Vor 26 Jahren verabschiedeten 120 Staaten das Statut von Rom, welches die Rechtsgrundlage für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) schuf, der vier Jahre später seine Tätigkeit aufnahm. Die Errichtung des ersten universalen und permanenten internationalen Strafgerichtshofs war ein historischer Meilenstein in der Entwicklung des internationalen Völkerstrafrechts. Seit 2002 befasst sich der IStGH mit den schwersten Verbrechen, „welche die internationale Gemeinschaft als Ganze berühren“, wie es in Artikel 5 des Römer Statuts heißt. Zu diesen Verbrechen gehören Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Bisher wurden 32 Gerichtsfälle vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt. Insgesamt 124 Staaten sind mittlerweile Vertragsstaaten des IStGH, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie zahlreiche Staaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
Doch trotz der bedeutenden Rolle des IStGH bei der Entwicklung und Stärkung internationaler Rechtsnormen ist die Euphorie der 1990er Jahre inzwischen einer deutlichen Ernüchterung gewichen. Eine wesentliche Kritik ist, dass der IStGH selbst über keine Zwangsmittel verfügt, um Staaten zur Umsetzung seiner Urteile zu zwingen. Die Funktionsfähigkeit des Strafgerichtshofs hängt folglich stark von der Kooperation der Mitgliedstaaten ab. Zudem wird dem IStGH vorgeworfen, politisch voreingenommen zu sein und sich fast ausschließlich auf Fälle auf dem afrikanischen Kontinent zu konzentrieren. Tatsächlich betraf ein Großteil der bisher behandelten Fälle vor allem afrikanische Staaten, obwohl schwere Verbrechen auch in anderen Teilen der Welt begangen wurden. Besonders im Globalen Süden hat diese Wahrnehmung zu einer wachsenden Skepsis gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof geführt. Hinzu kommt, dass einige der mächtigsten Staaten der Welt, wie die USA, Russland oder China das Römische Statut nach wie vor nicht ratifiziert haben. Dies untergräbt nicht nur die universelle Gültigkeit und Akzeptanz des Gerichts, sondern verstärkt auch den Eindruck, dass der IStGH lediglich ein Instrument der Großmächte zur Durchsetzung ihrer machtpolitischen Interessen ist.
Dieser Vorwurf an den IStGH wiegt umso schwerer, da er sich nicht allein an den Internationalen Strafgerichtshof richtet, sondern an die asymmetrischen Machtverhältnisse der liberalen Ordnung im Ganzen. Ein zentraler Kritikpunkt des Globalen Südens lautet, dass internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds nach wie vor die Machtverhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs widerspiegeln und von westlichen Ländern dominiert werden. So ist beispielsweise weder Indien als bevölkerungsreichstes Land der Erde noch ein einziger Staat aus Afrika und Lateinamerika als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz internationaler Institutionen bereits seit Jahren abnehmen, so dass man inzwischen durchaus von einer existentiellen Krise der liberalen Ordnung sprechen kann. Dies gilt nicht nur für den IStGH, sondern auch für die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation, die OSZE oder die Weltklimakonferenzen.
Doch gerade in einer Zeit, in der internationale Institutionen immer häufiger blockiert sind oder infrage gestellt werden, hat sich der IStGH als einer der wenigen Hoffnungsschimmer und als wichtiger Eckpfeiler der liberalen Ordnung erwiesen. So hat der IStGH am 17. März 2023 wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin erlassen. Vor nur wenigen Wochen folgten Haftbefehle gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow. Dies verdeutlicht: Selbst eine Atommacht und ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats muss sich letztlich vor dem Völkerrecht verantworten. Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs war nicht nur von hoher symbolischer Tragweite, sondern hatte auch direkte praktische Konsequenzen: So konnte Präsident Putin beispielsweise aufgrund dieser Entscheidung nicht persönlich zum 15. Gipfeltreffen der BRICS in Johannesburg am 9. September 2023 reisen, da ihm sonst eine Verhaftung durch die südafrikanischen Behörden gedroht hätte.
Besonders Deutschland war stets ein starker Verfechter des Internationalen Strafgerichtshofs.
Am 20. Mai 2024, beantragte der Chefankläger des IStGH Khan zudem im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza einen Haftbefehl gegen drei hochrangige Mitglieder der Hamas sowie gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant. Die Haftbefehle gegen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant haben in einigen westlichen Ländern zum Teil heftige Kritik hervorgerufen. Es war natürlich bedauerlich und unangemessen, dass die Anträge auf Haftbefehl gegen die Mitglieder der Hamas und der israelischen Regierung gleichzeitig gestellt wurden. Gleichwohl habe ich bereits damals in einem Interview betont, dass es trotzdem klug ist, sich einer voreiligen Kommentierung zu enthalten. Deutschland und die westlichen Länder sollten eine vorurteilsfreie und unabhängige Prüfung der Vorwürfe abwarten. Sollten westliche Staaten versuchen, Einfluss auf die Gerichtsentscheidung auszuüben, würde dies sowohl unsere eigene als auch die Legitimität des Internationalen Strafgerichtshofs in künftigen Fällen erheblich untergraben.
