In Kasan ist der dreitägige BRICS-Gipfel unter Russlands Vorsitz zu Ende gegangen. Mehr als 200 Veranstaltungen waren übers Jahr in mehreren russischen Städten zur Vorbereitung des Gipfeltreffens abgehalten worden. Die Teilnahme von mehr als 30 Delegationen, 22 Staats- und Regierungschefs und mehreren Vertretern internationaler Organisationen konnte auch UN-GeneralsekretärAntónio Guterres nicht übergehen, der ebenfalls anreiste und sich am Rande zum ersten Mal seit 2022 mit Wladimir Putin traf. In seiner Ansprache sagte er unter anderem, die BRICS könnte eine größere Rolle bei der Stärkung des Multilateralismus für die globale Entwicklung und Sicherheit spielen.
Das Gipfeltreffen bestand aus zwei Teilen: einem Treffen der neun Vollmitglieder der Gruppe und einer BRICS+/Outreach-Sitzung zum Thema „BRICS und der Globale Süden – gemeinsam eine bessere Welt aufbauen“. Offensichtlich waren Russlands Bemühungen darauf gerichtet, den wachsenden ökonomischen und politischen Einfluss dieser Staatengruppe zu demonstrieren und zu zeigen, dass es nach der Aggression gegen die Ukraine keineswegs international isoliert sei.
In der westlichen Welt wird die BRICS-Gruppe überwiegend als eine anti-westliche und anti-US-amerikanische Vereinigung wahrgenommen und BRICS-Aktivitäten werden fast ausnahmslos kritisch kommentiert. Anfänglich wollte es die Gruppe jedoch vermeiden, als Herausforderer des Westens gesehen zu werden. Russland selbst war bis 2014 sowohl BRICS- als auch G8-Mitglied. Ihr Zweck bestand vielmehr in informellen Konsultationen der Mitglieder und nicht in der Formulierung und Umsetzung alternativer, strukturierter politischer Initiativen. In ihren Erklärungen nach den ersten Gipfeltreffen 2009 in Jekaterinburg und 2010 in Brasília unterstrichen die Teilnehmer die zentrale Rolle der G20 bei der Lösung globaler Probleme und bekannten sich nachdrücklich zur multilateralen Diplomatie, wobei die Vereinten Nationen eine zentrale Rolle bei der Bewältigung globaler Herausforderungen spielen sollten. Insgesamt dominierte das Thema der globalen Stabilisierung nach der Weltfinanzkrise von 2007/2008 die Agenda.
Ab 2013/2014 nahmen die geopolitischen Spannungen zwischen Ost und West zu. Mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg wuchsen auch die geo- und die außenpolitischen Ambitionen Chinas. Der Machtantritt Xi Jinpings als Staatspräsident und die Verkündung der Belt and Road Initiative im Jahr 2013 beschleunigten diese Tendenz und resultierten im geoökonomischen Konkurrenzkampf mit den USA, während sich der Konflikt zwischen Russland und dem Westen nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 zuspitzte. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der Agenda der BRICS wider: Die BRICS-Erklärung von 2015 vom Gipfel im russischen Ufa etwa verurteilt völkerrechtswidrige Wirtschaftssanktionen und vertritt die Auffassung, dass kein Staat seine eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer stärken könne. Russland und China fingen an, die BRICS als ein geopolitisches Instrument in ihrer Konfrontation mit dem Westen zu sehen, während für die anderen drei Mitglieder Wirtschaft, Handel und Entwicklung nach wie vor prioritär waren.
Doch spätestens mit der Aufnahme neuer Mitglieder haben sich die Prioritäten Russlands und Chinas auf der einen und Brasiliens, Indiens und Südafrikas auf der anderen Seite angenähert. Beziehungsweise mussten Moskau und Peking ihre hegemoniale Attitüde etwas zurückstellen. Auf dem 15. Gipfeltreffen im südafrikanischen Johannesburg im August 2023 wurden Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate eingeladen, zum 1. Januar 2024 der Vereinigung beizutreten. Allerdings lehnte der neue argentinische Präsident Javier Milei die Mitgliedschaft nach seinem Amtsantritt im Dezember 2023 ab, während Saudi-Arabien sich dafür entschied, vorerst auf eine formale Mitgliedschaft zu verzichten und stattdessen am Format BRICS+/Outreach teilzunehmen.
