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Am Vorabend des Tages, an dem die ungarische Philosophin Ágnes Heller im Plattensee ums Leben kam, strahlte der Sender Klubrádió ein grimmiges Interview mit der 90-Jährigen aus. Unter anderem wurde sie nach Europas Populisten gefragt. Heller bestand darauf, dass diese Frage falsch gestellt sei. Die damit gemeinten Politiker sollten nicht als populistisch, sondern ethno-nationalistisch bezeichnet werden.

Einige Tage zuvor, nachdem Präsident Donald Trump und sein Publikum vier Kongressabgeordnete, die Minderheiten angehören, aufgefordert hatten, in ihre Heimatländer zurückzukehren, hatte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman mit Blick auf die politische Situation in den Vereinigten Staaten Klarheit gefordert: „Dies sollte für jeden, der Trump als ‚Populisten‘ bezeichnet oder behauptet, dessen Zustimmung beruhe auf ‚wirtschaftlichen Ängsten‘, ein Moment der Wahrheit sein. Er ist kein Populist, er glaubt an die Vorherrschaft der weißen Rasse.“

Und genau in der gleichen Woche twitterte der Papst der Populismus-Forschung, der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde: „Angesichts dessen, dass drei der fünf größten Demokratien rechtsextreme politische Anführer haben und der Linkspopulismus auf der ganzen Welt nahezu irrelevant ist, wird es höchste Zeit, hinsichtlich unserer Terminologie genauer und sorgfältiger zu sein. Trump ist nicht in erster Linie ein Populist, sondern ein Nativist/Rassist.“ Cas Mudde ist überzeugt, dass Begriffe wichtig sind und wir auf unsere Wortwahl achten müssen.

Der unpassende Gebrauch der Begriffe „Populist“ und „Populismus“ wurde nicht erst im Jahr 2019 zu einem Problem. Diejenigen Experten, die die meisten, wenn nicht sogar alle politischen Prozesse unserer Zeit durch die Brille des Populismus betrachten, haben uns nicht geholfen, die Probleme besser zu verstehen. Und sie waren auch nicht hilfreich dabei, wirksame antipopulistische Strategien zu entwickeln. Dieses Versagen deutet darauf hin, dass zu viele Dinge vermischt und die Grenzen, welche Gruppen als populistisch zu bezeichnen sind, manchmal willkürlich gezogen werden.

Der Diskurs über Populismus bleibt an der Oberfläche und konzentriert sich auf Stil, Perspektive und Erscheinungsbild.

Der Diskurs über Populismus bleibt an der Oberfläche und konzentriert sich auf Stil, Perspektive und Erscheinungsbild. Auf diese Weise wird nicht nur das Konzept strapaziert. Es werden auch qualitativ unterschiedliche politische Erscheinungsformen vermengt, wie zum Beispiel die äußerste Rechte und die radikale Linke, die eigentlich Erzfeinde sind.

Die Verkümmerung des Vokabulars beginnt schon damit, dass Konzepte wie „Demagogie“ oder „Demagoge“ in Vergessenheit geraten. Wenn Politiker um Zustimmung werben, indem sie die Wünsche und Vorurteile der einfachen Leute bedienen und nicht rational argumentieren, sind sie Demagogen. Im heutigen Diskurs wird stattdessen oft das Wort Populist verwendet.

Der Populismusbegriff hat zum Teil deshalb um sich gegriffen, weil manchen das passendere Wort nicht eingefallen ist. Andere haben ganz bewusst einen euphemistischen Ausdruck gewählt, um der Debatte die Spitze zu nehmen und keine widersprüchlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Auch dieser vorsichtige Ansatz führt zu einer Überbeanspruchung des Begriffs „Populismus“. Infolgedessen sprechen wir nicht genug über Nationalismus, Autoritarismus, (Post- und Neo-) Faschismus und die radikale Rechte.

Das Elend beginnt mit den Begrifflichkeiten – und es endet mit der Schwierigkeit, wie auf Populismus reagiert werden sollte. Wenn Populismus gefährlich ist, müssen wir ihn bekämpfen. Aber solange wir Populismus als Anti-Elitismus definieren (ohne eine genau Analyse der sozialen Strukturen), warum sollte er dann gefährlicher sein als der Elitismus selbst? Deshalb stellt sich die Frage, ob diese gesamte Dichotomie nicht untauglich ist. Um dies zu beantworten, müssen wir zunächst das Konzept und seinen Kontext umfassend unter die Lupe nehmen.

