Die vergangenen Monate haben das politische Gesamtbild in Griechenland maßgeblich verändert. Die sozialdemokratische Mitte-Links-Partei PASOK, die nach ihrem krisenbedingten Absturz lange Zeit eine untergeordnete Rolle spielte, konnte sich wieder als größte Oppositionspartei etablieren. Damit hat sie die linke Syriza, von der sie einst überflügelt worden war, ins Abseits gedrängt.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni wirkten wie ein Katalysator für die politischen Verschiebungen in Griechenland. Die regierende Mitte-Rechts-Partei Nea Dimokratia verfehlte mit 28,3 Prozent klar das von Premierminister Kyriakos Mitsotakis angestrebte Ziel von 33 Prozent. Doch auch die wichtigsten Oppositionsparteien hinterließen ein schwaches Bild.
Syriza wurde mit etwas weniger als 15 Prozent zwar zweitstärkste Kraft, blieb damit jedoch weit hinter der Nea Dimokratia. Dieses Ergebnis war für viele Syriza-Mitglieder enttäuschend, da sie mit dem neuen Parteivorsitzenden Stefanos Kasselakis gehofft hatten, die Partei wieder zu einer relevanten politischen Größe zu machen.
Der frühere Goldman-Sachs-Banker und Reeder Kasselakis hatte im September 2023 den Parteivorsitz übernommen, nachdem Alexis Tsipras zurückgetreten war. Tsipras wiederum hatte die Partei 2015 auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise zur Regierungspartei gemacht und war damals Premierminister geworden. Dass die Syriza-Mitglieder mit Kasselakis einen politischen Quereinsteiger an die Spitze wählten, den politisch offenkundig wenig mit der Linken verband, war in Griechenland auch deshalb eine Überraschung, weil es in der politischen Kultur des Landes fest verankert ist, dass die Parteivorsitzenden sich durch die Parteistrukturen hocharbeiten.
Manche Unterstützer sahen in dem 36-jährigen, im Ausland ausgebildeten Kasselakis den idealen Gegenkandidaten zu Griechenlands liberalem Premierminister Kyriakos Mitsotakis. Kasselakis' Amtszeit als Parteivorsitzender war jedoch von Beginn an von erheblichen Turbulenzen geprägt. Elf Syriza-Abgeordnete traten aus der Partei aus und gründeten eine neue parlamentarische Gruppe namens „Neue Linke“. Sie warfen Kasselakis mangelnde politische Überzeugung vor und kritisierten, dass er mehr daran interessiert sei, in den Medien Aufmerksamkeit zu erregen, als sich mit inhaltlicher Parteiarbeit zu beschäftigen. Diese Vorwürfe zogen sich durch seine gesamte Zeit als Vorsitzender.
Nach der Europawahl witterten die parteiinternen Gegner von Kasselakis ihre Chance, ihn zu stürzen.
Nach der Europawahl witterten die parteiinternen Gegner von Kasselakis ihre Chance, ihn zu stürzen. Das enttäuschende Ergebnis führte zu langwierigen internen Auseinandersetzungen, an dessen Ende Kasselakis den Parteivorsitz verlor. Zu seinem Nachfolger wurde Ende November der Fraktionschef und Ex-Minister Sokratis Fomellos gekürt. Nach dem Experiment mit dem forschen Politikneuling votierten die Syriza-Mitglieder für einen Gemäßigten mit langer Parteizugehörigkeit. Diese Entscheidung führte jedoch zu einer weiteren Abspaltung. Kasselakis beschloss daraufhin, eine eigene Partei zu gründen, die er „Bewegung für Demokratie“ nannte.
Die ideologische Ausrichtung der neuen Partei ist bislang unklar, doch Kasselakis betonte, dass sich seine Bewegung nicht mit internen Prozessen und Streitigkeiten aufhalten werde. Stattdessen wolle sie sich auf die Realität konzentrieren und Wähler sowohl aus der Mitte als auch aus dem linken Spektrum ansprechen. Eine Handvoll Syriza-Abgeordnete hat sich bereits seiner neuen Bewegung angeschlossen.
Syriza ist nach den jüngsten Entwicklungen stark angeschlagen. Die Partei hat in der Wählerschaft erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt und ist in den Umfragen auf den vierten oder sogar fünften Platz abgerutscht. Nach der neuesten Abspaltung ist Syriza zudem nicht mehr die größte Oppositionspartei im Parlament. Diesen Status musste sie an die PASOK abgeben, die jetzt mehr Sitze hat als die Linken.
Die Sozialdemokraten profitierten gleich in mehrfacher Hinsicht von den Turbulenzen bei Syriza. Dass die PASOK aus den Wahlen zum Europäischen Parlament gestärkt hervorgehen würden, war dabei keineswegs selbstverständlich, da auch ihr Ergebnis nicht besonders beeindruckend war. Einige Funktionäre forderten deshalb eine Neuwahl der Parteispitze und drängten auf eine Abwahl des amtierenden Parteivorsitzenden Nikos Androulakis, der seit Ende 2021 im Amt ist und zuvor als Europaabgeordneter tätig war. Sie argumentierten, PASOK hätte stärker von der Schwäche des Syriza-Vorsitzenden Kasselakis profitieren und mehr Stimmen holen müssen, um sich klarer von der linken Konkurrenz abzusetzen.