Die meisten der neuen Mitglieder verfolgen außenpolitisch ein Gleichgewicht zwischen der Partnerschaft mit dem Westen und der Aufrechterhaltung starker Beziehungen zu China und Russland.
Die meisten der neuen Mitglieder, wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Ägypten, verfolgen außenpolitisch ein Gleichgewicht zwischen der Partnerschaft mit dem Westen und der Aufrechterhaltung starker wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu China und Russland. Äthiopien unterhält ebenso enge Beziehungen zu Moskau und Peking, die seine wichtigsten Handelspartner sind, und ist gleichzeitig ein langjähriger Partner der USA. Nach Ansicht des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed ist die Mitgliedschaft seines Landes in der BRICS-Gruppe wichtig, um zur Vertiefung der Süd-Süd-Kooperation beizutragen. Somit ist die BRICS für alle neuen Mitglieder mit Ausnahme Irans zwar eine Alternative zum Westen, aber nicht explizit Ausdruck einer anti-westlichen Politik. Die Mehrheit der BRICS-Mitglieder will eine alternative Plattform haben, die ihren (entwicklungs-)politischen und ökonomischen Interessen und ihrem wachsenden Gewicht in der Welt eine Stimme gibt. Im Rahmen der bestehenden multilateralen Institutionen fühlen sie sich offensichtlich nicht genügend gehört.
Präsident Putin hat vor Beginn des Gipfels in Kasan erklärt, dem Wortlaut des indischen Premierministers Narendra Modi folgend, dass die BRICS eine nicht-westliche, aber keine anti-westliche Gruppe sei. Sicherlich wollte er damit die neuen und potenziell neuen Mitglieder abholen. Auch wenn die Erweiterung letztendlich hinter den ursprünglichen Ankündigungen zurückblieb, hat sie den Bedeutungszuwachs der BRICS-Staatengruppe und eine größere Popularität unter den Ländern des sogenannten Globalen Südens erreichen können: Mehr als 30 Staaten sind seitdem an einer Zusammenarbeit mit der BRICS als Mitglied oder Partner interessiert. Das diesjährige Motto „Stärkung des Multilateralismus für eine gerechte globale Entwicklung und Sicherheit“ spiegelt ausdrücklich die Anliegen des sogenannten Globalen Südens wider, wie globale Gerechtigkeit und Entwicklung.
In dieser Hinsicht ist es eine Ironie des Schicksals, dass der BRICS-Gipfel in Kasan fast zeitgleich mit der Jahrestagung zweier Bretton-Woods-Institutionen – des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – in Washington begann. Zumal die Forderung nach einer Reform der Bretton-Woods-Institutionen, einschließlich einer stärkeren Vertretung der Entwicklungs- und Schwellenländer in Führungspositionen, zu den ersten der insgesamt 134 Punkte des BRICS-Abschlusskommuniqués gehört.
Einhellig fordern die BRICS die Aufhebung unilateral verhängter Wirtschaftssanktionen.
Die BRICS-Mitglieder begrüßten ferner die Initiative der russischen Seite, eine Plattform für den Getreidehandel innerhalb der BRICS zu gründen und sie später auch auf andere landwirtschaftliche Sektoren auszudehnen. Die Verwendung von Landeswährungen bei Finanztransaktionen zwischen den BRICS-Ländern und ihren Handelspartnern wurde von allen befürwortet. Die staatliche russische Entwicklungs- und Investmentgesellschaft VER.RF hat mit China und Südafrika bereits Vereinbarungen über die Gewährung von Kreditlinien in den Landeswährungen unterzeichnet. Außerdem kamen die Mitgliedstaaten überein, die Machbarkeit der Einrichtung einer unabhängigen Zahlungs- und Reservenplattform (BRICS Clear) zu prüfen. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass demnächst ein BRICS-Zahlungssystem eingeführt wird. Einhellig fordern die BRICS die Aufhebung unilateral verhängter Wirtschaftssanktionen.