Dass der Populismusbegriff heute überstrapaziert wird, bedeutet zugleich den Missbrauch eines Konzepts, das in der Geschichte der Politik mit einer bestimmten Richtung verbunden ist. Die populistische Bewegung im 19. Jahrhundert in den USA war eine Koalition von Agrarreformern des Mittleren Westen und Südens, die sich für eine Bandbereite ökonomischer und politischer Reformen einsetzte. Die Bewegung hatte in kulturellen Fragen ein konservatives, aber in sozialen Fragen ein progressives Profil.

Der andere wichtige Fall einer „populistischen“ politischen Richtung war das peronistische Argentinien, das Anleihen an Mussolinis Italien nahm. Obwohl Juan Perón keinen faschistischen Staat aufbaute, ist dieser Einfluss unbestreitbar. Wenn man die Dinge aus dem Kontext reißt, kann das dazu führen, Populismus als Euphemismus für Faschismus zu verwenden oder den Populismus als eine weiche (nicht-gewalttätige) Form davon zu beschreiben. Bei der Beurteilung ist es aber wichtig, den politisch-ökonomischen Hintergrund nicht außer Acht zu lassen: Das vorperonistische Argentinien wurde von der globalen Weltwirtschaftskrise schwer getroffen, und die konservative Regierung jener Zeit schützte die Pfründe der Reichen, ohne etwas dafür zu tun, das Leid der armen Bevölkerung zu lindern.

Die Vernachlässigung solcher historischer Ursprünge macht es möglich, dass der Populismusbegriff heute ein Schlagwort für alle Formen von extremistischen Gefahren ist. Zum Beispiel argumentiert der Politologe Jan-Werner Müller, der Kern des Populismus sei die Ablehnung des Pluralismus: Populisten werden immer behaupten, dass nur sie allein die Menschen und ihre wahren Interessen vertreten. Müller spricht auch von etwas, das einem ehernen Gesetz des Populismus gleichkommt – wenn Populisten genügend Macht hätten, würden sie am Ende einen autoritären Staat errichten. Dabei ist klar, dass weder die ursprünglichen Populisten (die amerikanischen Agrarreformer) noch einige der heutigen Vertreter des Populismus (etwa die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien) antipluralistisch oder autoritär sind.

Auf der anderen Seite haben alle klassischen Varianten des Populismus, ebenso wie die heutigen Spielarten, sehr wichtige Antreiber in der politischen Ökonomie: zum Beispiel ungleiche Entwicklungen, kapitalistische Krisen und Depressionen, die zu wachsender Ungleichheit führen. Aufgrund der Meinungsunterschiede zwischen Ökonomen und politischen Kommentatoren ist es nicht einfach, diese Dimension anhand von historischen oder aktuellen Beispielen zu verdeutlichen. Dani Rodrik ist einer derjenigen, die an der Überwindung dieser Kluft arbeiten. Er verweist auf die reiche Literatur, die die Kausalität zwischen Handelsschocks (z. B. durch die Einfuhr chinesischer Produkte) und dem Aufkommen sogenannter populistischer Tendenzen in Europa und Amerika belegt.

Wenn die politische Ökonomie mindestens ebenso wichtig ist wie kulturelle Fragen, müssen antipopulistische Strategien diese Einsicht widerspiegeln. Dani Rodrik formuliert es so: „Wirtschaftliche Heilmittel gegen Ungleichheit und Unsicherheit sind von größter Bedeutung.“ Dies gilt auf jeden Fall für die heutige EU, in der wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte, insbesondere in Krisenzeiten, nationalistische Gefühle hervorgerufen haben. Sie haben politische Kräfte geschaffen oder verstärkt, die als „Populisten“ etikettiert wurden.

In unserem europäischen Kontext erscheint der Nationalismus als eine Alternative zu den inhärenten Ungleichgewichten und politischen Misserfolgen der europäischen Integration. Beispielsweise ist der Wohlfahrtschauvinismus als spezifische Form des Wirtschaftsnationalismus ein bedeutender Faktor geworden, der hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, in reicheren Ländern existiert und der von der Ablehnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der EU-Gesetzgebung zur Garantie gleicher Rechte profitiert.

