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„Wir müssen jetzt für die Idee Europas kämpfen oder sie unter den Wellen des Populismus untergehen sehen.” So etwa lautete vor den Europawahlen im Mai der gängige Tenor. Auch 30 bekannte Intellektuelle veröffentlichten einen Aufruf, mit dem sie zum „Kampf für Europa“ und „gegen die Populisten“ aufriefen. Unter den Unterzeichnenden waren Milan Kundera, Adam Michnik, Ágnes Heller oder Salman Rushdie. Sie wollten vor den Europawahlen ein deutliches Zeichen setzen und erinnerten mahnend an Europas dunkle Zeiten. Zentral war die allgegenwärtige Dichotomie von „Europa vs. Populisten“. Aber abstrakte europäische Werte zu wiederholen und mit dem Totschlagargument Holocaust zu kommen, wirkt angesichts der alltäglichen Sorgen und Kämpfe vieler Menschen abgehoben und befremdlich. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass der Graben im Zweifelsfalle so nur tiefer wird.

Petra Köppings Buch „Integriert doch erstmal uns!“ kann einige Hinweise darauf liefern, warum die Haltung der Schriftsteller und  die Slogans der Liberalen „Europafeinde vs Europafreunde“, „Progressive vs Populisten“ mehr schaden als helfen und wo die eigentlichen Ursachen zu finden sind, sollte uns ernsthaft die Nachfrageseite des wachsenden Populismus interessieren.

Petra Köpping versucht, den Aufstieg der AfD in Ostdeutschland zu erklären. Sie behauptet: die Existenz der Pegida-Märsche und die im Vergleich zu Westdeutschland deutlich höhere Popularität der AfD im Osten lässt sich zum guten Teil auf die Ungerechtigkeiten der Wendezeit zurückführen. Diese werden noch immer tabuisiert.

Die Rechten bieten eine „kulturelle Pseudo-Aufwertung“, moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen und allem, was als „Westimport“ gilt, inklusive der EU.

Die Treuhand-Politik, die durch die Privatisierung der meisten staatlichen Unternehmen und Immobilien an Westdeutsche einen enormen Vermögenstransfer von Ost nach West bedeutete; die Einführung eines militant neoliberalen  Kapitalismus, wie er zur selben Zeit in Westdeutschland politisch undenkbar gewesen wäre; die Veränderung kompletter Lebenswelten von einem Tag auf den anderen, die Abwertung ganzer Biographien und Identitäten durch die Niederlage des Systems; die häufige Behandlung der „Ossis“ als unmündig und rückständig – all das hat Spuren hinterlassen. Und das wohl umso mehr, als dass damit die Aufbruchstimmung, die Hoffnungen und der Tatendrang der friedlichen Revolution von 1989 radikal gedämpft wurden.

Wenn man dies leugnet oder nicht ernst nimmt, gießt man nur Öl ins Feuer. Das wissen die Rechten zu nutzen. Sie bieten eine „kulturelle Pseudo-Aufwertung“, moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Westen und allem, was als „Westimport“ gilt, inklusive der EU. Daraus schlägt nicht nur die AfD politisches Kapital: in Ungarn ist bereits seit neun Jahren eine Regierungskoalition an der Macht, die ihre gesellschaftliche Unterstützung <link regionen/europa/artikel/detail/jenseits-von-frauenfeindlichkeit-3162/>größtenteils genau daraus zieht</link>, in Tschechien ist die Skepsis gegenüber der EU am ausgeprägtesten, in der Slowakei steht eine mit knapper Mehrheit gewählte liberale Präsidentin einer rasant erstarkenden extremen Rechten gegenüber.

Denn was innerhalb Deutschlands passierte, gilt ebenso für Ostmitteleuropa in Bezug auf die Europäische Union. Man wollte selbst wieder „Teil Europas“ werden, konnte sich dem Westen aber nur nach den vom Westen gesetzten Regeln anschließen. Demokratie kam in einem Paket mit Prekarisierung. Die Beschreibung des Wegs nach vorne ging einher mit Arroganz – als seien die Osteuropäer bislang rückständig gewesen. Diese Attitüde machte sich auch die osteuropäische liberale, wohlhabende und gebildete Elite zu Eigen und koppelte sich so von der Wahrnehmung und Erfahrung der eigenen breiten Bevölkerungsschichten ab.

Als Orientierung galt immer der Westen. Ihn hieß es einzuholen. Die ökonomischen Kosten der Transformation und Integration in die freien Märkte wurden als notwendiges Übel dieser zivilisatorischen Aufgabe kleingeredet.

