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Im Herbst wählt Polen ein neues Parlament. Das politische Klima im Land wird bestimmt durch eine zunehmende Hegemonie der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) innerhalb des Parteiensystems sowie durch die chaotischen Zustände, die im  oppositionellen Lager herrschen. Die wenige Wochen vor der Europawahl von den größten Oppositionsparteien gegründete „Europäische Koalition“ ist nach den Wahlen unerwartet auseinandergebrochen. Als spontane Reaktion auf diesen Bruch entstand vor kurzem ein neues links ausgerichtetes Parteienbündnis: Lewica („Die Linke“).

Die polnischen Linksparteien stecken schon länger in einer Krise. Seit der Mitte des letzten Jahrzehnts wird die polnische Politik durch eine Cleavage zwischen Liberalismus und Konservatismus geprägt. In diesem Spannungsfeld lässt sich kaum ein Platz für die Linke finden.

Auf der liberalen Seite steht dabei hauptsächlich die städtische Mittelschicht. Ihre Angehörigen akzeptieren Forderungen, die linken Positionen nahekommen, etwa in kulturellen Fragen oder bezüglich der Förderung der europäischen Integration. Eine Besonderheit ist hierbei, dass in Polen auf der liberalen Seite Parteien dominieren, die zur EVP-Familie gehören. Der polnische Konservatismus hingegen hat sich entschieden dem Sozialen zugewandt. Er repräsentiert eher die weniger vermögenden Gesellschaftsschichten sowie die peripheren Gebiete Polens in ihrem Konflikt mit den urbanen Zentren.

In den Umfragen erreicht die neue Koalition eine Unterstützung von circa zehn Prozent. Ihr kommt zugute, dass die polnische Wählerschaft häufig zur kurzzeitigen Unterstützung neuer Formationen neigt.

Polens größte Linkspartei – das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) – konnte in den vergangenen Jahren ihre Krise abfedern. Es gelang ihr, trotz fehlender parlamentarischer Repräsentation ihre regionalen Organisationen im ganzen Land zu erhalten. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr erzielte die Partei fast so viele Stimmen wie bei den letzten Wahlen zum Sejm (der unteren Kammer des Parlaments) 2015. Dieses Ergebnis hatte sie der Mobilisierung ihrer traditionellen Wählerschaft zu verdanken, die vor 1989 mit dem Staatsapparat verbunden gewesen war. Hier ist vor allem das Militär zu nennen, das sich der Geschichtspolitik widersetzte, die die rechten Parteien betreiben.

Dank dieses guten Wahlergebnisses wurde die SLD für die Wahlen zum Europaparlament zur großen Europäischen Koalition eingeladen, die die Opposition über alle ideologischen Teilungen hinweg vereinen sollte. Diese von der liberalen Bürgerplattform (PO) angeführte Koalition erzielte mit 38 Prozent eine hohe Unterstützung. Die Kandidaten und Kandidatinnen der SLD errangen fünf Mandate. Die rekordverdächtig hohe Wahlbeteiligung erwies sich jedoch auch als günstig für die Rechte, sodass Jarosław Kaczyńskis Partei PiS das beste Ergebnis ihrer Geschichte erreichte: 45 Prozent.

Zum Sieg der PiS trug auch der Antritt der neugegründeten Partei Wiosna unter der Führung des ehemaligen SLD-Aktivisten Robert Biedroń bei. Wiosna nahm der Europäischen Koalition einen Teil ihrer Wählerinnen und Wähler weg. Sie vermied im Wahlkampf die Identifikation mit der Linken.

Nach den Wahlen kam es zu einer Reihe von internen Konflikten innerhalb der Europäischen Koalition. Die Polnische Bauernpartei (PSL) etwa empfand es als Zumutung, dass im Wahlkampf das Thema LGBT zur Sprache kam, und weigerte sich, mit den Linksparteien in einer Koalition zu verbleiben. Das Bündnis zerbrach. Und eine neue, linke Koalition entstand.

Diese neue „Lewica“ ist ein Zusammenschluss von drei Parteien. Die größte ist dabei die SLD: Sie steht für ein traditionell sozialdemokratisches Programm und zählt rund eine Million Wählerinnen und Wähler, die sich mit dem Begriff der „Linken“ identifizieren. Die SLD-Wahlbastionen befinden sich überwiegend in mittleren und kleinen Städten, und hier vor allem in den westlichen und nördlichen Landesteilen. Die SLD spielt in der neuen Koalition eine besondere Rolle, da es sich bei Lewica de jure um ein Wahlkomitee der SLD handelt.