Der heutige Populismus galt lange als zwar beunruhigendes, aber nicht dringliches politisches Problem. Dies änderte sich im Jahr 2016, als der Populismus sich offensichtlich vom politischen Rand ins Zentrum verlagerte. Dieser Schock brachte das Zwillingskonzept „Trump and Brexit“ hervor. Wer diese Formel verwendet, kennt in der Regel die Ursprünge dieser ganz offensichtlich unterschiedlichen Tendenzen nicht. Es handelt sich um die Sprache von Zentristen, über die die Realität hereingebrochen ist, und die, anstatt über die Grenzen ihres Zentrismus nachzudenken, einfach so weitermachen und schließlich bei einer Ideologie des Mainstreams anlangen.

„Trump und Brexit“-Zentristen sind besonders erstaunt darüber, dass ein im Wesentlichen rechtes politisches Projekt in traditionell linken Wahlkreisen Unterstützung erhält.

„Trump und Brexit“-Zentristen sind besonders erstaunt darüber, dass ein im Wesentlichen rechtes politisches Projekt in traditionell linken Wahlkreisen Unterstützung erhält. In Wirklichkeit handelt es sich um überhaupt kein neues Phänomen, weder in den Vereinigten Staaten noch im Vereinigten Königreich. Dass Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse für einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten stimmten, war bereits 1980 in den USA zu beobachten. Dasselbe gilt für die Tories in Großbritannien 1979. Zu dieser Zeit wurden Ronald Reagan und Margaret Thatcher oft als Populisten charakterisiert. Im Fall von Margaret Thatcher hatte dies mit dem Konzept des „Volkskapitalismus“ zu tun (z. B. wurde der Eindruck erweckt, dass durch die Verbreitung von Aktienbesitz und die Privatisierung von städtischen Wohngebäuden die Kluft zwischen denjenigen, die Vermögenswerte besitzen und denjenigen, die für andere arbeiten, beseitigt werden könne).

Weil es sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten liberale Wissenschaftler sind, die die Populismusforschung dominieren, wird in den entsprechenden Diskussionen häufig der liberale oder neoliberale Populismus übersehen. So beklagen sich Liberale (oder Neoliberale) über überbordende Bürokratie und verstecken ihre deregulatorische Agenda hinter allgemeiner – und in Wahrheit populistischer – Kritik an Bürokraten. Ronald Reagan lieferte ein Lehrstück eines solchen deregulatorischen Populismus, der die Befreiung der Bürgerinnen und Bürger versprach, aber im Wesentlichen die soziale Ungleichheit verschärfte.

Die Beispiele aus den USA und Großbritannien der vergangenen 40 Jahre sollten auch deshalb untersucht werden, um zu verstehen, wie die Notwendigkeit, wirtschaftliche Ungleichgewichte (insbesondere Defizite) und den relativen wirtschaftlichen Niedergang zu beseitigen, verschiedene Formen des Nationalismus hervorruft, einschließlich eines wirtschaftlichen Nationalismus. „Make America Great Again“ ist im Wesentlichen ein nationalistischer und kein populistischer Slogan. In ähnlicher Weise wurden die Trennung des Vereinigten Königreichs vom europäischen Festland und der Brexit nicht vom Populismus, sondern vom englischen Nationalismus vorangetrieben. Andererseits muss man alarmistisch sein, wenn es dafür einen Grund gibt. Und in den USA haben diejenigen, die wirklich Alarm schlagen wollen, über den Faschismus geschrieben und betont, dass die Rückkehr zu einigen dunklen Kapiteln der Geschichte alles andere als unmöglich ist.

Im späten 20. Jahrhundert schufen konservative wie progressive Modernisierer ihre jeweils eigenen politischen Crossover-Angebote, die darauf abzielten, den Raum für politische Alternativen zu verkleinern. Der progressive Zentrismus beruhte auf der Kunst der „triangulation“ (es ging darum, aus Elementen der alten Linken und der neuen Rechten eine neue Linke zu schaffen). Dies trug schließlich dazu bei, dass Sozialdemokraten gelegentlich ihren Charakter und ihr Rückgrat verloren – und sie durch verschiedene andere Parteien ersetzt werden konnten.

Der Zentrismus kann für verschiedene politische Richtungen eine taktische Option sein, auch für die Sozialdemokratie. Der Anti-Populismus jedoch verwandelt den „Mainstreamismus“ in eine Ideologie. Er fördert Ignoranz gegenüber der politischen Ökonomie (besonders der Ursachen und Folgen von Ungleichheit) in der Theorie sowie gegenüber der Notwendigkeit, in der politischen Praxis Alternativen anzubieten. Es waren nicht die heutigen Populisten, sondern es war Margaret Thatcher in den frühen achtziger Jahren, die mit dem Satz berühmt wurde, es gebe keine Alternative.