Als Orientierung galt in Ostmitteleuropa immer der Westen. Ihn hieß es einzuholen. Die ökonomischen Kosten der Transformation und Integration in die freien Märkte wurden als notwendiges Übel dieser zivilisatorischen Aufgabe kleingeredet. Alexander Kiossev beschreibt es als Selbstkolonisierung: keineswegs um Mangel an Respekt gegenüber Ländern auszudrücken, die tatsächlich kolonialisiert wurden, sondern um zu beschreiben, was in der östlichen Peripherien Europas vor sich ging, die nie kolonisiert wurde, trotzdem aber historisch an Unterlegenheitsgefühlen leidet. Ein anderer bulgarischer Politologe, Ivan Krastev – den Köpping öfter zitiert – identifiziert gerade das als zentrale Ursache der Popularität der Rechten in der Region: In einem Artikel mit Stephen Holmes beschreibt Krastev die „politische Psychologie“ der aktuellen Entwicklungen: genug mit dem Nachahmen, wir wollen nicht mehr vom Westen beurteilt werden; wir gehen unseren eigenen, stolzen Weg, der sich von westlichen Erwartungen gezielt absetzt und damit provoziert.

Das Ziel von Köppings Buch ist nicht die komplette Verneinung der Nachwendezeit als Erfolgsgeschichte. Sie will vielmehr ein realistischeres Bild schaffen. Und es ist eben Teil dieses realistischeren Bildes, dass der Westen von der Art und Weise der Wiedervereinigung profitiert hat. Die Frage der Profiteure ist in Ostmitteleuropa indes ähnlich gelagert wie in Ostdeutschland: im politischen Westeuropa überwiegt häufig das Gefühl, dass man den Osten lange genug aufgepäppelt habe und dieser sich jetzt „undankbar“ zeige. Dabei übersteigen die Profite, die die westliche Wirtschaft aus der Billiglohn- und Niedrigsteuerregion zieht, die aus Steuergeldern gezahlten Strukturhilfen zum Teil mehrfach, wie beispielsweise Thomas Piketty eindrucksvoll aufzeigt. Diese Schieflage wird in Ostmitteleuropa sehr wohl wahrgenommen.

Ausländisches Kapital wird in Ostmitteleuropa zwar investiert, aber die Gewinne größtenteils wieder abgezogen. Immobilienpreise steigen in westliche Höhen. Die Preise für Waren und Dienstleistungen haben vielerorts fast westeuropäisches Niveau erreicht, weil sich die wenigsten eigenen Erzeugnisse in der Konkurrenz mit großen Giganten behaupten konnten – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital funktioniert auf dem europäischen Binnenmarkt also offenbar hervorragend. Die in der Theorie angenommene ausgleichende Wirkung des freien Verkehrs von Arbeitskräften auf Löhne und Preise bleibt derweil weitgehend aus – sie war von Anfang an eine Chimäre, denn Menschen sind nicht so beweglich wie Ware. Und wo es sie doch gab, wurde sie als Dumping wahrgenommen und hat zum Anstieg des Nationalismus und anti-osteuropäischer Ressentiments geführt (siehe Großbritannien).

Die Fortschrittsgläubigkeit hat sich als Illusion erwiesen, als klar wurde, dass es keinen Fortschritt gibt, wenn die Fortschrittlichen in erster Linie von den Ungleichheiten profitieren.

Die gängigen Makroindikatoren wie Wirtschaftswachstum oder niedrige relative Armutsquoten, die auf den ersten Blick für viele der Länder in der Region gut aussehen, sagen kaum etwas über die Lebensqualität der Menschen aus. Der tschechische und der ungarische Mindestlohn betragen selbst kaufkraftbereinigt nur die Hälfte des deutschen, das Argument der „niedrigeren Löhne, aber dafür auch Preise“ gilt also nicht. Das Leben von breiten Teilen der Ostmitteleuropäer hat sich zwar seit 1989 verbessert, bleibt aber dennoch  prekär. Entsprechend groß ist bei vielen die Enttäuschung.

