Eine Wirtschaftskrise in der Türkei? Für die türkische Regierung gibt es keine. Sie bekennt sich zu einer unorthodoxen Wirtschaftspolitik, die vor allem auf Wachstum setzt. Und tatsächlich wird erwartet, dass die türkische Volkswirtschaft das Jahr 2021 mit einer zweistelligen Wachstumsrate abschließt. Die Regierung feiert dies als Erfolg, auch wenn der Preis ein deutlicher Wertverlust der Türkischen Lira und eine außerordentlich hohe Inflation ist.
Das führt zu dem Paradox, dass weder 2020 noch 2021 das Wirtschaftswachstum für die Bevölkerung spürbar war. Während der Anteil von Löhnen und Gehältern am Bruttoinlandsprodukt sank, erlitten die privaten Haushalte Kaufkraftverluste. Um die Folgen zu mindern, wurde der Mindestlohn deutlich erhöht. Auch Renten und Bezüge im öffentlichen Dienst wurden angehoben. Für 2022 rechnen internationale Finanzinstitute allerdings mit einer Inflationsrate um 50 Prozent. Damit wäre die Erhöhung des Mindestlohns bereits zu Jahresbeginn absorbiert.
Um den Hintergrund zu verstehen, muss man eineinhalb Jahre zurückgehen. Im Herbst 2020 begegnete der damalige Finanzminister Berat Albayrak – Staatspräsident Erdoğans Schwiegersohn – den Folgen der ersten Welle der Pandemie durch zinsvergünstigte Kreditprogramme. Verdeckte Stützkäufe für die Türkische Lira hatten die Reserven der Zentralbank aufgebraucht. Die Türkische Lira begann zu schwächeln. Albayrak trat unter wachsendem Druck zurück und auch der Zentralbankchef wurde ausgetauscht. Die Ausweitung des Kreditvolumens wurde verlangsamt. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins bis März 2021 auf 19 Prozent. Nach erneutem Personalwechsel wurde der Leitzins zwischen September und Dezember schrittweise wieder auf 14 Prozent gesenkt. Parallel stieg der Dollar-Kurs von 8,30 Türkischen Lira pro Dollar auf einen Spitzenwert von über 18; die Inflation wuchs von 13,8 Prozent auf 36,1 Prozent an. Ein Anstieg der Erzeugerpreise um knapp 80 Prozent im Dezember 2021 ließ keinen Zweifel daran, dass auch 2022 von einer anhaltend hohen Inflation geprägt sein würde.
Staatspräsident Erdoğan erklärte, dass die Schwäche der Türkischen Lira durchaus erwünscht sei, denn sie schaffe Vorteile für den Export.
Als die Talfahrt der Türkischen Lira im vergangenen Herbst begann, konterte die Regierung mit der Präsentation eines neuen Wirtschaftsmodells. Staatspräsident Erdoğan erklärte, dass die Schwäche der Türkischen Lira durchaus erwünscht sei, denn sie schaffe Vorteile für den Export. Zugleich würden Importe verteuert und damit die Zahlungsbilanz verbessert. Nach kurzer Zeit werde die türkische Volkswirtschaft dauerhaft einen Zahlungsbilanzüberschuss aufweisen, der den Devisenbedarf verringere. Dies würde die Türkische Lira nachhaltig stabilisieren.
Zugleich wiederholte Erdoğan seine These, dass hohe Zinsen Hauptgrund für die Inflation seien. Sie verteuerten Investitionen und verringerten damit das Wirtschaftswachstum. Durch niedrige Zinsen sollten Investitionen gefördert und damit neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Und all dies solle in einem Zeitraum von sechs Monaten erfolgen. Um die zunächst spürbaren negativen Folgen dieser Politik auf die Bevölkerung aufzufangen, griff er zur Metapher eines Befreiungskrieges, den die Türkei gegen imperialistische Mächte führe, die den Wohlstand und die Entwicklung des Landes vernichten wollten. Außerdem wurde der Mindestlohn für 2022 um 50 Prozent erhöht. Rund die Hälfte der Beschäftigten in der Türkei arbeiten zu diesem oder einem niedrigeren Lohn.
Ein grundlegendes Problem dieses Modells liegt in einem Zielkonflikt begründet. Fast alle türkischen Exportprodukte sind auf importierte Rohstoffe und Vorprodukte angewiesen. Der Ansatz, durch die Schwächung der Türkischen Lira den Export zu fördern, basiert darum vor allem darauf, die Arbeitskosten zu senken. Angesichts schwindender Kaufkraft ist es schwierig, Akzeptanz für eine solche Politik zu finden. Das Ergebnis verdeutlicht sich in den Meinungsumfragen der letzten Monate, die sowohl die stark sinkende Popularität der Regierung als auch einen Vertrauensverlust in das Präsidialsystem zeigen. Durch die Maßnahmen zur Stabilisierung der Türkischen Lira und die Lohnerhöhungen sollte die Akzeptanz wiederhergestellt werden. Doch dies erfolgte um den Preis hoher Inflation. 2022 ist mit einer deutlichen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zu rechnen.
Statt einen Wirtschaftsboom herbeizuführen, haben die wirtschaftspolitischen Entscheidungen vor allem Vorhersehbarkeit und Vertrauen gekostet.
Statt einen Wirtschaftsboom herbeizuführen, haben die wirtschaftspolitischen Entscheidungen vor allem Vorhersehbarkeit und Vertrauen gekostet. Letztere sind jedoch wichtige Voraussetzungen für das Investitionsklima. Bereits vor dem Beginn des Wirtschaftsabenteuers war die Popularität von Erdoğan im Schwinden begriffen. Aktuelle Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass es ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gelingen würde, noch einmal gewählt zu werden. Zwar bleiben bis zum regulären Wahltermin noch eineinhalb Jahre, jedoch ist es unwahrscheinlich, in diesem knappen Zeitraum die stark gesunkene Kaufkraft der Bevölkerung wiederherstellen zu können. Erdoğan setzt daher darauf, die Wirtschaftskrise zu leugnen. Mit religiösen und nationalistischen Motiven versucht er seine Wählerschaft an sich zu binden und einen Keil zwischen die Oppositionsparteien zu treiben. Der Ton in der türkischen Politik, die ohnehin zur Turbulenz neigt, ist rauer geworden.
Erdoğan setzt daher darauf, die Wirtschaftskrise zu leugnen.
Eine Arena des Streits zwischen Opposition und Regierung ist die Kommunalpolitik. Bereits zu Beginn der Pandemie hatten die von der CHP geführten Metropolen Istanbul und Ankara Ansätze entwickelt, um auf kommunaler Ebene gegen Armut vorzugehen. Diese wurden jedoch von der Regierung behindert. Vor allem die erheblichen Preiserhöhungen bei Energie und Lebensmitteln sind zu einer besonderen Belastung für die Bevölkerung geworden. Der Strompreis hat sich für die meisten Menschen zum Jahreswechsel mehr als verdoppelt. Auch der Preis für Brot als wichtigstem Grundnahrungsmittel stieg von November 2021 bis Januar 2022 um die Hälfte an. Kommunale Brotfabriken in Metropolen wie Ankara und Istanbul leisten mit ihren verbilligten Broten einen wichtigen Beitrag zur Minderung von Armut. Durch die Vermittlung von Spendern für mehr als 300 000 Wasser- und Erdgas-Rechnungen wurden in Istanbul bedürftige Haushalte entlastet. Praktische Kompetenz und ein transparenter Führungsstil haben dazu beigetragen, dass die CHP-Oberbürgermeister von Ankara und Istanbul Mansur Yavaş und Ekrem İmamoğlu heute zu den populärsten Politikern der Türkei zählen.
Ob dies ausreicht, um einen Sieg der Opposition bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu ermöglichen, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Der sinkende Lebensstandard untergräbt das Vertrauen in die AKP und in Staatspräsident Erdoğan. Doch führt dies nicht automatisch zu einer Aufwertung der Oppositionsparteien. Eine wichtige Etappe ist hier die Bestimmung ihres Präsidentschaftskandidaten. Dies soll jedoch erst unmittelbar vor der Wahl erfolgen. Das Beispiel der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul 2019 zeigt, dass ein Sieg auch davon abhängt, ob ein gemeinsamer Oppositionskandidat auch für die kurdisch-linke HDP wählbar ist.
Die wichtigste Stellschraube für die Türkei wird die Überwindung des geltenden Präsidialsystems sein, das durch unberechenbare Entscheidungen den Fortschritt des Landes lähmt. Auch für eine Rückkehr zu einem Wirtschaftswachstum, das die Lebensverhältnisse der Bevölkerung tatsächlich verbessert, ist dies unabdingbar.