Der Kampf der europäischen Institutionen gegen sich zunehmend autokratisierende Mitgliedsstaaten scheint ein neues Niveau zu erreichen: Die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, Ungarn ein Drittel der EU-Haushaltsmittel zu kürzen und das Europäische Parlament hat dem Land den Status einer Demokratie abgesprochen.

Nichtsdestotrotz dürfte auch dieses Mal der Konflikt wohl zu keinem echten Durchbruch führen, sondern mit einigen weichen Kompromissen enden. Während das Bestreben, die Einheit der EU zu wahren und die ungarischen Staatsfinanzen nicht zu ruinieren, politisch verständlich ist, zeigt der Umgang mit Ungarn wieder einmal, wie die EU ihren Mitgliedsstaaten einen Rettungsring reicht, die zunehmend autokratisch werden. Was fehlt, ist eine Strategie der EU, diese Staaten einzubinden und zu re-demokratisieren.

Im September 2022 gab es zwei entscheidende Entwicklungen im mehr als zehnjährigen Kampf der Europäischen Union gegen die autoritären Entwicklungen in ihrem Mitgliedsstaat Ungarn: Am 15. September erklärte das Europäische Parlament in einer Entschließung, die mit einer deutlichen Mehrheit von 433 Ja-Stimmen, 123 Nein-Stimmen und 28 Enthaltungen angenommen wurde, dass sich Ungarn seit 2010 zu einem „hybriden Regime der Wahlautokratie“ entwickelt habe und daher nicht mehr als Demokratie angesehen werden könne.

Obwohl über die Autokratisierung Ungarns schon seit vielen Jahren ein Konsens innerhalb der führenden Demokratie-Indizes – wie denen von V-Dem oder Freedom House – besteht, war dies das erste Mal, dass ein repräsentatives politisches Gremium ein so deutliches Urteil über die demokratischen Qualitäten des ungarischen Orbán-Regimes abgab. Auch wenn es im Ergebnis schockierend erscheint, dass die Europäische Union auch undemokratischen Mitgliedsländern einen Raum bietet, scheint es, als ob die unmittelbaren politischen Auswirkungen der Entschließung durchaus begrenzt sein werden.

Anders verhält es sich allerdings mit dem mutigen Vorschlag der EU-Kommission, Zahlungen an Ungarn in Höhe von 7,5 Milliarden Euro wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit, die Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Union haben, auszusetzen. Diese Zahlungen stellen fast ein Drittel der Mittelzuweisungen an Ungarn im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU für den Zeitraum 2021 bis 2027 dar. Ihre Aussetzung könnte weitreichende Folgen für die ungarischen Staatsfinanzen haben.

Die Europäische Kommission hat ihren Werkzeugkoffer zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit erheblich verbessert.

In den vergangenen zwei Jahren hat die Europäische Kommission ihren Werkzeugkoffer zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und zur Verhängung von Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten, die die grundlegenden Werte der EU missachten, erheblich verbessert. Die Aussetzung der Mittel aus der Europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität (ERRF; umgangssprachlich: dem Corona-Konjunkturpaket) und die Aktivierung der Konditionalitätsverordnung gegen Ungarns autokratisierende Regierung haben den Eindruck erweckt, dass die Kommission ihre Lehren aus ihrem jahrzehntelangen Scheitern gezogen hat und nun politische und finanzielle Druckmittel einsetzt, um den autoritären Tendenzen in Ungarn entgegenzuwirken. Der Vorschlag, 7,5 Milliarden Euro aus dem Mehrjährigen Finanzrahmen auszusetzen, scheint das Sahnehäubchen zu sein, der Beweis, dass die Europäische Kommission endlich verstanden hat, wie das ungarische Regime funktioniert. 

Die Aussetzung der Mittel aus dem Corona-Aufbaufonds in Höhe von 5,8 Milliarden Euro und die Aussicht auf weitere finanzielle Sanktionen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro im Rahmen der Konditionalitätsverordnung beeinflussten bereits die Reaktion Ungarns im Juni. Im Gegensatz zum polnischen Standpunkt, keine weiteren Zugeständnisse in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit zu machen, um die Blockade von Mitteln aus dem Aufbau- und Resilienzplan aufzulösen, zeigte sich die ungarische Regierung zunehmend kooperativ. Aus guten Gründen.

Um die Blockade von Mitteln aus dem Aufbau- und Resilienzplan aufzulösen, zeigte sich die ungarische Regierung zunehmend kooperativ.

Während die russische Aggression gegen die Ukraine der Regierung von Premierminister Orbán kurzfristig zugute kam und ihm zu einem souveränen Sieg bei den Parlamentswahlen im April verhalf, belasten und destabilisieren die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges seine Regierung. Aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und der Ausgabenerhöhung vor den Wahlen sind die ungarischen Staatsfinanzen ins Ungleichgewicht geraten. In gewisser Hinsicht befinden sie sich in einem schlechteren Zustand als in den Jahren 2009/2010, also unmittelbar nach der Wirtschaftskrise des Jahres 2008. Während der inflationsbedingte Anstieg der Mehrwertsteuereinnahmen das Haushaltsdefizit kurzfristig stabilisieren und höchstwahrscheinlich unter dem zu Beginn des Jahres erwarteten Defizit von 7 bis 8 Prozent halten könnte, sieht sich Ungarn mit einer der schlimmsten Inflationsraten in der EU konfrontiert, die Ende des Jahres einen Höchststand von fast 20 Prozent erreichen könnte.