Der Chefankläger hat zudem durch seine Anträge auf Haftbefehl gegen israelische Regierungsmitglieder deutlich gemacht, dass sich auch westliche Demokratien der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht entziehen können – entgegen dem Vorwurf vieler Länder des Globalen Südens. Ob es letzten Endes tatsächlich zu einem Haftbefehl kommt, muss nun durch ein unabhängiges Richterkollegium am Strafgerichtshof vorurteilsfrei entschieden werden. Doch das übergeordnete Interesse an der Integrität und Legitimität des Internationalen Strafgerichtshofs wiegt letztlich schwerer als eine nachvollziehbare politische Kritik am Vorgehen des Chefanklägers des IStGH.
Gerade in Zeiten, in denen internationale Institutionen und Regelwerke sowohl von autoritären Mächten von außen als auch anti-demokratischen Kräften im Inneren bedroht werden, sollte die demokratische Welt alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Institutionen der liberalen Ordnung zu schützen und zu reformieren. Besonders Deutschland war stets ein starker Verfechter des Internationalen Strafgerichtshofs und ist nach Japan der zweitgrößte Beitragszahler. Die Bundesregierung sollte daher aktiv auf eine Ausweitung und Weiterentwicklung des Statuts hinarbeiten. Erst am 6. Juni dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag einen wegweisenden Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts angenommen. Das Gesetz, das am 5. Juli auch vom Bundesrat beschlossen wurde, zielt darauf ab, das Völkerstrafgesetzbuch zu verschärfen und an das inzwischen veränderte Römische Statut anzugleichen. Ziel ist es, bestehende Straflücken im Völkerstrafgesetzbuch zu schließen und die Rechte der Opfer zu stärken, insbesondere von Frauen und queeren Menschen, sowie die internationale Zugänglichkeit von Völkerstrafverfahren zu verbessern.
Es ist nicht zu erwarten, dass die Großmächte angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in absehbarer Zeit dem Römischen Statut beitreten werden.
Besonders die SPD-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Verfahren erfolgreich durchgesetzt, dass die sogenannte „funktionelle Immunität“ einer Verfolgung von Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht im Wege steht. Das ist nun gesetzlich abgesichert. Dadurch wird sichergestellt, dass auch Amts- und Hoheitsträger für die Begehung von Völkerstraftaten letztlich zur Rechenschaft gezogen werden. Noch im November vergangenen Jahres hatte das Auswärtige Amt gegenüber der International Law Commission zur Frage der Immunitätsausnahme bei Völkerstraftaten Stellung genommen und lediglich auf eine sich entwickelnde Regel des Völkergewohnheitsrechts verwiesen. Mit der Änderung im Ausschuss hat der Deutsche Bundestag nun ein bedeutendes Zeichen für die Stärkung der regelbasierten Ordnung und Weiterentwicklung des internationalen Völkerrechts gesetzt. Die Überprüfungskonferenz des Römisches Statuts im kommenden Jahr bietet eine weitere Möglichkeit, die Zuständigkeit des IStGH insbesondere im Hinblick auf das Verbrechen der Aggression zu überprüfen und zu erweitern.
Gleichwohl sollte man auch in dieser Frage Realist bleiben: Die Welt hat sich seit der Hochphase des „Liberalismus“ und dem „unipolaren Moment“, in denen die USA als weitgehend alleinige Ordnungsmacht agieren konnte, fundamental gewandelt. Wir befinden uns auf dem Weg hin zu einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren. Gleichzeitig nimmt die strategische Rivalität zwischen China und Russland einerseits und dem Westen andererseits stetig zu. Der Wettbewerb zwischen den Großmächten und die wachsenden geopolitischen Spannungen werden – ähnlich wie im Kalten Krieg – die Funktionsfähigkeit und die Entwicklung internationaler Organisationen maßgeblich prägen. Wir sollten daher keine Illusionen hegen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Großmächte angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in absehbarer Zeit dem Römischen Statut beitreten werden. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass Staaten immer wieder versuchen werden, den Internationalen Strafgerichtshof zu ihrem eigenen machtpolitischen Vorteil zu missbrauchen.
Doch gerade eine multipolare Welt des Wettbewerbs der Großmächte braucht dringend ein verbindliches und gerechtes Regelwerk, in dem nicht das „Recht des Stärkeren“, sondern die „Stärke des Rechts“ gilt. Wir müssen deshalb eine multipolare Ordnung schaffen, die auf dem Völkerrecht und auf regelbasierten Institutionen basiert. Dazu gehören eine ständige Verrechtlichung der internationalen Politik, internationale Schieds- und Strafgerichtsbarkeit sowie vertragsbasierte Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wir brauchen wieder wirksame und verbindliche Regeln und Mechanismen der Schieds- und Strafgerichtsbarkeit und der Konfliktregelung. Der IStGH, aber auch andere internationale Gerichtshöfe wie beispielsweise der Internationale Gerichtshof (IGH), der Internationale Schiedsgerichtshof, der Internationale Seegerichtshof (ISGH) oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben hierfür in den vergangenen Jahrzehnten Unverzichtbares geleistet. Besonders in Zeiten des Großmächtewettbewerbs und geopolitischer Spannungen dürfen wir die Verrechtlichung internationaler Politik nicht vernachlässigen. Auf dem Spiel steht letztlich nicht weniger als die Zukunft der liberalen Ordnung.