In Griechenland fanden in den letzten 15 Jahren mehrere entscheidende Wahlen statt, bei denen das Schicksal des Landes auf der Kippe stand. Die Parlamentswahlen am 21. Mai sind wahrscheinlich nicht so folgenschwer wie die früheren Wahlkämpfe, aber sie könnten die komplexesten sein.
Die regierende Mitte-rechts-Partei Nea Dimokratia („Neue Demokratie“) liegt in den Umfragen vorn. Die Partei beansprucht für sich, der griechischen Wirtschaft mit ihren marktfreundlichen Reformen und Steuersenkungen aus der langandauernden Finanzkrise geholfen zu haben. Zudem ist Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis der Ansicht, dass die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, die Verteidigungsbündnisse mit den USA und Frankreich sowie eine härtere Haltung gegenüber der Einwanderung dazu beigetragen haben, dass Griechenland besser für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewappnet ist.
Die in den Umfragen auf dem zweiten Platz liegende Linkspartei SYRIZA („Koalition der Radikalen Linken“) argumentiert, dass die Erträge der neugefundenen Wirtschaftsstabilität Griechenlands nicht gerecht verteilt würden – die Löhne seien immer noch niedrig, die Inflation sei hoch und viele der gerade geschaffenen Arbeitsplätze, vor allem die für junge Menschen, seien prekäre Beschäftigungen oder Saisonarbeit. Der Oppositionsführer und Ex-Ministerpräsident (2015–2019) Alexis Tsipras beschuldigt Mitsotakis zudem, die Macht zu missbrauchen, um engstirnigen Politik- und Unternehmensinteressen zu dienen, und alle Kontrollmechanismen, wie freie Presse und unabhängige Instanzen, aus dem Weg zu räumen.
Die Mitte-links-Partei PASOK („Panhellenische Sozialistische Bewegung“), die in den Umfragen mit einigem Abstand den dritten Platz belegt, befindet sich auf einer schwierigen Gratwanderung. Die Sozialdemokraten beherrschten die griechische politische Szene einen Großteil der letzten vier Jahrzehnte, verschwanden aber fast vollkommen in der Versenkung, als die erste finanzpolitische Zeitbombe 2009 während ihrer Amtszeit explodierte. Im Dezember 2021 wählte die PASOK mit Nikos Androulakis einen neuen Parteivorsitzenden. Der 44-jährige ehemalige Europaparlamentarier aus Kreta erlebte zunächst, dass seine Partei in der Wählergunst stieg, was vielleicht der Tatsache geschuldet war, dass viele derjenigen, die früher immer Parteien der politischen Mitte oder Mitte-links-Parteien gewählt hatten, bei den letzten Wahlen aus Frustration über die Regierungsarbeit der SYRIZA (2015–2019) Mitsotakis unterstützt hatten, sich aber allmählich von diesem im Stich gelassen fühlten.
Die Bedingungen für einen weiteren Anstieg der Unterstützung für die PASOK waren eigentlich gut.
Die Bedingungen für einen weiteren Anstieg an Unterstützung für die PASOK waren eigentlich gut, eine Reihe von Problemen hatte dazu geführt, dass die Mitsotakis-Regierung in den letzten vier Jahren etwas von ihrem Glanz einbüßte: die hohe Corona-Sterblichkeitsrate nach der ersten Welle, der schlechte Zustand des öffentlichen Gesundheitssystems, fragwürdige Zuschüsse für bestimmte Medien, harte Polizeieinsätze, wiederholte Berichte über das Zurückdrängen von Flüchtlingen, massive Waldbrände und Beschuldigungen, eine ganze Bandbreite von Personen ausgespäht und abgehört zu haben, darunter Regierungsgegner. All diese Probleme wirkten sich negativ auf die Zustimmung für die Nea Dimokratia aus.