Auch wenn die meisten BRICS-Mitglieder (bis auf den Iran) Russlands Position zum Krieg gegen die Ukraine nicht teilen und diesen so schnell wie möglich beendet sehen wollen, war dieses Thema für die meisten Gäste des Gipfels nicht prioritär. Aber immerhin heißt es dazu in der Abschlusserklärung: „Wir erinnern an die jeweiligen nationalen Positionen zur Lage in der und um die Ukraine, die in den einschlägigen Gremien, einschließlich des UN-Sicherheitsrats und der UN-Generalversammlung, dargelegt wurden. Wir betonen, dass alle Staaten im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen in ihrer Gesamtheit und ihren Wechselbeziehungen handeln müssen. Wir nehmen mit Genugtuung die entsprechenden Angebote zur Vermittlung zur Kenntnis, um eine friedliche Lösung des Konflikts durch Dialog und Diplomatie zu gewährleisten.“ Viel größere Aufmerksamkeit wird den Situationen im Nahen Osten, im Sudan, in Haiti und Afghanistan gewidmet. Israels Vorgehen wird stark kritisiert, während die Hamas (ohne ausdrücklich genannt zu werden) aufgefordert wird, die noch verbliebenen israelischen Geiseln freizulassen. Die dringende Notwendigkeit eines sofortigen, umfassenden und dauerhaften Waffenstillstands im Gazastreifen wird unterstrichen.
Der Globale Süden ist zwar der Adressat für die meisten BRICS-Initiativen, aber der Osten ist mit Russland, Indien und China der ursprüngliche, starke Kern der Gruppe. Aus Sicht Moskaus war die Etablierung des RIC-Formats 2006 in Sankt Petersburg der Wegbereiter für die BRICS-Austauschplattform, was der russische Präsidentenberater Jurij Uschakow im Briefing zum BRICS-Gipfel auch betonte. Dass sich die Staatsoberhäupter Indiens und Chinas nach einer fünfjährigen Eiszeit wegen eines Grenzkonflikts nun wieder bilateral in Russland treffen, kann Putin als diplomatischen Erfolg verbuchen.
Angesichts des wachsenden globalen Einflusses Indiens ist es nicht auszuschließen, dass Delhi auch in der BRICS eine zunehmend prominente Rolle als Stimme des Globalen Südens spielen will und so das interne Kräfteverhältnis beeinflussen könnte. Die neueste indisch-chinesische Vereinbarung über Militärpatrouillen beider Seiten entlang der Demarkationslinie im Himalaja stellt einen Schritt zur Entschärfung ihres Grenzstreits dar, der zur Verbesserung ihrer bilateralen Beziehungen und folglich zu einer kooperativeren Zusammenarbeit in der BRICS beitragen könnte.
Insgesamt spiegelt der Gipfel die in der Konzeption von 2023 verankerten Prioritäten der russischen Außenpolitik wider.
Das Gewicht des Ostens drückt sich auch in der veröffentlichten Liste der Partnerländer der Gruppe aus – einer neuen Kategorie, die es den Ländern erlaubt, mit der BRICS zusammenzuarbeiten, ohne gleich Mitglied zu werden. Im Juni 2024 wurde bekannt, dass die BRICS-Länder mit überwältigender Mehrheit beschlossen haben, vorerst keine neuen Vollmitglieder aufzunehmen. Zu den neuen Partnerländern gehören: Algerien, Belarus, Bolivien, Kuba, Indonesien, Kasachstan, Malaysia, Nigeria, Thailand, die Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam.
Insgesamt spiegelt der Gipfel die in der Konzeption von 2023 verankerten Prioritäten der russischen Außenpolitik wider: Aufbau der Großen Eurasischen Partnerschaft und Ausbau der Beziehungen zum Globalen Süden. Es ist kein Zufall, dass Russland das Treffen in Kasan ausgerichtet hat. Die in Europa liegende Hauptstadt der Republik Tatarstan ist seit 2009 Standort des Forums „Russland – Islamische Welt“. Die Wahl des Ausrichtungsortes ist eine Geste gegenüber dem asiatischen Kontinent und der islamischen Welt, wo Russland auf wichtige Verbündeten zählen kann.
„Forget the BRICS“ titelten 2014 sowohl The Guardian als auch das Time Magazine unisono. Zehn Jahre später hieß es, die BRICS sei eine „geopolitische Herausforderung“. Zweifellos ist eine Dynamik in der Entwicklung der BRICS zu verzeichnen, sowohl inhaltlich als auch institutionell. Als gemeinsamer Nenner nach dem Gipfel in Kasan bleibt festzuhalten, dass bei allen Unterschieden und Differenzen zwischen den Mitgliedern und Partnern die BRICS eine Koalition von größtenteils aufstrebenden Mittelmächten ist, die die westliche Vormacht vor allem in der globalen Handels- und Finanzarchitektur überwinden und eine größere Stimmendiversität in der Weltpolitik erreichen wollen.