Zusammen mit den stark fallenden Wechselkursen belastet das die Finanzierung der Auslandsverschuldung des Landes. Die Schuldenquote ist auf über 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angewachsen und befindet sich gegenwärtig auf der Höhe der Schuldenwerte von 2008/2009. Vor diesem Hintergrund ist es für die ungarische Regierung von entscheidender Bedeutung, externe Finanzmittel zu erhalten, um eine Herabstufung ihrer Kreditwürdigkeit und einen möglichen mittelfristigen Zahlungsausfall zu vermeiden.

Die Europäische Kommission scheint bereit zu sein, den Konflikt mit einem Kompromiss zu beenden.         

Weil die Europäische Union die einzige strategische Option zur externen Finanzierung Ungarns ist, hat die ungarische Regierung damit begonnen, auf die Beschwerden der Europäischen Kommission in Bezug auf Korruption, Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Ausschreibungen in einer scheinbar konstruktiven Art und Weise zu reagieren. Sie hat eine engere Zusammenarbeit mit dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) versprochen, will den Anteil der Einzelbieter-Ausschreibungen reduzieren und eine neue Integritätsbehörde zur Korruptionsbekämpfung einrichten sowie die Qualität der Gesetzgebung durch regelmäßige öffentliche Konsultationen im Gesetzgebungsverfahren verbessern.

Haushaltskommissar Johannes Hahn lobte den konstruktiven Ansatz der ungarischen Regierung, als er am 18. September den Vorschlag für Haushaltskürzungen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro ankündigte. Seinen Worten nach zu urteilen, weiß die Europäische Kommission die Bemühungen der ungarischen Regierung zu schätzen. Sie scheint bereit zu sein, den Konflikt mit einem Kompromiss zu beenden, wenn das Orbán-Regime genügend Garantien bietet, die finanziellen Interessen der EU in Ungarn vor der grassierenden politischen Korruption zu schützen.

Ungarn ist eine Nicht-Demokratie mit systemischen Mängeln in der Rechtsstaatlichkeit.       

Dieser Ansatz der Europäischen Kommission ist verständlich, wenn man die kurzfristigen, realpolitischen Argumente in den Blick nimmt: Erstens hat das ungarische Regime bereits unter Beweis gestellt, dass es bereit ist, die strategischen europäischen Entscheidungen mit Blick auf Russland zu blockieren. Aus diesem Grund wird die Europäische Kommission möglicherweise zögern, mit Premierminister Orbán einen politischen Krieg zu beginnen.

Zweitens könnten die Finanzmärkte ohne Aussicht auf eine EU-Außenfinanzierung Ungarns nervös werden, was den Zusammenbruch der ungarischen Staatsfinanzen weiter antreiben könnte. Die Europäische Kommission ist mit Sicherheit nicht daran interessiert, dass ein Mitgliedsstaat zahlungsunfähig wird. Deshalb muss sie die ungarische Wirtschaft über Wasser halten, was sowohl ihre politischen Handlungsoptionen als auch die Glaubwürdigkeit ihrer Drohungen gegenüber Budapest stark einschränkt.

Drittens: Selbst wenn die Kommission entschlossen genug wäre, mit Orbán hart ins Gericht zu gehen und dem Rat als dem EU-Entscheidungsgremium, das gemäß der Konditionalitätsverordnung mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, die Aussetzung von 7,5 Milliarden Euro tatsächlich vorschlagen würde, bleibt es ungewiss, ob die Mitgliedsstaaten den Vorschlag der Kommission durchgehen lassen oder aber ablehnen. Die Chancen zur Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Ungarn im Rat scheinen nach den Ergebnissen der italienischen Wahlen vom Wochenende, angesichts der Wiederauferstehung der polnisch-ungarischen Anti-EU-Allianz und der anhaltenden Solidarität innerhalb der mitteleuropäischen Staaten eher gering zu sein. Die aktuellen Umstände spielen Orbán einmal mehr in die Hände.

Was könnte die Europäische Kommission tun, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, erneut einen faulen Kompromiss einzugehen und echte Druckmittel gegenüber der ungarischen Regierung in Schall und Rauch aufgehen zu lassen? Ungarn ist eine Nicht-Demokratie mit systemischen Mängeln in der Rechtsstaatlichkeit. Vor diesem Hintergrund sollten auch die aktuell vom ungarischen Regime angebotenen institutionellen Garantien bewertet werden. Was auch immer von Budapest in Bezug auf die Unabhängigkeit der neuen Integritätsbehörde versprochen wird: Am Ende des Tages wird diese Institution in einem verfassungsrechtlichen Rahmen arbeiten, der politisch zutiefst voreingenommen ist und ihren Spielraum grundlegend bestimmen wird.  

Annehmbare institutionelle Garantien können nur außerhalb des ungarischen Rechts- und Verfassungssystems, auf der Ebene der Europäischen Union, gefunden werden. Auch wenn der Zugang zu EU-Mitteln rechtlich nicht an den Beitritt zur Europäischen Staatsanwaltschaft (EuSta) geknüpft werden kann, sollte die Kommission im Falle Ungarns angesichts der rechtsstaatlichen Situation darauf bestehen, dass das Verfahren der Konditionalitätsverordnung einzig durch die Garantie beendet werden kann, dass Ungarn der EuSta beitritt. Das wäre ein bedeutender Erfolg für die Kommission und vielleicht ein echter Wendepunkt im Hinblick auf Ungarns autoritären Kurs. Ob die ungarische Regierung verzweifelt genug ist, dieses Zugeständnis zu machen, bleibt abzuwarten. Aber ohne diese Gelegenheit zu nutzen, Budapest unter Druck zu setzen, steuert die Kommission wieder einmal auf einen faulen Kompromiss zu, der die Nicht-Demokratie im Kreise der EU durch einen dringend benötigten externen Rettungsanker über Wasser hält. 

Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer