Dass die nordirische Dimension des Brexits eine besondere Herausforderung werden würde, war immer klar. Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union hatten gehofft, dass sie mit einem eigenen Protokoll und gemeinsam vereinbarten Regelungen eine feste Grenze auf der irischen Insel vermeiden können. So sollten alle Aspekte des Belfaster Abkommens (Karfreitagsabkommen) von 1998 bewahrt und die mit dem Brexit unweigerlich verbundenen Einschränkungen auf ein Minimum begrenzt werden. Der nordirische Friedensprozess würde zwar vielleicht ein bisschen aus dem Gleichgewicht geraten, aber ansonsten weitgehend unberührt bleiben.

Die Realitäten des Brexits und des Nordirlandprotokolls und die dadurch verursachten Handelsbehinderungen haben allerdings Reaktionen ausgelöst, die die ersten Wochen von 2021 zu einer für Nordirland außerordentlich schwierigen Zeit machten. Was der Brexit tatsächlich bedeutet, wurde am ersten Januar konkret spürbar, als die neuen Formalitäten, Beschränkungen, Überprüfungen und Kontrollen für den Warenverkehr zwischen Nordirland und dem übrigen Vereinigten Königreich in Kraft traten. Diese Neuerungen haben anscheinend viele Menschen überrascht, aber sie sind die logische Konsequenz der Tatsache, dass das Vereinigte Königreich aus der EU-Zollunion und dem europäischen Binnenmarkt ausgetreten ist und sich im Rahmen des Protokolls damit einverstanden erklärte, dass Nordirland weiterhin dem EU-Zollgebiet und – zumindest was den Warenverkehr betrifft – auch dem EU-Binnenmarkt angehört.

Diese neuen Regelungen haben etwas entstehen lassen, was viele als „Grenze in der Irischen See“ betrachten. Für viele „Unionisten“, die für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich eintreten, ist dies völlig inakzeptabel. Aus ihrer Sicht spaltet eine solche Grenze das Vereinigte Königreich, bedroht seine verfassungsrechtliche Integrität und führt die Idee eines britischen Binnenmarktes ad absurdum. Andere sind in diesem Punkt gelassener. Das Protokoll sei eine pragmatische Antwort Großbritanniens und der EU auf die Realitäten eines harten Brexits und zeuge von ihrem gemeinschaftlichen Bemühen, eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden. Nordirlands verfassungsrechtliche Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich bleibe davon unberührt; daran könnte nach dem Abkommen von 1998 nur ein Votum der nordirischen Bevölkerung etwas ändern – und für ein vereinigtes Irland gibt es, auch wenn die Zahl der Befürworter zunimmt, gegenwärtig keine Mehrheit.

Die Unionisten blicken dennoch äußerst besorgt in die Zukunft. Ihr Protest gegen das Protokoll ist lauter und entschlossener geworden und sie gehen nun auch rechtlich dagegen vor. Unter anderem verstoße die Klausel im Brexitabkommen gegen das Vereinigungsgesetz von 1800 sowie gegen die Zustimmungsregelungen im Abkommen von 1998. Außerdem sehen sie das Protokoll als etwas, was dem Vereinigten Königreich von einer EU aufgezwungen wurde, die auf die nationalistischen irischen Meinungen zu den Brexitfolgen für das Belfast-Abkommen viel zu bereitwillig einging, sich aber gegenüber Belangen der Unionisten taub stellte. Noch mehr bringt viele auf die Palme, dass Boris Johnson und seine Regierung sie ihrer Meinung nach verraten haben. Schließlich war er es, der den Konditionen des Protokolls zugestimmt hat.

Der Schritt der EU wurde sofort und einhellig verurteilt.

Die Gegner des Protokolls haben unter Verweis auf den unvermeidlichen Bruch, den der „reale“ Brexit bedeutet, schon bald gefordert, dass die britische Regierung den Artikel 16 auslöst und mit einseitigen Schutzmaßnahmen den ungehinderten Warenverkehr von Großbritannien nach Nordirland sicherstellt. Nach Meinung der lautstärksten Kritiker sollte das Protokoll einfach aufgegeben werden.

Die britische Regierung hat sich solchen Forderungen widersetzt und das aus gutem Grund. Dass der Brexit in jedem Fall zu Veränderungen führen würde, war von vornherein klar, und damit muss die britische Regierung leben, die sich an vorderster Stelle für ihn starkgemacht hat, auch wenn sie die Größenordnung der sich ergebenden Veränderungen immer heruntergespielt hat. Darum kann sie auch nicht überstürzt einseitige Schutzmaßnahmen ergreifen, sobald sie mit Folgen konfrontiert wird, die wohl vorauszusehen waren und von der britischen Regierung sogleich kurzerhand als „Kinderkrankheiten“ hingestellt wurden. Schutzmaßnahmen sind für Ausnahmesituationen und somit als letztes Mittel gedacht.

Dies war zumindest bis Ende Januar der Stand der Dinge. Es ging vor allem darum, das Protokoll umzusetzen – und damit schienen viele pragmatische Unionisten sich abgefunden zu haben, unter anderem auch die Vorsitzende der euroskeptischen Democratic Unionist Party (DUP) und Erste Ministerin der nordirischen Regionalregierung, Arlene Foster.

