. Und das war vor dem Kriegsbeginn völlig undenkbar.