Das atemberaubende Comeback von Donald Trump als Präsident hat die Verbündeten der USA ordentlich durcheinandergewirbelt. Hinter ihren besonnenen Glückwunschadressen spürt man deutlich die Angst, Washington könnte sie bald nur noch wie austauschbare Schachfiguren auf dem globalen Spielbrett behandeln. Das wäre in der Tat ein bedeutender Umbruch. In der Amtszeit von Präsident Joe Biden hatten die Vereinigten Staaten große Mittel zur Verstärkung ihrer Bündnisse und Partnerschaften eingesetzt, um der verschärften Konkurrenz mit China und Russlands Invasion in der Ukraine zu begegnen.
Vieles spricht dafür, dass ihnen das gelungen ist. Die von den USA geführte NATO hat energisch alle Kräfte gegen Russland gebündelt. Der Handelskrieg der USA gegen China findet inzwischen ein Echo in Europa. Indem Japan die Verteidigungsausgaben verdoppelt, sich dem Sanktionsregime gegen Russland angeschlossen und seine Beziehungen zu Südkorea gestärkt hat, ist es den USA näher gerückt. Die Philippinen beginnen nach einer Zeit der Entfremdung, eine gemeinsame Front gegen China zu schmieden. Indien bleibt nach wie vor ein enger Partner. „Wir sind stärker denn je“, konnte sich Joe Biden bei der 75-Jahre-Feier der NATO in diesem Sommer voller Überzeugung rühmen.
Die Verbündeten und Partner der USA versuchen, sich nach allen Seiten abzusichern.
Doch bei näherer Betrachtung bemerkt man auch einen anderen Trend hinter den Kulissen. Die Verbündeten und Partner der USA versuchen nämlich, sich nach allen Seiten abzusichern, und weitere Abkommen mit Ländern außerhalb des westlichen Einflussbereichs zu schließen. Diese am stärksten im Globalen Süden sichtbare Entwicklung wurde weniger von einzelnen Staatschefs als von der Struktur des internationalen Systems selbst befördert. In einer Welt, die immer stärker von vielfachen Bündnissen und Transaktionalismus bestimmt ist, können sich die USA nicht länger auf die Loyalität ihrer Freunde verlassen. Diese Entwicklung ist längst im Gange, und sie hat nur wenig mit Trump zu tun.
Bereits seit einigen Jahren sind mit der Türkei und Thailand zwei Schwellenländer von ihrem großen Bündnispartner abgerückt und bewegen sich fortan im Dreieck zwischen den USA und deren Rivalen. Das langjährige NATO-Mitglied Türkei war im syrischen Bürgerkrieg eindeutiger Gegner Russlands und verurteilte aufs Schärfste den russischen Einmarsch in der Ukraine. Dennoch schloss sich die Türkei nicht dem US-geführten Sanktionsregime an, sondern vertiefte ihre Handelsbeziehungen und die Energiepartnerschaft mit Moskau. Die türkische Regierung vermochte gar, Russland und die Ukraine zur Unterzeichnung eines Abkommens über den Export von ukrainischem Getreide auf die Weltmärkte zu bewegen, das bis letzten Sommer Gültigkeit besaß.
In Thailand wurden die Anstrengungen beschleunigt, sich stärker an China zu binden. Da es keine Territorialstreitigkeiten mit Peking gibt, das Land sich aber mit den Auswirkungen des Bürgerkriegs im benachbarten Myanmar konfrontiert sieht, verstärkte Thailand die wirtschaftlichen Beziehungen zu China, führte mehr gemeinsame Militärmanöver durch und kauft inzwischen über 40 Prozent seiner Waffen dort. Als wollten sie ihre Unabhängigkeit von den USA unter Beweis stellen, schlossen sich die Türkei und Thailand in diesem Jahr als Partnerstaaten der nichtwestlichen BRICS-Gruppe an, die von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika angeführt wird.
Das Vorgehen der beiden Staaten bedeutet jedoch nicht, dass sie antiamerikanisch oder antiwestlich eingestellt sind. Thailand hat sein jährliches gemeinsames Militärmanöver mit den US-Truppen weiter ausgebaut und eine Mitgliedschaft in der OECD beantragt. Die Türkei wiederum kauft US-Kampfflugzeuge und erklärt, man wäre nicht in die BRICS-Gruppe gegangen, hätte man eine Chance auf den EU-Beitritt gehabt. Wer sich absichern will, sucht in allen Richtungen.
Der BRICS-Gipfel im letzten Monat war für Indien ein sicherer Raum, um das erste ernsthafte Treffen der Staatschefs Narendra Modi und Xi Jinping seit fünf Jahren zu ermöglichen. Mit dem Abzug der Truppen an zwei Grenzpunkten im Himalaya könnte Indien den Beginn einer Entspannung mit China einläuten, die dem Subkontinent auch größeren Spielraum im Verhältnis zum amerikanischen Verbündeten verschaffen würde. Die Partnerschaft mit den USA wird garantiert weiterhin stabil bleiben. Sie wird jedoch angesichts von Indiens fortgesetzten Beziehungen zu Russland und der Machtübernahme einer US-freundlichen, aber indienkritischen Regierung in Bangladesch auf die Probe gestellt.
Selbst im Herzen des US-Bündnissystems gibt es Anzeichen, dass die Tendenz zur Absicherung nach allen Seiten wächst.
Selbst im Herzen des US-Bündnissystems gibt es Anzeichen, dass die Tendenz zur Absicherung nach allen Seiten wächst. Der Vorschlag des japanischen Premierministers Shigeru Ishiba zur Gründung einer „asiatischen NATO“ als Gegengewicht zu China klingt zunächst wie ein Bekenntnis zur Pax Americana. Doch Ishiba will auch die Asymmetrie im Verhältnis zu den USA beseitigen, mehr Mitspracherecht für Tokio erwirken und China in die regionale Kooperation einbeziehen, etwa beim Katastrophenschutz. Die Niederlage der regierenden Liberaldemokratischen Partei bei den jüngsten Parlamentswahlen wird allerdings die ehrgeizigen Ziele der Regierung zur Erhöhung der Militärausgaben torpedieren und den von den USA gewünschten Fokus auf den Ausschluss Chinas aufweichen.
In Europa konnten in der Zwischenzeit populistische Parteien ungeahnte Erfolge erzielen. Im Allgemeinen stellen sie die US-Politik gegenüber der Ukraine infrage und sind oft nicht gewillt, die NATO – wie in den USA üblich – als heilige Kuh zu betrachten. In Italien zeigt Giorgia Melonis Regierung, dass der Aufstieg solcher Kräfte das Bündnis nicht unbedingt schwächen muss. Doch im Endergebnis wird Europa angesichts der neuen Politik stärker unter Druck gesetzt, die amerikanischen Prioritäten im Verhältnis zu Russland und möglicherweise auch zu China zu übernehmen. Viktor Orbáns Ungarn und die Slowakei unter Robert Fico pflegen bereits Beziehungen zu allen Seiten. Dieses Modell könnte in der nächsten Zeit durchaus weitere Nachahmer in Europa finden.
Die Amerikaner sollten sich auf weitere Abweichler einstellen.
Warum ist die Absicherung nach allen Seiten derzeit so attraktiv? Ihre Vorreiter finden sich in den ehemals blockfreien Staaten im Globalen Süden. Dort nutzten Mittel- und schwächere Mächte vielfältige Partnerschaften, um sich in einem feindseligen internationalen System durchsetzen zu können. Doch es gibt auch zwei neue Gründe, warum diese Strategie gerade jetzt attraktiv scheint: zum einen die Unsicherheit der künftigen Weltordnung, zum anderen der Eindruck, dass die unipolare Welt, in der die USA drei Jahrzehnte lang den Globus dominierten, im Verschwinden begriffen ist. Unter diesen Bedingungen ist es sinnvoll, sich ernsthaft auf die Rivalen des Hegemons einzulassen.
Diese Tendenz zur Absicherung ist allerdings eher neu und längst noch kein beherrschender Trend unter den Verbündeten und Sicherheitspartnern der USA. Doch die Amerikaner sollten sich auf weitere Abweichler einstellen. Statt auf Ausschluss und Abzug könnte Washington auch auf eine andere mathematische Operation setzen: auf Addition. Dazu müsste man allerdings den Glauben an die Einzigartigkeit Amerikas aufgeben – der die Vereinigten Staaten als Leuchtfeuer der Zivilisation sieht, die jedwede Barbarei bekämpft – und eine eigene Absicherungsstrategie entwickeln.
Transaktionales Handeln fällt Trump leicht. Doch um die USA von ihrer unhinterfragten Vorherrschaft zu neuem Absicherungsdenken zu bewegen, muss der gewählte Präsident seine Impulsivität überwinden und einen Plan fassen, wie diese vielfältigen Bündnisse zum Nutzen Amerikas gestaltet werden können. Das ist eine hohe Hürde, aber die sich rasch wandelnde Welt verlangt auch einen hohen Einsatz.
Dieser Artikel wurde zuerst in The New York Times veröffentlicht.
Aus dem Englischen von Sabine Jainski