Lesen Sie diesen Artikel auch auf Russisch.

Die Corona-Krise hat einmal mehr die Führungsschwäche Europas deutlich gemacht. Nach Finanz- und Migrationskrise wird auch in dieser Krise eine weitere Spaltung der EU sichtbar. Und dies alles vor dem Hintergrund einer Welt aus den Fugen, deren fundamentale Krisen und Konflikte sich nur notdürftig hinter dem Corona-Schleier verbergen. In einigen Fällen verschärfen sie sich sogar, wie im westafrikanischen Sahel, wo islamistische Terrorgruppen immer weitere Landstriche unsicher machen oder sogar beherrschen, oder in Libyen, wo der Bürgerkrieg in unverminderter Härte weiter tobt. Beide Konflikte können weitreichende Folgen für Europa in Form verstärkter Migration und terroristischer Bedrohung nach sich ziehen. Das gilt auch für den Ukraine-Konflikt, ohne dessen Lösung eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa, wie von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron befürwortet, unrealistisch erscheint.

In dieser von der Corona-Krise nur scheinbar überlagerten Situation steht die EU ohne wirkliche Führung da. Die Tatkraft, mit der die Bundesregierung die Pandemie im Inneren bekämpft, ändert nichts an der Tatsache, dass sich in Sachen Europa kaum etwas bewegt. Darüber können auch die nach langem Feilschen zustandegekommenen Hilfsprogramme nicht hinwegtäuschen. Zu lange hat Berlin in der ausgehenden Ära Merkel alle Initiativen von Macron auflaufen lassen, was sich in der jetzigen Krisensituation bitter rächt. Statt im pandemiegelähmten Europa die Führung zu übernehmen, stehen Berlin und Paris auch in der Corona-Krise in verschiedenen Lagern.

Dabei ist ohne diese beiden ein vereintes und stärker integriertes Europa nicht vorstellbar. Beide repräsentieren zwei unterschiedliche geo-kulturelle Fundamente der europäischen Einigung: Frankreich, am westlichen Rand Europas gelegen, das westlich-demokratische, laizistische, zentralstaatliche Element; Deutschland, in der Mitte Europas liegend, das demokratisch „nachhinkende“, föderalistische und in der Nachkriegszeit zunehmend pazifistische und ökologische Element. Mit der „Osterweiterung“ 2004 kam ein drittes Element hinzu: eine immer noch stark landwirtschaftlich-religiös geprägte Gesellschaft, die jahrhundertelang von fremden Mächten dominiert wurde. Polen ist nicht nur das quasi idealtypische Muster dieser Gesellschaften, sondern auch eine wirtschaftliche Erfolgsstory; beides zusammen prädestiniert es für eine stärkere Mitsprache in Europa.

Die Tatkraft, mit der die Bundesregierung die Pandemie im Inneren bekämpft, ändert nichts an der Tatsache, dass sich in Sachen Europa kaum etwas bewegt.

Die Fundamente für ein diese unterschiedlichen Elemente zusammenfügendes – und damit wahrhaft repräsentatives – potentielles Führungstrio in der EU wurden schon 1991 gelegt. An Goethes Geburtstag, am 28. August, trafen sich damals die Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Roland Dumas und Krzysztof Skubiszewski in Weimar und hoben das „Weimarer Dreieck“ aus der Taufe. Im politischen Bereich allerdings fiel es schon bald in eine Art Dornröschenschlaf: Das letzte Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschef fand 2011 und das letzte Außenministertreffen 2016 statt. Konkrete Beschlüsse wurden selten gefasst, aber immerhin bot es eine Plattform für Gespräche und fungierte als symbolische Struktur für die Einbeziehung der ostmitteleuropäischen Länder in die EU.

Hieran könnte man angesichts der zunehmenden weltpolitischen Unwägbarkeiten und der  europäischen Handlungsunfähigkeit anknüpfen und die „schlafende Schönheit“ wachküssen. Zwei „Prinzen“ haben schon erste Annäherungsversuche unternommen: Außenminister Heiko Maas machte im März 2018 seinen zweiten Antrittsbesuch (nach Paris) in Warschau und hat Polen seitdem noch mehrfach besucht; Macron kam im Februar 2020 als erster französischer Präsident seit sechs Jahren nach Warschau. Beide plädierten in Polen für eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks, ersterer quasi ausgestattet mit einem Mandat der Bundesregierung, in deren Koalitionsvertrag die Förderung des Weimarer Dreiecks explizit erwähnt ist, letzterer mit einer Einladung zu einem ersten Gipfeltreffen nach fast zehn Jahren am 14. Juli in Paris.