Androulakis gelang es jedoch nicht, aus dieser Unzufriedenheit mit der Regierung und aus der Anfangseuphorie als PASOK-Vorsitzender Kapital zu schlagen. Ihm fehlt es an Erfahrungen in der griechischen Politik und vielleicht auch an persönlichem Charisma, um einer kleinen Partei dazu zu verhelfen, sich in einem politischen Kampf hervorzutun, der zum Großteil auf der politischen und persönlichen Antipathie zwischen Nea Dimokratia und SYRIZA basiert. Androulakis ist es nicht gelungen, für die PASOK politische Kernthemen zu besetzen, die Wählerinnen und Wähler mit ihr verbinden. Stattdessen versuchte er, die Rolle des Erwachsenen im Raum zu spielen, der Verantwortung übernimmt, wenn sich die beiden führenden Parteien ständig nur anschreien. Diese Strategie könnte die Mitte-links-Partei jedoch in diesem Sommer in die Position des Königsmachers hieven, aber es steht noch in den Sternen, wie es weitergeht.
Nach einer von der SYRIZA-Regierung eingeführten Wahlrechtsreform finden die Wahlen am 21. Mai nach dem Verhältniswahlrecht statt. Das heißt, dass für eine Regierungsbildung etwa 45 Prozent der Stimmen gebraucht werden. Derzeit kommt keine der Parteien auch nur annähernd an diese Zahl heran. Die Nea Dimokratia liegt den Umfragen zufolge bei etwa 35 Prozent, die SYRIZA bei rund 29 Prozent und die PASOK bei knapp elf Prozent, gefolgt von drei kleineren Parteien, die vermutlich die Drei-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament überwinden werden.
Wenn sich die Wahlumfragen als zutreffend erweisen, ergeben sich nach der Wahl drei mögliche Szenarien.
Wenn sich die Wahlumfragen als zutreffend erweisen, ergeben sich nach der Wahl drei mögliche Szenarien. Zum einen könnte Ministerpräsident Mitsotakis sich um die Bildung einer Regierungskoalition mit der PASOK bemühen. Dem steht jedoch einiges entgegen. Das Verhältnis zwischen Mitsotakis und Androulakis ist belastet, seit Letzterer entdeckte, dass er vom griechischen Geheimdient EYP bespitzelt worden ist. Es war wohl auch versucht worden, Androulakis mit dem Spähprogramm Predator abzuhören, das angeblich für einen Lauschangriff auf Dutzende griechischer Politiker, Journalistinnen, Geschäftsleute und bekannte Persönlichkeiten eingesetzt wurde. Mitsotakis räumte ein, dass der EYP mit der Überwachung von Androulakis zu weit gegangen sei, beharrte aber darauf, dass die Regierung nichts mit dem Einsatz der Predator-Software zu tun gehabt habe. Diese Reaktion Mitsotakis’ zusammen mit den unbefriedigenden juristischen und parlamentarischen Untersuchungen des Skandals haben den PASOK-Vorsitzenden in Rage gebracht, was eine politische Zusammenarbeit mit der Nea Dimokratia eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Die zweite Möglichkeit ist, dass die SYRIZA eine Koalition anführt, zu der mindestens die PASOK, vermutlich aber weitere Parteien gehören würden. Für Tsipras wäre das ein extrem schwieriges Unterfangen, wenn er nur als zweiter Sieger aus den Wahlen hervorginge. In der Tat war von ihm zu hören, dass er eine Regierungsbildung unter seiner Führung nur für möglich halte, wenn er die Wahlen entgegen der Prognosen doch gewinnen sollte. Aber selbst dann wäre vermutlich eine dritte Partei für eine Regierungsbildung erforderlich – entweder als aktiver Koalitionspartner oder als Unterstützung in Form einer Duldung.
Das Verzwickte an dieser Alternative ist, dass eigentlich nur eine Partei als dritter Koalitionspartner in Frage käme – die linksradikale MeRA25 („Europäische Realistische Ungehorsamsfront“) unter der Führung des ehemaligen Finanzministers Yanis Varoufakis. Zwischen ihm und Tsipras war es 2015 zum Bruch gekommen, als Tsipras aus einem „Nein“ im Referendum vom Juli 2015 über die von den internationalen Gläubigern geforderten Sparmaßnamen ein „Ja“ zu einem dritten Rettungspaket machte.
