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Die Verringerung der Ungleichheit ist zwar offizielles Ziel der internationalen Gemeinschaft geworden, doch die Einkommensunterschiede haben sich noch vergrößert. Dieser Trend wird allgemeinhin auf Handelsliberalisierung und technologische Fortschritte zurückgeführt, die die Verhandlungsmacht der Arbeit gegenüber dem Kapital geschwächt haben. Das hat in vielen Ländern einen politischen Rückschlag verursacht, wobei die Wähler ihre wirtschaftliche Notlage eher auf „die Anderen” als auf die nationale Politik schieben. Und solche Gefühle verschärfen die sozialen Spannungen natürlich nur noch, ohne die eigentlichen Ursachen für die Zunahme der Ungleichheit anzugehen.

In einem wichtigen neuen Artikel argumentiert der Ökonom José Gabriel Palma von der University of Cambridge, nationale Einkommensverteilungen seien nicht das Ergebnis unpersönlicher globaler Kräfte. Sie würden vielmehr von politischen Entscheidungen beeinflusst, die die Kontroll- und Lobbymacht der Reichen widerspiegeln. Palma beschreibt insbesondere die in jüngster Zeit deutlich gestiegene Ungleichheit in den OECD-Ländern, den ehemaligen sozialistischen Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas sowie Chinas und Indiens als einen Prozess des „umgekehrten Aufholens”. Diese Länder, so Palma, ähneln zunehmend vielen ungleichen lateinamerikanischen Volkswirtschaften, wobei zinsorientierte Eliten die meisten Früchte des Wachstums ernten.

In seiner früheren Arbeit zeigte Palma, wie der Anteil der Einkommen im mittleren und mittleren bis oberen Bereich am Gesamteinkommen in den meisten Ländern im Laufe der Zeit bemerkenswert stabil geblieben ist. Er macht etwa die Hälfte aus. Veränderungen in der Gesamteinkommensverteilung resultierten weitgehend aus Veränderungen der jeweiligen Anteile der oberen 10 Prozent und der unteren 40 Prozent der Bevölkerung (das Verhältnis zwischen diesen Anteilen wird nun als „Palma Ratio” bezeichnet).

Es ist ein Irrglaube, dass steigende Pro-Kopf-Einkommen in Ländern mit mittlerem Einkommen auf eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards hindeuten.

Die großen Unterschiede in der Ungleichheit zwischen den Ländern, insbesondere zwischen den Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen, sind also im Wesentlichen das Ergebnis eines Kampfes um etwa die Hälfte des Nationaleinkommens. Daran ist die Hälfte der Bevölkerung beteiligt. Nur in Fällen extremer Ungleichheit (wie in Südafrika) gelang es den obersten 10 Prozent, auch in den Einkommensanteil der Mitte einzugreifen.

Es ist daher ein Irrglaube anzunehmen, steigende Pro-Kopf-Einkommen in Ländern mit mittlerem Einkommen deuteten auf eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards hin. In ungleichen Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen, wie beispielsweise in Lateinamerika, liegen die Einkommen der obersten10 Prozent bereits auf dem Niveau der reichen Länder. Die Einkommen der unteren 40 Prozent liegen dagegen näher am afrikanischen Durchschnitt südlich der Sahelzone.

Treibende Kraft hinter diesen Trends ist die Marktungleichheit, also die Einkommensverteilung vor Steuern und staatlichen Transfers. Die meisten OECD-Länder versuchen beständig, dies durch das Steuer- und Transfersystem abzumildern, was zu einer deutlich geringeren Ungleichheit beim verfügbaren Einkommen führt.

Aber die Fiskalpolitik ist ein komplizierter und zunehmend ineffizienter Weg, um Ungleichheiten zu verringern. Sie stützt sich heute weniger auf eine progressive Besteuerung als vielmehr auf Transfers, die die Staatsverschuldung erhöhen. So machen beispielsweise die Ausgaben der Regierungen der Europäischen Union für Sozialversicherung, Gesundheitsfürsorge und Bildung heute zwei Drittel der öffentlichen Ausgaben aus. Diese aber werden durch eine Steuerpolitik finanziert, die die reichen und großen Unternehmen entlastet, während sie die Mittelschicht stark belastet und zu einer Zunahme der staatlichen Verschuldung führt. Wie Palma es ausdrückt, „ziehen es Unternehmen und die sehr Reichen in ihrem neuen Steuerstatus vor, ihre Steuern und Gehälter teilweise zu zahlen und teilweise zu verleihen.”

Das zusätzliche Einkommen der Reichen hat nicht zu höheren Investitionsraten geführt. Stattdessen begnügen sich die Reichen damit, die tiefhängenden Früchte zu pflücken: Mietausschüttung, Marktmanipulation oder Lobbyarbeit.

In den reichen Ländern haben die Gruppen mit mittlerem Einkommen ihren Anteil am Volkseinkommen weitgehend gehalten. Aber ihr Lebensstandard ist aufgrund der steigenden Kosten für lebenswichtige Güter und Dienstleistungen (wie Wohnen, Gesundheitsversorgung und Bildung), sinkender Realrenten, regressiver Steuern und steigender persönlicher Schulden gesunken. Die meisten Schwellenländer führen unterdessen keine bedeutenden fiskalischen Maßnahmen zur Verringerung der Marktungleichheit durch.

Die dramatische Zunahme der Marktungleichheit spiegelt die Fähigkeit der obersten 10 Prozent wider, eine höhere – und von anderen erzeugte – Wertschöpfung abzuschöpfen und von bestehenden Vermögenswerten zu profitieren, darunter auch solche, die öffentliches Eigentum sein sollten, wie beispielsweise natürliche Ressourcen. Konkret ist diese Wertsteigerung das Ergebnis einer Politik, für die sich die Reichen aktiv eingesetzt haben: Privatisierung; Deregulierung von Aktienrückkäufen, die die Aktienkurse künstlich in die Höhe treiben; Patentgesetze, die Medikamente viel teurer machen; Reduzierung oder Abschaffung der obersten Grenzsteuersätze; und vieles mehr.

All dieses zusätzliche Einkommen für die Reichen hat nicht zu höheren Investitionsraten in der OECD oder in Ländern mit mittlerem Einkommen geführt. Stattdessen begnügen sich die Reichen damit, die tiefhängenden Früchte zu pflücken: Mietausschüttung, Marktmanipulation oder Lobbyarbeit. Hohe Gewinne koexistieren daher mit geringen Investitionen und zunehmender Marktungleichheit in einem sich selbst verstärkenden Kreislauf. Dieser Trend erhöht nicht nur das Risiko von wirtschaftlicher Stagnation und Marktversagen. Die politischen Veränderungen auf der ganzen Welt legen nahe, dass er zu einer tiefgreifenden Bedrohung für die Demokratie geworden ist.

Wenn dieser gefährliche Status Quo verändert werden soll, müssen die Regierungen ihre Steuer- und Regulierungsbefugnisse nutzen, um mehr privates Kapital in die Produktionsausgaben zu lenken und die durch progressive Besteuerung finanzierten öffentlichen Investitionen im Sinne eines Global Green New Deal zu erhöhen. Wenn es der Politik nicht gelingt, eine dem Problem angemessene Antwort zu geben, werden die Reichen weiterhin reicher und die Armen ärmer werden, und das schneller denn je. Wer wird das Problem dann lösen?

Aus dem Englischen von Eva Göllner

(c) Project Syndicate