Syriza ist nach den jüngsten Entwicklungen stark angeschlagen.
Androulakis konnte jedoch seine Position behaupten und setzte sich bei Urwahlen gegen zwei ehemalige PASOK-Minister sowie den Bürgermeister von Athen durch. Trotz seiner Wiederwahl bleiben jedoch Zweifel, ob der Politiker von der Insel Kreta über ausreichend Charisma und Dynamik verfügt, um Premierminister Kyriakos Mitsotakis ernsthaft herauszufordern. Dennoch verlief die Abstimmung über den Parteivorsitz bei PASOK deutlich geordneter und einträchtiger als bei Syriza, was die Position der Sozialdemokraten weiter gestärkt hat.
Androulakis setzt nun stärker auf Integration und hat einige seiner parteiinternen Gegner in das Strategiegremium der Partei geholt. Parallel bläst er bei einer ganzen Reihe von Themen zum Angriff gegen die Regierung. Ein besonders zentrales Thema sind die Lebenshaltungskosten. Griechenland hat sich in den vergangenen Jahren zwar wirtschaftlich erholt, aber immer mehr Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, dass sie von den Früchten des Wachstums nicht profitieren und stattdessen für Grundgüter, Energie und Wohnen immer tiefer in die Tasche greifen müssen.
Nach den neuesten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Alco kommt die Nea Dimokratia auf 24 Prozent, PASOK auf 15,9 Prozent und Syriza auf 7,1 Prozent. Dies zeigt deutlich, wie sehr das Bild sich in den vergangenen Monaten gewandelt hat.
Die PASOK steht in den kommenden Monaten vor der schwierigen Aufgabe, sich vor allem im Bewusstsein der Wählerinnen und Wähler als überzeugende Alternative zur Nea Dimokratia zu etablieren. Mitsotakis hat die PASOK rasch als eine neu verpackte Version von Syriza und als Verfechterin populistischer Politik bezeichnet. Dieses Etikett knüpft an das Erbe der Krisenzeit und die turbulenten Jahre der Syriza-Regierung an, was es den Sozialdemokraten erschweren könnte, sich davon zu lösen. Erste Anzeichen deuten jedoch darauf hin, dass PASOK-Chef Androulakis bestrebt ist, dieses Stigma zu vermeiden, indem er gezielt politische Vorschläge macht, die in der Öffentlichkeit auf Resonanz stoßen und bei denen die regierende Nea Dimokratia zögert, aktiv zu werden.
Allein aus Syriza sind in den letzten Jahren vier neue Parteien hervorgegangen.
Ein Beispiel dafür war die Diskussion im Vorfeld der Abstimmung über den Haushalt 2025 am 15. Dezember. PASOK schlug eine zusätzliche Steuer für griechische Banken vor, die in den vergangenen Jahren hohe Gewinne erzielt hatten. Premierminister Mitsotakis lehnte diesen Vorschlag ab, verkündete jedoch kurz darauf, dass einige der exorbitanten Transaktionsgebühren, die von griechischen Banken erhoben werden, abgeschafft würden: Ein stillschweigendes Eingeständnis, dass PASOK mit ihrem Vorschlag einen wunden Punkt getroffen hatte.
Während die Sozialdemokraten weiter versuchen werden, die regierende Nea Dimokratia unter Druck zu setzen, geht es für Syriza dagegen in der jetzigen Situation schlicht und einfach ums Überleben. Sowohl für PASOK als auch für Syriza stellt eine weitere Entwicklung eine erhebliche Herausforderung dar: Die wachsende Unzufriedenheit der Wählerschaft führt dazu, dass sich immer mehr Menschen kleineren Parteien zuwenden. Zu den Gewinnern zählen insbesondere die drei rechtsextremen Parteien, die im griechischen Parlament vertreten sind und ihre Unterstützerbasis kontinuierlich ausbauen. Gleichzeitig fragmentiert sich das linke Lager weiter, da sich die Stimmen links eingestellter Bürgerinnen und Bürger auf eine Vielzahl von Parteien verteilen.
Allein aus Syriza sind in den letzten Jahren vier neue Parteien hervorgegangen: die Neue Linke, die Bewegung für Demokratie, MeRA25 und der Kurs der Freiheit. All diese Parteien werden bei der nächsten Wahl als Konkurrenten gegeneinander antreten.
Durch die Zersplitterung reduziert sich das Wählerpotenzial, auf das PASOK und Syriza bei einem Neustart hoffen können. Beide Parteien erhoffen sich, von den Schwierigkeiten zu profitieren, mit denen Premierminister Mitsotakis derzeit zu kämpfen hat. Noch vor Kurzem schien seine dominierende Stellung unangefochten, doch mittlerweile gerät sie zunehmend ins Wanken.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld