Deutschland erlebt in diesen Monaten die größte Flüchtlingswelle seit dem zweiten Weltkrieg. Für 2015 rechnet das Bundesministerium des Innern mit 800.000 Asylbewerbern. Schon jetzt ist die Lage in den überfüllten Erstaufnahmestellen kritisch. Zeltstädte werden errichtet und Turnhallen zu Notunterkünften deklariert. In einigen Kommunen, darunter die Hauptstadt Berlin, brach die Versorgung der Neuankömmlinge zusammen und engagierte Bürger, die sich spontan über soziale Medien organisierten, halfen aus.
Ein Ende der Flüchtlingswelle ist noch lange nicht in Sicht, denn an den Außengrenzen der EU warten Hunderttausende auf die Einreise. Schuld daran sind die Krisenherde von Asien bis Afrika. Somalia befindet sich seit 40 Jahre im Griff von Warlords und Terrorgruppen, Libyen ist ein Schlachtfeld verfeindeter Milizen. Der Norden Nigerias leidet unter der Gewalt von Boko Haram, Mali und die Zentralafrikanische Republik destabilisieren sich zunehmend. In Afghanistan, dem Irak, Syrien und im Jemen toben grausame Bürgerkriege. Hinzu kommt die immer größere Kluft zwischen Nord und Süd. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) fasst diese Motivlagen unter dem Begriff „Desperation Migration“ – Verzweiflungsmigration – zusammen. Die Verzweiflung ist groß und wird auch in den nächsten Jahren viele Menschen nach Europa treiben. Sie sind auf der Suche nach Sicherheit, aber auch nach einem besseren Leben und einer Zukunftsperspektive für sich und ihre Familie.
Die dramatischen Bilder von hilflosen Flüchtlingen an den Rändern der EU, wie sie uns letztens von der griechisch-mazedonischen Grenze oder von der Insel Lesvos und nun auch aus München erreichen, verführen zur Panikstimmung, doch das ist unangebracht. Es gilt, was IOM seit Jahrzehnten vertritt: Migration ist kein Problem, sondern eine Realität, die es zu organisieren gilt. Doch dafür braucht es politischen Willen und die nötigen Strukturen. Denkbar ist dies nur in einem gesamteuropäischen Rahmen: Es bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller Mitgliedsstaaten, um die Krise an den Außengrenzen zu bewältigen.
Dabei ist die deutsche Politik besonders gefragt, denn Deutschland hat eine Vorbildfunktion innerhalb der EU. Momentan nimmt die Bundesrepublik 40 Prozent aller Asylsuchenden in der Union auf. Im Rahmen des Resettlement und Humanitarian Admission Programme (HAP) hat die Bundesregierung mit der Unterstützung der IOM und des UNHCR bereits tausenden Menschen aus Syrien und anderen Krisenstaaten Zuflucht und die Chance auf einen Neuanfang geboten. Deswegen ist es sehr zu begrüßen, dass Angela Merkel jetzt die Initiative ergreift und für eine gemeinsame europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise eintritt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler/Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel stoßen mit ihrem Zehn-Punkte-Plan in die gleiche Richtung, wenn sie die EU zum Handeln auffordern und völlig zu Recht feststellen: „Die bisherige Reaktion entspricht nicht dem Anspruch, den Europa an sich selbst haben muss.“
Sichere und legale Migrationswege auch für Geringqualifizierte
Die Europäische Union gründet auf den Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der Menschenrechte. Auf diese Werte muss sich die Gemeinschaft besinnen, um eine angemessene Flüchtlingspolitik zu betreiben. Oberstes Gebot muss die Sicherheit der Flüchtlinge und die Wahrung ihrer Rechte sein. Über 2.500 Menschen haben dieses Jahr bereits ihr Leben im Mittelmeer verloren. Es bedarf eines Seenotrettungsprogramms, das diesen Namen auch verdient, um Tragödien mit hunderten Toten, wie sie sich noch immer mit furchtbarer Regelmäßigkeit ereignen, zu verhindern. Damit Flüchtlinge sich gar nicht erst auf die gefährliche Überfahrt einlassen, plädieren wir für sichere, legale Migrationswege, die auch Personen mit geringen formalen Qualifikationen offen stehen, sowie für eine schnelle Familienzusammenführung. Migration aus Verzweiflung kann nicht durch die sture Bekämpfung „illegaler Migranten“ verhindert werden. Wer Mauern hochzieht und eine Politik der Abschottung verfolgt, verstärkt nur menschliches Leid. Fehlende Alternativen treiben Migrantinnen und Migranten in die Arme skrupelloser Menschenschmuggler, die ihnen hohe Summen abpressen und ihren Tod billigend in Kauf nehmen. Dieses menschenverachtende „Geschäftsmodell“ darf sich nicht mehr rechnen.
Die Mittelmeerländer, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, müssen Unterstützung erhalten und die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU muss besser geregelt werden. Die Ende Juli 2015 auf dem EU-Gipfel beschlossene Aufnahme von 60.000 mehrheitlich in Griechenland und Italien befindlichen Flüchtlingen auf freiwilliger Basis durch die übrigen Mitgliedsstaaten ist ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung. Doch das kann erst ein Anfang sein. Eine effizientere und solidarischere Verteilung von Flüchtlingen auf die EU-Staaten ist auch für die Legitimität der Asyl- und Flüchtlingspolitik wichtig. Wenn einige Länder langfristig sehr viel stärker belastet werden als andere, dann nährt dies unter Umständen Rechtspopulismus und fremdenfeindliche Agitation.
Die Öffnung sicherer Migrationswege und der Kampf gegen Schlepper müssen mit der Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern einhergehen. Die EU sollte ihre Anstrengungen intensivieren, um vor Ort Stabilisierung, Wiederaufbau und wirtschaftlichen Aufschwung zu fördern und so Fluchtursachen zu bekämpfen. Kurzfristige Erfolge sind hier allerdings nicht zu erwarten, solche Unterfangen brauchen Zeit. Angesichts der vielen Krisenherde in den Nachbarstaaten der EU ist es vermessen zu glauben, dass die Instrumente der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit die Probleme vor Ort restlos lösen könnten. Deswegen benötigen wir eine EU-weite Initiative zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Konfliktstaaten, die über bisherige Verpflichtungen weit hinausgeht.
Zuwanderung nährt Wohlstand
Es ist ein moralisches Gebot, Kriegsflüchtlingen Schutz und Hilfe zu gewähren, aber es ist auch im Interesse der EU. Nach Angaben der OECD sind Migranten in fast allen europäischen Ländern Netto-Beitragszahler in die Sozialsysteme. Die Gesellschaften Europas überaltern und Migration kann die Bevölkerungspyramide positiv beeinflussen. Zudem zeigt sich gerade in Deutschland, dem volkswirtschaftlichen Zugpferd der EU, ein gefährlicher Fachkräftemangel in technischen und medizinischen Branchen. Die Bundesregierung hat bereits reagiert und die Hürden für Asylbewerber beim Eintritt in den Arbeitsmarkt gesenkt. Manche EU-Staaten tun sich leider deutlich schwerer mit der Erkenntnis, dass Zuwanderung Wohlstand nährt, anstatt ihn zu gefährden.
Migration ist machbar: Als nach dem zweiten Weltkrieg 10 Millionen Menschen als Vertriebene aus den Ostgebieten nach Deutschland kamen, hat die deutsche Gesellschaft sie in einer wesentlich schlechteren wirtschaftlichen Lage problemlos aufgenommen – und davon profitiert.
Migration ist wünschenswert: Vielfalt macht unsere Gesellschaft nicht nur interessanter, sondern auf lange Sicht auch produktiver. So belegen verschiedene Studien, dass Produktivitätssteigerungen und Innovation auch auf die ethnische Vielfalt in Unternehmen zurückzuführen sind.
Migration ist unausweichlich und notwendig: Das gilt für die Herkunftsländer, in denen Menschen keine Lebensperspektiven haben, aber auch für die westlichen Gesellschaften, die überaltern und Arbeitskräfte benötigen. Wenn wir in Europa Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik human und solidarisch gestalten, dann können wir die aktuelle Krise nachhaltig lösen. Das ist im Interesse der EU und der Migrantinnen und Migranten.
14 Leserbriefe
"Im Vatikan ist noch für 3 Milliarden Menschen Platz meine Kinder" spottete Klaus Staeck 1991.
Die Autorin scheint den Standpunkt zu vertreten :
"Tatsächlich und vermeintlich Verfolgte und Benachteiligte aller Welt kommt in die EU, wir können X Millionen Menschen integrieren."
Kein Wort über die Ursachen der Massenflucht/Migration. Natürlich auch kein Wort über die dafür Verantwortlichen. Diese sind bekannt und sollten auch benannt werden:
USA, Koalition der Willigen, (Irakkrieg), dazu Saudis, Qatar, Türkei (Finanziers u. Unterstützer des Islamterrors) und Russland, Iran (Unterstützer der Assad-Diktatur).
Nicht vergessen werden sollten die zu großen Teilen unfähigen und korrupten "Eliten" Afrikas,
Auch die offensichtlich schon vorhandenen und sich höchstwahrscheinlich noch verschärfenden Probleme bei dem Versuch der Integration von Millionen Menschen aus einem anderen Kulturkreis
sind der Autorin keiner Erwähnung wert.
Dabei liegen diese auf der Hand: Parallelgesellschaften, religiöser Fundamentalismus und Fanatismus - bis zum Terror, Ignorieren der Rechtsordnung, etc...
Naja, in Übersee lässt es sich gut und abstrakt moralisieren.
- zuviele sich auf den Weg machten: mache das Tor einfach auf, dann wird die staatliche Organisation auch ausser Kraft gesetzt. Da muss sich dann fragen, wollen wir die Situation einfach so treiben lassen ? Es wird immer gesagt, "das schaffen wir". wer ist denn "wir" ?
Das Tor einfach aufmachen, heisst auch , der Schlepperei Hochkonjunktur zu verschaffen. Viele Leute werden kommen und manche sicher auch wieder gehen .
- es wurde mal gesagt: durch Rationalisierung benötigen wir sogenannte "entwickelte" Länder immer weniger Arbeitskräfte. Und wenn , dann hoch qualifizierte. Minder qualifizierte werden uns wenig helfen, es sei denn , sie drücken den Lohn ...
- unbestritten sei, dass wir aufgrund des Zuzugswillens, so etwas wie ein Einwanderungsgesetz benötigen. Geregelte Einwanderung. Wenn man das mit den USA vergleicht, ja sicher steht da in der Verfassung, das sie alle nehmen wollen, die sich wirtschaftlich verbessern wollen. Aber das war in der Zeit wo der Westen "leer" war (bzw als die Indianer dort vertrieben wurden). Aber auch da wurde und wird immer noch gesiebt.
- sicher ist eine gewisse ethnische Vielfalt gut und schön und bereichernd. Aber da muss dann auch der Wille zur Vermischung vorhanden sein, nicht nur aber auch bei den "Einheimischen". Religion scheint immer noch ein grosses Hindernis zu sein.
Das ist die Antwort für Weltentrückte !
Auch die Beispiele hinken. Zitat: "Migration ist machbar. Als nach dem zweiten Weltkrieg 10 Millionen Menschen als Vertriebene aus den Ostgebieten nach Deutschland kamen, hat die deutsche Gesellschaft sie in einer wesentlich schlechteren wirtschaftlichen Lage problemlos aufgenommen – und davon profitiert". Sie beleidigt die Menschen, die 1945 nach Deutschland geflohen sind oder aus der Gefangenschaft nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Westdeutschland Millionen gefallener Soldaten und Millionen im Bombenkrieg getöteter Zivilpersonen die wieder "ersetzt" werden mussten. Das zerstörte Land musste mit einer riesigen Kraftanstrengung wieder aufgebaut werden. Fakt heute ist, dass die Deutsche Industrie schon seit Jahrzehnten weniger qualifizierte Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Wo, bitte schön, sollen die Arbeitsplätze herkommen, von denen Asylbewerber und manche deutschen Politiker träumen? Glaubt Frau Szabados im Ernst, dass jetzt die lange ersehnten Fachkräfte kommen?
Dieser Vergleich ist falsch und wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger. Man übersieht nämlich geflissentlich, daß damals Deutsche nach Deutschland kamen, während die übergroße Mehrheit der derzeit ins Land strömenden Migranten nach ihrer Herkunft (Sprache, Kultur, Religion) mit Deutschland keinerlei Gemeinsamkeit aufweist.
In der ganzen Diskussion fehlen mir einfach diese Fakten. Jeder behauptet etwas, um diese Zuwanderung zu rechtfertigen und uns deren Nutzen schön zu reden.
1. Süd-Koreanern (2962 pro eine Million Einwohner]
2. Japanern (2250/Million)
3. 3. Schweiz (1013/Million)
4. Deutschland [902/Million)
Süd-Korea und Japaner haben kaum Diversität. Der Diversitätseffekt auf Innovation wird hier viel zu übertrieben dargestellt und sollte nicht so in den Fokus gerückt werden; umprofessionell!
Ich nehme an, in Ihrem ersten Satz sollte es heißen: 'aber längst n i c h t so stark' ?
MfG
Sie haben selbstverständlich recht. Der Innovationseffekt von Diversität ist empirisch für die Managementebene moderat messbar, aber darüberhinaus ist alles zumindest bisher umstritten.