Doch dann gab die Europäische Kommission am 29. Januar 2021 bekannt, dass sie ohne Rücksprache mit dem Vereinigten Königreich einseitig den Artikel 16 auslösen und auf dem Verordnungsweg eine Schutzmaßnahme erlassen wolle, die Ausfuhrgenehmigungen für Lieferungen von Covid-Impfstoffen aus der EU vorschreibt. Im Gegensatz zu dem im Protokoll vorgesehenen freien Warenverkehr auf der irischen Insel sollte mit den verlangten Ausfuhrgenehmigungen für Covid-Impfstoffe verhindert werden, dass nicht genehmigte Impfstofflieferungen nach Großbritannien gelangen. Diese Nachricht ließ die Vermutung aufkommen, die Europäische Kommission wolle ohne Rücksprache eine harte Grenze auf der irischen Insel etablieren, und schlug wie eine Bombe ein. Der Schritt der EU wurde sofort und einhellig verurteilt.

Nach Meinung der lautstärksten Kritiker sollte das Protokoll einfach aufgegeben werden.

Dass die EU-Kommission in Erwägung zog, Artikel 16 zu bemühen, wurde auf der irischen Insel landauf, landab mit Unglauben und Empörung aufgenommen – auch von der irischen Regierung. Arlene Foster bezeichnete das Vorgehen als „unglaublichen feindseligen Akt ... Mit dieser Auslösung von Artikel 16 zeigt die Europäische Union einmal mehr, dass sie bereit ist, Nordirland zu instrumentalisieren, wenn es ihren Interessen dient, und das auch noch auf besonders abscheuliche Art und Weise – denn schließlich geht es hier um die Bereitstellung eines Impfstoffs, der Leben retten soll.“

Die Verordnung der EU wurde umgehend überarbeitet. Binnen weniger Stunden waren alle Verweise auf Artikel 16 und die Schutzmaßnahmen aus dem Text gestrichen. Der naive Fauxpas war korrigiert, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat inzwischen vor dem Europäischen Parlament eingeräumt: „Es wurden Fehler im Prozess gemacht, der der Entscheidung vorausging. Und das bedauere ich sehr.“

Doch trotz der Beteuerungen, dass die Kommission „alles daransetzen wird, um den Frieden in Nordirland zu wahren“, hat das Debakel um Artikel 16 die Chancen auf eine reibungslose Umsetzung des Protokolls erheblich verschlechtert. Besonders groß ist der Zorn bei den Unionisten, die das Protokoll ohnehin ablehnen. Für eine Petition der DUP, Artikel 16 auszulösen, um den „ungehinderten Handel zwischen Großbritannien und Nordirland“ zu sichern, wurden innerhalb von 24 Stunden 100 000 Unterschriften gesammelt. Bis zur gestrigen Debatte im Unterhaus ist die Anzahl gar auf 142 000 gestiegen. Unter den Unionisten gibt es wiederholte Forderungen, das Protokoll aufzugeben. Die rechtlichen Anfechtungen könnten nun vor dem Obersten Gerichtshof landen.

Andere Akteure in Nordirland konzentrieren sich eher auf die Suche nach Möglichkeiten, wie das Protokoll sich so umsetzen lässt, dass man die unvermeidlichen Störungen durch den Brexit in den Griff bekommt und zumindest einige der neuen Erschwernisse im Warenverkehr über die Irische See beseitigt. So ruft die Wirtschaft nach Stabilität und Sicherheit und einfacheren Verfahren und Prozessen. Sie verlangt weitere und längere Übergangsfristen und fordert vom Vereinigten Königreich in den vom Protokoll geregelten Bereichen eine Angleichung an den gemeinschaftlichen Besitzstand der EU (Acquis) – vor allem in den Bereichen Lebensmittel sowie Pflanzen- und Tiergesundheit.

Vor allem geht es darum, das Protokoll so umzusetzen, dass die gemeinsamen Zusagen Großbritanniens und der EU erfüllt werden.

Von großem Interesse ist die Frage, wie Nordirland seine Positionen im Rahmen der im Protokoll vorgesehenen bilateralen und sonstigen institutionellen Vereinbarungen gegenüber der EU wirksam vertreten kann. Das Gleiche gilt für die Frage, wie künftige Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission mithilfe eines „Frühwarnsystems“ auf ihre Auswirkungen auf das Protokoll und auf Nordirland hin überprüft und Folgenabschätzungen durchgeführt werden können. Auch die Forderung irischer Abgeordneter im Europaparlament nach einem „einenden Band“ zwischen den Mitgliedern des nordirischen Parlaments und den EU-Institutionen findet Unterstützung.

Vor allem geht es darum, das Protokoll so umzusetzen, dass die gemeinsamen Zusagen Großbritanniens und der EU erfüllt werden. Dazu gehört die Zusage, dass „das alltägliche Leben der Menschen in Irland und Nordirland möglichst wenig beeinträchtigt wird“. Um das zu erreichen, müssen sowohl das Vereinigte Königreich als auch die EU die Umsetzung flexibel und kulant handhaben und sensibel auf die wirtschaftlichen und politischen Realitäten, die der Brexit in Nordirland schafft, und auf die Belange aller Betroffenen eingehen.

Wenn das nicht gelingt, werden die Spannungen, die das Protokoll in Nordirland auslöst, wohl kaum nachlassen – und das Protokoll wird ein Politikum bleiben. 2024 werden die Mitglieder des nordirischen Parlaments darüber zu entscheiden haben, ob die Bestimmungen des Protokolls, die eine harte Grenze auf der Insel oder in Irland vermeiden und diese Grenze faktisch in die Irische See verlegen, weiterhin gelten sollen. Die politischen Parteien der Unionisten machen bereits gegen die Zustimmung mobil. Wie viel Unterstützung sie bekommen, wird sich wohl im Mai 2022 bei den Parlamentswahlen herausstellen. Bis dahin müssen das Vereinigte Königreich und die Europäische Union in Sachen Nordirlandprotokoll politisch so viel Dampf aus dem Kessel nehmen wie möglich.

Aus dem Englischen von Christine Hardung