Die typischen Linkswähler kommen mehrheitlich nicht aus der Arbeiterklasse, sondern eher aus der Bürokratie, vor allem aus Polizei und Militär.

Die zweite beteiligte Partei ist Biedrońs Wiosna. Ihr Wahlpotenzial lässt sich schwer einschätzen, ist es doch gänzlich abhängig von der Popularität des Parteivorsitzenden. Das Wiosna-Programm lässt sich als linksliberal bezeichnen. Die Wählerschaft ist vor allem in städtischen Ballungsräumen angesiedelt.

Die dritte Partei im Bunde ist Razem („Gemeinsam“). Sie entstand 2015, und man könnte sie die polnische Entsprechung der griechischen SYRIZA oder der spanischen PODEMOS nennen. Allerdings treten in Polen wie auch in anderen Ländern der Region linke Ansichten bei der jüngsten Generation so gut wie gar nicht auf. Bei den Kommunal- und Europawahlen erzielte Razem jeweils ein Prozent der Stimmen. Die Gruppierung präsentierte sich  stark antikommunistisch und SLD-kritisch. Somit stellt die für Razem günstige Aufteilung der Listenplätze Lewicas ein Zugeständnis des SLD an die kleineren Koalitionspartner dar.

In den Umfragen erreicht die Lewica-Koalition eine Unterstützung von circa zehn Prozent. Ihr kommt zugute, dass die polnische Wählerschaft häufig zur kurzzeitigen Unterstützung neuer Formationen neigt. Nimmt eine Partei die juristische Form eines Wahl-Komitees an, verringert das außerdem ihr Risiko, nicht im Sejm vertreten zu sein. In Polen müssen Parteikoalitionen acht Prozent  und einzelne Parteien fünf Prozent erreichen, um an der Aufteilung der Mandate für den Sejm beteiligt zu werden. Zudem könnte die weit verbreitete Ansicht, dass es ohnehin unmöglich sein wird, bei den Wahlen die Regierungspartei PiS zu überflügeln, einen Teil der liberalen Wählerinnen und Wähler dazu bewegen, für ein kleineres Wahlkomitee wie Lewica zu stimmen und nicht für die PO.

Die Entstehung der Linkskoalition behebt allerdings nicht die strategischen Probleme der Linken. Eine Zusammenarbeit der SLD und linksliberaler Kreise gab es schon bei den Wahlen 2007 und 2015, beide Male scheiterte die Kooperation. Das Problem der europäischen Linken, die Mehrheit ihrer traditionellen Wähler mit einer jüngeren, großstädtischen Wählerschaft zusammenzubringen, tritt ebenfalls in Polen auf – wenn auch in origineller Form.

Die typischen Linkswähler kommen mehrheitlich nicht aus der Arbeiterklasse, sondern eher aus der Bürokratie, vor allem aus Polizei und Militär. Forderungen zu LGTB-Themen interessieren sie nicht. Die politische Aktivität der katholischen Kirche sehen sie kritisch, wollen aber keine Kulturkriege. In Ostpolen wird die Linke zahlreich von der orthodoxen Minderheit gewählt. Deren Mitglieder lehnen die der katholischen Kirche nahestehende Rechte vehement ab, unterstützen selbst jedoch keine liberalen kulturellen Forderungen. Die meisten polnischen Wähler, besonders die Anhänger der Linken, lehnen politische Extreme ab.  

Die großstädtischen, jüngeren Wählerinnen und Wähler hingegen lehnen die linke Symbolik ab. Anders als die traditionelle Wählerschaft der Linken sehen sie das Polen der kommunistischen Ära kritisch, und auch die sozialdemokratische Agenda in der Wirtschafts- und der Gesellschaftspolitik befürworten sie nicht, sondern bevorzugen ein extrem marktwirtschaftlich orientiertes Modell.

Die Parlamentswahlen im Oktober und die nächstes Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen bilden den Abschluss eines Überlebenskampfs in der Geschichte der polnischen Linken.