Und das trotz der Tatsache, dass die seit 2015 in Polen regierende national-konservative „Recht und Gerechtigkeitspartei“ (PiS) unter Jaroslav Kaczynski einen ausgesprochen europakritischen Kurs verfolgt und überdies mit der EU-Kommission über Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Justizreform und Migration im Clinch liegt. Stellen diese Fragen einen aktuellen Stolperstein auf dem Weg zu einem erneuerten Weimarer Dreieck dar, so gibt es auch grundsätzliche Differenzen vor allem zwischen Paris und Warschau über die politischen Lager hinweg. Diese haben mit der unterschiedlichen geopolitischen Verortung beider Länder und ihren historischen Erfahrungen zu tun. Für Frankreich liegen die größten Herausforderungen und Gefahren im Süden mit zerfallenden Staaten, islamistischen Terrororganisationen und wachsendem Migrationsdruck. Für Polen lauert die größte Gefahr im Osten in Gestalt von Russland, das jahrhundertelang seine Nachbarregionen dominierte und neuerdings wie in der Ukraine wieder Expansionsgelüste zeigt.

Eine Stabilisierung seiner östlichen Nachbarschaft und der Schutz vor möglichen russischen Ambitionen zählen zu den außenpolitischen Prioritäten Warschaus über alle politischen Lager hinweg.

Diese unterschiedlichen Perzeptionen haben Konsequenzen für die außen- und sicherheitspolitische Orientierung beider Länder. Während Paris traditionell und unter Macron verstärkt auf eine „strategische Autonomie“ Europas und damit größere Unabhängigkeit von den USA abzielt, stellen für Warschau die Anbindung an die NATO und der militärische Schutz der USA die Eckpfeiler seiner strategischen Orientierung dar. Allerdings hat Polen mit dem Brexit seinen wichtigsten Verbündeten innerhalb der EU verloren, und die nicht erst seit Trump sichtbare Abkehr Washingtons von Europa lässt auch in Warschau Zweifel an der Zuverlässigkeit der amerikanischen Garantien aufkommen. Insofern öffnet sich möglicherweise eine Bresche im polnischen Festungsdenken, in die vor allem Berlin hineinstoßen könnte. Denn Deutschland bildet nicht nur die geographische Brücke zwischen Polen und Frankreich und damit auch das Bindeglied zwischen östlichen und westlichen EU-Mitgliedern, sondern es nimmt auch geostrategisch eine Mittlerposition zwischen beiden ein.

Das gilt auch und insbesondere für die Ukraine-Krise, die einen weiteren Stolperstein für eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks und darüber hinaus für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa darstellt, die ohne Russland nicht denkbar ist. Es war ein strategischer Fehler, Polen nicht in das Normandie-Format einzubeziehen, nachdem die drei „Weimar-Außenminister“ Fabius, Sikorski und Steinmeier im Februar 2014 als erste im „Euromaidan-Konflikt“ zu vermitteln suchten. Polen ist das einzige EU-Land, das sowohl an die Ukraine wie an Russland grenzt und es verfügt über die stärksten Bindungen an Kiew, nicht zuletzt auch wegen der bis zu zwei Millionen ukrainischen Migranten in Polen. Eine Stabilisierung seiner östlichen Nachbarschaft und der Schutz vor möglichen russischen Ambitionen zählen zu den außenpolitischen Prioritäten Warschaus über alle politischen Lager hinweg. Eine Lösung der Ukraine-Krise und das Finden eines modus vivendi mit Moskau liegen daher im ureigensten Interesse Polens, aber auch der EU. Auch hier schreitet Emmanuel Macron voran, indem er die Fühler sowohl nach Warschau wie auch nach Moskau ausstreckt und überdies das Normandie-Format zu neuem Leben erwecken will.

Zwei Faktoren könnten Bewegung in die polnische Haltung bringen: Eine Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten, ohne die Bindung an die NATO aufzugeben, würde die EU-Position gegenüber Moskau stärken und dieses vielleicht eher zum Einlenken bewegen, sodass eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur in den Bereich des Möglichen rückt. Und zweitens würde eine solche „Befriedung“ der östlichen Gefahrenzone die Konzentration auf die Südflanke der EU ermöglichen und damit eventuell den von Warschau so gefürchteten Migrationsdruck mildern. In beiden Bereichen könnte ein wiederbelebtes Weimarer Dreieck eine zentrale Rolle spielen.