Am 31. Dezember 2020 um Mitternacht vollzog das Vereinigte Königreich seinen Austritt aus der Europäischen Union. Nachdem man sich auf einen Handelspakt geeinigt hatte, der die Beziehungen zwischen beiden Seiten regelt, konnte sich London von der „Leiche, welche die EU ist“ befreien, so die theatralische Formulierung der Brexiteers. Das Vereinigte Königreich könne nun frei seinem Schicksal folgen: dem eines „Globalen Großbritanniens“.

Doch wo liegt dieses Schicksal? Der britische Premierminister Boris Johnson verkaufte den Brexit großspurig als Beginn eines „neuen Elisabethanischen Zeitalters“, als globale britische Wiedererweckung. Wie ihre Vorfahren, die Freibeuter, könnten die Briten neue Horizonte ansteuern, großartige Handelspakte schließen, Vereinbarungen mit Verbündeten nach eigenen Bedürfnissen korrigieren und den Ruf Großbritanniens als „Kraft des Guten in der Welt“ stärken.

Ein kürzlich veröffentlichter Regierungsbericht, „Global Britain in a Competitive Age“, spiegelt diesen Optimismus wider. Das Vereinigte Königreich, heißt es darin, werde zur „Wissenschafts- und Hightech-Supermacht“ aufsteigen und „seine Führungsposition in Sicherheitspolitik, Diplomatie und Entwicklung, Konfliktlösung und Armutsbekämpfung“ behaupten.

Diesem Optimismus stehen die Schäden entgegen, die das Land in der Covid-19-Pandemie erlitten hat. Das Vereinigte Königreich wurde von allen G-7-Staaten am schlimmsten getroffen, die Sterberate war eine der höchsten Europas. Mittlerweile hat die Regierung eine überraschend erfolgreiche landesweite Impfkampagne auf die Beine gestellt, doch das ändert nichts an dem Schuldenstand von zwei Billionen Pfund, dem höchsten seit 70 Jahren, der rasch steigt.

Es stünde Großbritannien daher gut an, das nächste Kapitel mit etwas mehr Demut aufzuschlagen.

Es stünde Großbritannien daher gut an, das nächste Kapitel mit etwas mehr Demut aufzuschlagen. Das Land kann in der internationalen Politik auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen, wenn es sich mit seinem Status als mittlerer Macht anfreunden kann. Statt sich in Fantasien über den Commonwealth oder den indopazifischen Raum zu verlieren, sollte es sich auf die geografische Nähe zur EU besinnen und als deren wichtigster externer Partner seinen globalen Einfluss ausbauen.

Ehe die Handelsvereinbarung im Dezember in Kraft trat, hatten die Briten wenig Neigung und keine Zeit für eine Debatte über ihre neue Position in der Welt. Nach fünf Jahren Streit wollten die meisten einfach nur, dass „der Brexit erledigt wird“. Zwar versammelte sich die Brexiteer-Presse hinter Johnsons Verhandlungstriumph, doch in der Öffentlichkeit herrschte eher Erleichterung als Siegesstimmung.

Der Pakt fiel zudem mit dem Auftauchen einer neuen und ansteckenderen Covid-19-Variante in Großbritannien zusammen. Als Frankreich daraufhin vorübergehend britische Güter und Reisende blockierte, lieferte das entstandene Chaos den Beleg dafür, wie wichtig der Handel über den Ärmelkanal ist und was das Scheitern einer Vereinbarung bedeutet hätte.

Die britischen Medien wiesen rasch auf die tatsächlichen Mängel des Handelspaktes hin, etwa, dass Johnson wirtschaftliche Interessen den mutmaßlichen Erfordernissen britischer Souveränität untergeordnet hatte. Ökonomen sagen für das kommende Jahrzehnt einen Rückgang des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts um sechs Prozent voraus, und der Export von Dienstleistungen in die EU hängt auch künftig von Entscheidungen in Brüssel ab.

Der Brexit ist somit noch lange nicht „erledigt“, sondern wird erst nach und nach die Beschränkungen für die wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Beziehungen zwischen London und Europa offenbaren. Im Januar nahm der Export britischer Waren in die EU um 40 Prozent ab, und die anhaltenden Handelsstreitigkeiten um Nordirland illustrieren, dass die Trennung alles andere als eine saubere und freundschaftliche Scheidung war.

Im Januar nahm der Export britischer Waren in die EU um 40 Prozent ab.

Europhile Briten sehen in diesen Entwicklungen die Bestätigung für den Niedergang ihres Landes. Doch so trübe ist die Lage nicht. Das Vereinigte Königreich bleibt vorerst fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, Atommacht und ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Es hat ein starkes Militär sowie hervorragende Funkaufklärung und Cyberabwehrsysteme, und diese Qualitäten erklären auch die „besonderen Beziehungen“ zu den Vereinigten Staaten.

London ist zudem global bestens vernetzt. 2021 werden die Briten den G7-Gipfel und die COP26-Klimakonferenz in Glasgow ausrichten. Das Land gehört dem nachrichtendienstlichen Verbund Five Eyes an und wird in den Plänen des US-Präsidenten Joe Biden, der die Demokratien der Welt um sich scharen möchte, vermutlich eine wichtige Rolle spielen. Die Briten erfreuen sich zudem der Beherrschung einer der wandlungsfähigsten Muttersprachen der Welt, die als internationale Lingua Franca die BBC zu einer wichtigen globalen Stimme macht und britischen Universitäten, Gerichten und diplomatischen Diensten einen hervorragenden Ruf beschert.

Darüber hinaus bleibt das Vereinigte Königreich trotz anhaltender Ressentiments gegenüber der Europäischen Union (die in Johnsons jüngstem Regierungsbericht nur beiläufig erwähnt wird) für die einstigen Partner auf dem Kontinent geographisch, kulturell und wirtschaftlich ein enger Verbündeter. Während der Mitgliedschaft in der Union gelang es den britischen Vertretern in Brüssel immer wieder, die Interessen ihres Landes wirkungsvoll durchzusetzen, etwa wenn es um die EU-Erweiterung oder Sanktionsmaßnahmen ging, obwohl sie gleichzeitig hartnäckig den Part des widerspenstigen Mitgliedstaats spielten. Heute kann die britische Führung die EU-Politik von außen möglicherweise noch besser beeinflussen, da sie einerseits flexibler agieren kann als ein Mitgliedstaat, andererseits aber mehr Einflussmöglichkeiten hat als weiter entfernte Mächte.

Als Nichtmitglied mit einer hervorragenden Kenntnis des komplexen bürokratischen Organismus Europäische Union kann das Vereinigte Königreich auch weiterhin Regeln, die für seine Bürger wichtig sind, beeinflussen, die ärgerlichsten Regelungen aber schlicht ignorieren. Dafür muss sich die Regierung Johnson allerdings ideologische Flexibilität bewahren.

London wird die Ära nach dem Brexit meistern, sofern es seine Stärken ausspielt und überflüssiges Engagement vermeidet.

London wird die Ära nach dem Brexit meistern, sofern es seine Stärken ausspielt und überflüssiges Engagement vermeidet, das mehr nostalgischen Erwägungen als echten nationalen Interessen geschuldet ist. Ob die politische Führung des Landes einer solchen Bescheidenheit fähig ist, lässt sich vielleicht daran messen, wie sie sich die kürzlich verkündete Hinwendung zur indopazifischen Region vorstellt.

Seit dem Kalten Krieg verschieben sich Macht und Wohlstand von West nach Ost, sodass sich Großbritannien mittlerweile im Osten nach neuen Märkten umsieht. China tritt unterdessen geopolitisch sehr selbstbewusst auf. Doch diese folgenreichen Verschiebungen bedeuten nicht, dass die Entsendung der Royal Navy auf Patrouillenfahrten an der chinesischen Küste die beste oder die einzige Option der Briten wäre – zumal die Regierung auch weiterhin „eine gedeihliche Handels- und Investitionspartnerschaft mit China anstrebt“, um aus dem jüngsten Bericht zu zitieren.

Schon der Begriff „indopazifisch“ lässt darauf schließen, dass Großbritannien seinen Enthusiasmus aus transatlantischen Thinktanks bezieht. Die Sorge um die Sicherheit auf den ostasiatischen Meeren und die Militärkapazität der Chinesen spiegelt nicht etwa die Probleme einer mittelgroßen Inselmacht an der Westküste Eurasiens wider, sondern nimmt vielmehr US-amerikanische Ängste auf. Wenn sich London solch entfernten Zielen zuwendet, so entspringt das dem ewigen britischen Drang, sich in Washington lieb Kind zu machen und jedes Problem anzupacken, das die Vereinigten Staaten gerade beschäftigt.

Großbritannien weiß, auf welcher Seite des geopolitischen Konflikts zwischen China und den Vereinigten Staaten es steht. In Afghanistan und im Irak hat es jedoch schmerzhaft lernen müssen, dass die Regierung als allererstes die Frage stellen sollte: „Was springt für uns dabei heraus?“ Wer den Amerikanern in die gefährlichen Gewässer Ostasiens folgt, nur weil die USA dies als eine Art Loyalitätsbeweis einfordern, bringt die schwindenden, aber noch substanziellen Aktiva, die Großbritannien nach dem Brexit aufzuweisen hat, nicht sonderlich effektiv zum Einsatz.

Um den Übergang in diese neue Rolle zu meistern, braucht es in London die Bereitschaft, die Bedeutung der EU anzuerkennen , aber auch ein Maß an Demut, das der aktuellen britischen Führung eher fremd ist.

London muss vielmehr seine eigene Rolle finden. Dazu sollte es den Raum zwischen Brüssel und Washington besetzen, damit es in Bereichen wie Handel, digitalen Diensten und europäischer Sicherheit, die für britische Bürgerinnen und Bürger wichtig sind, beide zu seinen Gunsten beeinflussen kann. So, wie Washington seine enge Beziehung zu bestimmten EU-Mitgliedstaaten (und seine erhebliche Lobbymacht in Brüssel) häufig nutzt, um Zugeständnisse etwa im Datenschutz zu bekommen, kann auch London ein selektives und flexibles Spiel betreiben. So könnte Großbritannien in den kommenden Jahren seine Marktposition und seinen politischen Einfluss geltend machen, um die EU-Regulierung umweltfreundlicher Technologien zu beeinflussen. In anderen Bereichen wie der Covid-19-Impfstoffverteilung kann es dagegen seinen eigenen Weg gehen.

Um den Übergang in diese neue Rolle zu meistern, braucht es in London die Bereitschaft, die Bedeutung der EU anzuerkennen , aber auch ein Maß an Demut, das der aktuellen britischen Führung eher fremd ist. Johnson leitet die Identität seiner Regierung vom nostalgischen Rückbezug auf britische Größe ab, der eine Trennung von der Europäischen Union unabdingbar macht.

Erschwerend kommt hinzu, dass es nach den bitteren Erfahrungen endloser Brexit-Verhandlungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals nicht mehr viele politische Entscheidungsträger gibt, die sich um neue Kooperationsbereiche bemühen würden. Doch Großbritannien wird entweder von seiner Nähe zu dieser seltsam lebendigen Leiche Europäische Union profitieren oder in nostalgischer Bedeutungslosigkeit versinken.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

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