2015 gewann das Bündnis „Vereinigte Linke“ in den Ballungsgebieten zwar einige liberale Wähler und Wählerinnen hinzu, doch das konnte den Verlust zahlreicher traditioneller SLD-Wähler nicht ausgleichen. Besonders viele Wähler verlor die Linke in kleineren Orten und ärmeren Regionen.

Ein weiteres Problem betrifft die parteiinterne Situation der SLD. Dort traten in jüngster Zeit Spannungen zutage. Manche populären, der SLD nahestehenden Lokalpolitiker durften wegen der antikommunistischen Einstellung der kleineren Parteien nicht für Lewica antreten. Dazu zählt etwa Monika Jaruzelska, die Tochter des letzten Parteivorsitzenden der Volksrepublik und ersten Präsidenten der Transformationszeit. Einige bekannte SLD-Politiker kandidieren nun auf den Listen der PO. Der gemeinsame Antritt mit der SLD führte zu Protesten eines Teils der Aktivisten Razems.

Am kompliziertesten stellt sich die Lage allerdings für Robert Biedrońs Wiosna dar. Wiosna stützt sich auf nur eine Person und erzielte bei den Europawahlen ein schwaches Ergebnis. Es gibt Diskussionen um den ursprünglich angekündigten, dann aber nicht durchgeführten Verzicht des Parteivorsitzenden auf sein Mandat im Europaparlament. Lokale Aktivistinnen und Aktivisten verlassen die Partei – und zu alldem kommt hinzu, dass die Unterstützung in den Umfragen schmilzt. Wiosna hatte im Wahlkampf die Thematik der LGBT-Rechte aufgegriffen. Das gilt als einer der Hauptfaktoren für die Abwanderung gemäßigter Wähler, die eine kulturelle Revolution ablehnen, zur konservativen Rechten.

Die Lage innerhalb der Opposition wirkt sich außerordentlich günstig für die Regierungspartei PiS aus. Das Paradox der polnischen Cleavages besteht darin, dass einige Wählergruppen seit Jahren zwischen EVP und SPE „hindurchrutschen“ und dass weder die PO noch die SLD um diese Wähler kämpfen. So landen sie stattdessen bei Kaczyńskis PiS.

Das Programm der Linkskoalition enthält sozialwirtschaftliche und kulturelle Konzepte, die für die Linke typisch sind. In der Wahlkampagne der Lewica-Koalition überwiegen kulturelle Themen. Mit dieser Taktik sollen der liberal-bürgerlichen PO Wählerinnen und Wähler abgeworben werden.

Die Mandatsverteilung im Sejm nach dem D’Hondt-Verfahren kommt den größten Wahlkomitees – wie der PiS oder der PO – zugute. Die sich daraus ergebenden Proportionen zwischen den Oppositionsparteien sorgen dafür, dass diese, selbst wenn sie insgesamt eine ähnliche Stimmenzahl erzielen sollten wie PiS, weniger Mandate erhalten als Kaczyńskis Partei. Weil ihnen das entsprechende Finanzierungsbudget fehlt und sie darüber hinaus in den lokalen Selbstverwaltungen nicht vertreten sind, könnte es für Wiosna und Razem problematisch werden, nach den Wahlen eigenständig weiterzubestehen. Über das Verhältnis der SLD zur Koalition nach den Wahlen oder auch über die Bildung einer gemeinsamen Partei wird der Wahlausgang entscheiden. Können die Ergebnisse als Erfolg verbucht werden, ebnen sie den Weg zu einer intensiveren Zusammenarbeit. Fallen sie aber schlechter aus als in den derzeitigen Umfragen, könnte die Tendenz zur Kritik an der Koalition sich noch verstärken.  

Die Parlamentswahlen im Oktober und die nächstes Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen bilden den Abschluss eines Überlebenskampfs in der Geschichte der polnischen Linken. Dass der Kampf bisher erfolgreich war, ist der Willensstärke der traditionellen SLD-Wähler zu verdanken – doch eine Wählerschaft, die sich allein aus diesen Kreisen zusammensetzt, genügt für ein Überdauern der Linken in Zukunft nicht mehr. Bislang haben sämtliche Versuche, die Linke zu liberalisieren und junge, großstädtische, kulturelle Emanzipation befürwortende Wählerinnen und Wähler anzusprechen, zur Wahlkatastrophe geführt. Mithilfe der Koalition hat die Linke ihre strategischen Probleme nicht gelöst.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes