Der Sturz des Assad-Regimes hat die alawitische Bevölkerung Syriens in eine äußerst unsichere Lage versetzt. Seit dem Machtwechsel im Dezember 2024 mehren sich Berichte über gezielte Angriffe und Vergeltungsaktionen gegen Alawiten. Diese Gewalt ist Ausdruck einer tief verwurzelten Stigmatisierung, die durch das Narrativ eines „alawitischen Regimes“ jahrzehntelang geschürt wurde. Anstatt weiter in Vergeltung und Unterdrückung zu verharren, braucht Syrien einen demokratischen Neubeginn, der die Rechte aller Minderheiten schützt und garantiert. Nur so kann das Land eine friedliche und demokratische Zukunft finden.
Die Verletzlichkeit der alawitischen Bevölkerung, sowohl in Syrien als auch im Nahen Osten, ist jedoch kein neues Phänomen. Historisch betrachtet wurzelt sie in der Ablehnung von Reformen und von abweichenden Glaubensrichtungen durch den orthodox-sunnitischen Islam. Es ist daher kein Zufall, dass sich viele nicht-sunnitisch-orthodoxe muslimische Gruppen wie Alawiten, Drusen und Jesiden – aus Angst vor Verfolgung – traditionell in schwer zugänglichen Gebirgsregionen angesiedelt haben.
Es wird suggeriert, dass die Alawiten unter der Assad-Familie allein und absolut über Syrien geherrscht hätten.
Diese Angst wurde im modernen syrischen Kontext seit den 1970er Jahren durch ein von syrischen Islamisten propagiertes Narrativ verstärkt. Dieses weit verbreitete verzerrte Narrativ basiert auf zwei zentralen Säulen: einer religiösen und einer politischen. Erstens wird behauptet, dass die Alawiten keine Muslime seien. Zweitens wird suggeriert, dass die Alawiten unter der Assad-Familie allein und absolut über Syrien geherrscht hätten.
Zwar ist es zutreffend, dass Alawiten in einigen staatlichen Institutionen – insbesondere im Geheimdienst (al-Mukhabarat) – stark vertreten waren. Ebenso ist es kein Geheimnis, dass das Regime die Ängste der Alawiten und anderer Minderheiten zur Machterhaltung instrumentalisiert hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Regime ausschließlich aus Alawiten oder anderen Minderheiten bestanden hätte. Vielmehr verfolgte es eine Klientelpolitik, die sich nicht strikt an konfessionellen Linien orientierte, sondern verschiedene gesellschaftliche Gruppen einband, die wirtschaftliche und soziale Vorteile suchten. Diese Patronage-Politik ist tief in den sozioökonomischen Entwicklungen Syriens des späten 19. und 20. Jahrhunderts verwurzelt.
Die syrische Staatlichkeit ist eine vergleichsweise junge Entwicklung, geprägt von sozialen und politischen Konflikten. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft 1918 versuchten lokale Eliten, eine stabile politische Ordnung zu etablieren, die jedoch durch die französische Kolonialherrschaft unterbrochen wurde. Die französische „Teile und Herrsche“-Strategie verschärfte konfessionelle Spannungen. Die alawitische Bevölkerung gehörte zu den am meisten benachteiligten sozialen Gruppen. Viele Alawiten profitierten jedoch von der kostenlosen Bildung während der französischen Mandatszeit und stiegen in staatlichen Institutionen auf. Der Aufstieg von Hafiz al-Assad, der vom einfachen Offizier zum Diktator wurde, ist ein Beispiel für diesen Prozess. Nach seiner Machtübernahme in den 1970er Jahren erhielten Alawiten in strategisch wichtigen Bereichen – insbesondere im Sicherheitsapparat und teilweise in der Armee – eine stärkere Stellung.
Dennoch blieb die Armee keineswegs rein alawitisch. Sie wurde zum Schlachtfeld zwischen dem Regime und den Muslimbrüdern während des syrischen Aufstands von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre. Die Muslimbrüder nutzten eine alawitenfeindliche Rhetorik, um Anhänger zu mobilisieren, und verübten gezielte Anschläge auf alawitische Offiziere. Das Narrativ eines „alawitischen Regimes“ wurde mit Beginn des Aufstands 2011 weiter gefestigt. Die Gewalt des Regimes sowie die Anwesenheit transnationaler islamistischer und dschihadistischer Kämpfer in den ersten Jahren des Konflikts führten zu einer Eskalation der Gewalt. Zahlreiche ideologisch motivierte Angriffe auf alawitische Dörfer sowie Massaker an Zivilisten sind dokumentiert (u. a. durch Human Rights Watch). Das Regime nutzte diese religiösen Spaltungen, um Alawiten und andere Minderheiten enger an sich zu binden. So gerieten die Alawiten zwischen die Fronten eines brutalen Regimes und einer ebenso grausamen dschihadistischen Bedrohung.
Zu Beginn der Proteste gegen das Regime im Jahr 2011 hielten sich Minderheiten sowie die sunnitische Mittelklasse zurück. Mit der Militarisierung des Konflikts kämpften jedoch viele junge Menschen aus Minderheiten aufseiten des Regimes gegen eine Allianz aus rebellischen Islamisten und transnationalen Dschihadisten. Dieses Bündnis, heute bekannt als Hayat Tahrir al-Sham (HTS), übernahm nach dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 die Macht in Damaskus.
Vor diesem Hintergrund fürchten viele Minderheiten nun um ihr Leben. Die HTS versprach offiziell Schutz und Gleichbehandlung, betonte wiederholt, dass Syrien sich keine Gewalt leisten könne und niemand Rache fürchten solle. Doch diese Versprechen finden an der eigenen Basis kaum Gehör. Seit dem 8. Dezember kommt es vermehrt zu Übergriffen auf Alawiten. Die jahrzehntelange Stigmatisierung der Alawiten wirkt nach wie vor auf eine islamistische und dschihadistische Basis ein. Zahlreiche Berichte und Aufnahmen zeigen, wie bewaffnete Kämpfer in der syrischen Küstenregion Menschen beleidigen. Journalisten, die mit den Bewohnern sprachen, berichten von allgegenwärtiger Angst. Seit dem Sturz des Regimes gibt es eine anhaltende militärische Präsenz, begleitet von Gräueltaten. Akademiker, Beamte und prominente religiöse Persönlichkeiten werden entführt oder tot aufgefunden.
Ein freies Syrien kann nur entstehen, wenn seine Bürger gemeinsam gegen Ungerechtigkeit und für Demokratie kämpfen.
Die zunehmende Gewalt erreichte am 23. Januar 2025 einen Höhepunkt, als eine Operation zur Verfolgung der „Regime-Überreste“ in Homs begann. Die in England ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete am 25. Januar von dramatisch zunehmenden Gewalttaten gegen Alawiten, Schiiten und Murschiden. Die HTS weist diese Vorwürfe zurück und argumentiert, dass es sich um Einzelfälle handle. Kritiker hingegen sehen darin einen Versuch, das wahre Ausmaß der Verfolgung zu verschleiern. Ein demokratischer Neustart ist dringend notwendig. Jede ernsthafte Vergangenheitsaufarbeitung müsste von einer demokratische Regierung angestoßen werden, die Rechtsstaatlichkeit garantiert. Eine selektive Gerechtigkeit, die nur das gestürzte Regime bestraft, während HTS-Verbrechen ungestraft bleiben, würde die Versöhnung behindern. Ein freies Syrien kann nur entstehen, wenn seine Bürger gemeinsam gegen Ungerechtigkeit kämpfen und für eine Zukunft eintreten, in der Recht und Schutz für alle gelten.