Es wurde klar: Westeuropa als einheitliches Modell, das in unterschiedlichen geopolitischen Zusammenhängen reproduziert werden kann, existiert so nicht. Die Fortschrittsgläubigkeit hat sich als Illusion erwiesen, als klar wurde, dass es keinen Fortschritt gibt, wenn die Fortschrittlichen in erster Linie von den Ungleichheiten profitieren. Man war, ist und bleibt Peripherie, kann den Westen materiell nicht wirklich einholen und wird von ihm nicht als Seinesgleichen behandelt. Man bleibt „Bürger zweiter Klasse“, wie es auch Köpping für Ostdeutschland feststellt. Und enttäuschte Hoffnungen und Ungleichheit sind der ideale Nährboden für den Aufstieg des Populismus, Nationalismus und autoritären Gedankenguts.

Ein weiteres Beispiel der bestehenden Ungleichheiten ist die Krise der Sorgearbeit. Die Länder Osteuropas gelten als rückständig, weil Frauenbeschäftigung deutlich niedriger ist als im Westen.  Doch die besseren Beschäftigungsquoten westlicher Frauen hängen weniger mit ihrem Emanzipationsgrad oder mit größerer Männerbeteiligung bei Pflege oder ausgebauter sozialer Infrastruktur zusammen. Sie sind vielmehr der Ungleichheit zwischen Frauen in West und Ost geschuldet. Wer die Ressourcen hat, Sorgearbeit für Kinder, Behinderte und alte Menschen outsourcen zu können, kann Erwerbsarbeit aufnehmen. Währenddessen ziehen massenhaft Frauen aus der östlicher Peripherie Europas in den Westen – aus Rumänien nach Italien, aus Ungarn und der Slowakei nach Österreich, Deutschland und Großbritannien.

In ergreifenden Appellen wird die EU als moralisches und wertegebundenes Projekt dargestellt. Doch ihre ökonomische Dimension und die Machtstrukturen  werden diesen Werten und der Moral nicht gerecht.

Köppings große Leistung besteht darin, eindrücklich zu beschreiben, wie die Transformationszeit von Menschen erlebt wurde und in welcher Weise dies heute noch nachwirkt. Aber Psychologie hat ihre Grenzen. Empathie kann die Strukturanalyse nicht ersetzen und Aufarbeitung und Versöhnung allein können die fortbestehenden Machtungleichheiten nicht lösen. Klar ist dabei: die Rechten bieten keine Lösungen für diese Ungleichheiten. Sie setzen mehr auf nationalen Stolz als darauf, Ungerechtigkeiten innerhalb Europas zu beheben. Im Gegenteil: Viktor Orbán, der stets einen Freiheitskampf gegen irgendwelche Feinde der Souveränität Ungarns führt, übt „geteilte Souveränität“ mit Audi und Mercedes aus.

Statt Diskussionen über Moral und abstrakte Werte brauchen wir im Kampf gegen die Populisten also vor allem eine Diskussion über Macht – Macht der Wirtschaft über Politik, des Westens über den Osten, der Zentren über die Peripherien. Schließlich wird auch innerhalb der ostmitteleuropäischen Staaten dieser Konflikt geführt. Es gibt die wohlhabenderen, liberalen Zentren, die zum Westen aufgeschlossen haben und sich gleichberechtigt fühlen. Auch dort wird dann über die abgehängte Peripherie mit Herablassung gesprochen, da dort die „europäischen Werte“, zivilisierte Einstellungen und Weltoffenheit noch nicht verinnerlicht seien.

Die Dichotomie „Europafreunde-Europafeinde“ ist falsch und kontraproduktiv. Die Konfliktlinie verläuft vielmehr zwischen Gewinnern und Verlieren der Eurozone und des Binnenmarkts, materiell florierenden Zentren und materiell sowie symbolisch abgehängten Peripherien auf allen Ebenen. Dies bringt Nationalismus und Desintegrationsbestrebungen hervor, auf die auf fatale Art und Weise mit einem rein moralischen Kampf reagiert wird. In ergreifenden Appellen wird die EU als moralisches und wertegebundenes Projekt dargestellt, das es zu retten gilt, wo sich die Ablehnung doch daraus speist, dass ihre ökonomische Dimension und die Machtstrukturen eben diesen Werten und der Moral nicht gerecht werden.

Damit muss schnell Schluss sein, sonst fällt die EU tatsächlich auseinander. Stattdessen brauchen wir erst einmal den Mut, über diese Ungleichheiten zu sprechen. Um gegen Nationalismus und Europaskepsis auftreten zu können, müssen die Sozialdemokraten in Ost und West statt Moralisierung eine Sprache finden, die diese Machtdynamiken wieder ins Spiel bringt. Dann kann gemeinsam nach handfesten, ebenso mutigen politischen Lösungen gesucht werden.