Aber es gibt noch ein weiteres Hindernis für diese progressive Allianz. Der PASOK-Vorsitzende Androulakis erklärte, nicht zu einer Zusammenarbeit mit Varoufakis bereit zu sein, den er beschuldigt, Griechenlands Zugehörigkeit zur Eurozone 2015 in Gefahr gebracht zu haben.
Angesichts all dessen ist das dritte und vermutlich wahrscheinlichste Szenario, dass Griechenland einen zweiten Wahlgang brauchen wird, um zu einer Regierung zu kommen. Ministerpräsident Mitsotakis macht kein Geheimnis daraus, dass ihm dieses Ergebnis am meisten zusagen würde. Dieser zweite Wahlgang, für den schon der 2. Juli ins Auge gefasst wurde, würde nach dem alten Wahlrecht erfolgen, bei dem die als Sieger hervorgehende Partei einen Bonus von 50 Sitzen im Parlament erhielte. Geht man davon aus, dass sechs Parteien ins Parlament einziehen, bräuchte die siegende Partei lediglich 37 oder 38 Prozent, um mindestens 151 der 300 Parlamentsabgeordneten zu stellen. Die Nea Dimokratia wähnt sich auf dem Weg, dieses Ziel zu erreichen.
Sollten die Konservativen sich in diesem Punkt irren, gäbe es erneut drei Szenarien. Sollten Mitsotakis nur wenige Sitze fehlen, könnte er den Versuch unternehmen, einige Abgeordnete der PASOK und möglicherweise der ultranationalistischen Ellinikí Lýsi („Griechische Lösung“) zu überreden, in seine Fraktion überzulaufen. Sollte die Nea Dimokratia ihr Ziel jedoch deutlich verfehlen, wäre die PASOK der einzige realistische Koalitionspartner.
Sehr zum Leidwesen der Oppositionsparteien scheint eine zweite Amtszeit für Mitsotakis unvermeidlich.
Androulakis und seine Partei scheinen gespalten, was sie in einem solchen Szenario machen würden. Einige Sozialdemokraten sehen eine Koalition mit Mitsotakis als einzige Möglichkeit für die Partei, wieder an die Macht zu kommen. Andere haben dagegen das Gefühl, dass die PASOK nur mit Parteien koalieren sollten, die eine ähnliche progressive Ausrichtung haben, und dass eine Koalition mit der Nea Dimokratia dazu führen könnte, dass ihre Partei im Schatten der Konservativen stehen und politischen Schaden nehmen würde. Nicht wenige in der Partei halten es für das Beste, wenn die Partei vorläufig in der Opposition bliebe.
Sollte sich diese Sichtweise durchsetzen, könnte es dazu kommen, dass Androulakis ein Koalitionsangebot von Mitsotakis ablehnt und ein dritter Wahlgang erforderlich wäre, um ein tragfähiges Ergebnis zu erzielen. Für diese Option würde die PASOK und ihre Führung jedoch möglicherweise einen hohen politischen Preis zahlen müssen, weil sie für die Pattsituation verantwortlich gemacht würden.
Die Ungewissheiten rund um den Wahlausgang und ein möglicher zweiter Wahlgang spielen der Nea Dimokratia in die Karten. In diesem Wahlkampf lag der Fokus weit mehr auf den möglichen Prozentzahlen der Parteien als auf ihren politischen Inhalten. Welche Zahlenspiele man auch betreibt: Sehr zum Leidwesen der Oppositionsparteien ist nicht zu leugnen, dass eine zweite Amtszeit für Mitsotakis unvermeidlich scheint. Sollte es letztlich tatsächlich so kommen, könnten die anstehenden Wahlen, die so komplex wirkten, letztlich ein erstaunlich schlichtes Ergebnis haben.
Aus dem Englischen von Ina Goertz