Der Anti-Populismus zieht eine scharfe Trennlinie zwischen Populisten und Nicht-Populisten. Im europäischen Kontext wird so der Eindruck erweckt, als wäre die radikale Rechte ein Problem, nicht aber das Mitte-rechts-Lager, so als ob es keinen Zusammenhang zwischen der Politik der radikalen Rechten und der Politik der Mitte-rechts-Parteien gebe. Er kann auch zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass die Progressiven ein gemeinsames Interesse (oder sogar eine gemeinsame Mission) mit der rechten Mitte und den Neoliberalen daran haben, einen wie auch immer gearteten Mainstream zu verteidigen. Dieser Mainstream wird von den Beobachtern des Populismus meistens nicht näher spezifiziert.

Somit trägt der Anti-Populismus dazu bei, dass Sozialdemokraten zu Verfechtern des Mainstreams (Verteidigern des Status quo ex ante) werden, anstatt sie zu ermutigen, sich an die Arbeit zu machen und eine Alternative zum Neoliberalismus und der rechten Mitte anzubieten. Auf praktischer politischer Ebene öffnet dieser Denkansatz die Tür zum Macronismus (also dem Glauben, dass Progressive sich unter dem breiten, proeuropäischen, aber im Wesentlichen technokratischen und elitären Dach von Emmanuel Macron versammeln sollten, und dass es der Kampf gegen die radikale Rechte erforderlich macht, sich von einer sozialen Agenda zu verabschieden).

Der Mainstreamismus hat daher ein Synonym für „populistisch“ geschaffen, nämlich „illiberal“. Dieses Wort hat einen Mehrwert, da es problematische Fälle in Europa mit nicht- oder halb-europäischen Systemen verbindet, die als hybride angesehen werden, was meistens bedeutet, dass hinter einer demokratischen Fassade ein autoritärer Inhalt existiert. Andererseits können Illiberale wie Victor Orbán das Konzept leicht verdrehen und sogar stolz auf diese Bezeichnung sein, war doch der politische Liberalismus in Europa im vergangenen Jahrhundert eine Minderheitsströmung. Dagegen zu sein ist nicht unbedingt antidemokratisch, es kann sich dabei auch einfach um eine andere Form von Demokratie handeln.

Populismus als Konzept ist nicht irrelevant. Doch sein übermäßiger Gebrauch ist ein Zeichen intellektueller Faulheit.

Populismus als Konzept ist nicht irrelevant. Doch sein übermäßiger Gebrauch ist ein Zeichen intellektueller Faulheit. Für trennscharfe politische Analysen benötigen wir ein breiteres Vokabular; spezifische Phänomene müssen exakt beim Namen genannt werden. Es wurde nie richtig erklärt, warum nationalistische, autoritäre, rechtsextreme und neofaschistische Tendenzen nicht als nationalistisch, autoritär, rechtsextrem oder neofaschistisch, sondern als populistisch bezeichnet werden sollten.

Im europäischen Kontext ist es wichtig, zwischen denjenigen zu unterscheiden, die zum Nationalstaat zurückkehren wollen (hauptsächlich im rechten politischen Lager), und denen, die eine weitere und schnellere Integration und Solidarität als Lösung bevorzugen (hauptsächlich im linken Lager). Im rechten Spektrum müssen wir zwischen Euroskeptikern und Europhoben unterscheiden, und wir müssen anerkennen, dass es auch einen linken Anti-EU-Nationalismus gibt.

Nationalismus kann eskalieren, was immer das Risiko von Gewalt und Konflikten erhöht. Es hilft uns jedoch nicht weiter, alles über einen Kamm zu scheren, wenn wir verstehen wollen, wie ernst die Bedrohungen für Demokratie und Menschenrechte sind. Anti-Populisten wollen oft aufrütteln, aber weil sie anstelle der echten Begriffe Euphemismen benutzen, erzielen sie den gegenteiligen Effekt, indem sie die Wurzeln der heutigen rechtsextremen Tendenzen abtrennen.

Der Blick auf die Substanz und nicht nur auf die Stilebene erfordert es, historische Hintergründe und ökonomische Grundlagen zu berücksichtigen. Weniger Morphologie und mehr politische Ökonomie werden den Progressiven dabei helfen, nationalistische und rechtsextreme Tendenzen besser zu analysieren und wirksamere Strategien gegen Rechtsextremismus zu entwickeln – im Namen von Menschlichkeit, Gleichheit und Solidarität.