Die Abstimmung am 27. Oktober war eindeutig. 120 Staaten votierten in der UN-Generalversammlung für eine von Jordanien eingebrachte Resolution für eine sofortige und dauerhafte Waffenruhe. Nur 14 Staaten stimmten dagegen, darunter Israel und die Vereinigten Staaten. Dass die Bundesrepublik sich mit 44 anderen enthielt, obwohl die verbreitete Erklärung eher eine Ablehnung nahelegte, mag vor allem der Überlegung geschuldet sein, die Gesprächskanäle zu all jenen, die Israels Krieg gegen den Gazastreifen kritisch sehen, nicht abreißen zu lassen.

Die in Deutschland verbreitete Sicht, Israel freie Hand für jegliches Vorgehen gegen die Hamas zu geben, ist im globalen Maßstab jedenfalls eindeutig minoritär. Angesichts der unmenschlichen Grausamkeiten vom 7. Oktober wollte der politische Westen die Antwort darauf als Kampf gegen den Terrorismus framen. Dies kann schon jetzt als gescheitert angesehen werden. Spätestens seit den grausamen Bildern der Explosion im Al-Ahli-Al-Arabi-Krankenhaus in Gaza-Stadt ist die arabische Welt in Aufruhr. Ungeachtet dessen, dass der Ursprung dieses Unheils, welches vermutlich Hunderte Menschenleben kostete, weiterhin umstritten ist, war dies der Funke, der die Straßen von Algier bis Amman, von Beirut bis Bagdad, in Brand setzte. Hunderttausendfach gingen die Menschen auf die Straße, in den sozialen Netzwerken explodierten die Solidaritätsbekundungen für Palästina.

Die arabischen Staatschefs – die sich bis dahin in einem diffizilen Balanceakt versuchten zwischen dem ungeliebten, doch mittlerweile akzeptierten jüdischen Staat auf der einen und der als Befreiungsbewegung getarnten Terrororganisation auf der anderen Seite – waren nun gezwungen, Farbe zu bekennen. In einem beispiellosen diplomatischen Paukenschlag schlug der jordanische König dem US-Präsidenten die Tür ins Gesicht und sagte einen Vierergipfel mit dem palästinensischen und dem ägyptischen Staatsoberhaupt ab. Er sehe keine Grundlage, „Krieg und Massaker zu beenden“, Israel bringe die Region „an den Rand des Abgrunds“.

Es ist vor allem die als extrem brutal angesehene Kriegsführung der Israelis, die dazu beitrug, das Mitgefühl für die Opfer des 7. Oktobers einer Welle der Empörung weichen zu lassen. Satellitenaufnahmen legen nahe, dass die israelische Luftwaffe in Gaza Flächenbombardements betreibt. Laut UN-Angaben sind 1,4 der 2,3 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen geworden, 45 Prozent der Wohnquartiere sind zerstört oder beschädigt. Nach drei Wochen Krieg zählen die palästinensischen Behörden, deren Angaben sich nicht unabhängig überprüfen lassen, die aber eine Liste mit allen Opfern vorgelegt haben, über 8 000 Tote, darunter mehr als 3 400 Kinder – das sind über dreimal so viele Minderjährige, wie in anderthalb Jahren dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zum Opfer gefallen sind.

In Windeseile hat sich die geopolitische Lage im Nahen Osten gedreht.

Die martialischen Äußerungen israelischer Politiker tragen ein Übriges dazu bei, im globalen Diskurs die Wahrnehmung einer Kollektivbestrafung zu forcieren. Verteidigungsminister Gallant sieht das Land im Kampf gegen „menschliche Tiere“. Staatspräsident Herzog mag keine „unschuldigen Zivilisten in Gaza“ mehr erkennen, sieht „eine gesamte Nation, die verantwortlich ist“. Auch Premierminister Netanjahu benutzt wiederholt biblische Referenzen, die Vorstellungen eines heiligen Krieges mit Vernichtungswillen hervorrufen.

In Windeseile hat sich die geopolitische Lage im Nahen Osten gedreht. So sah es vor etwas mehr als drei Wochen noch danach aus, als stünde die Annäherung zwischen Israel und der arabischen Vormacht Saudi-Arabien kurz vor dem Durchbruch. Es wäre ein beispielloser Triumph gewesen für Premier Netanjahu und sein Versprechen, den Konflikt mit den Palästinensern nicht nur „managen“ zu können, sondern an ihm vorbei Frieden zu schließen mit den arabischen Potentaten. In Washington und einigen europäischen Hauptstädten träumten manche Politiker gar von einem israelisch-arabisch-amerikanischen Bündnis gegen Irans „Achse des Widerstandes“. Auch diese Illusion hat sich in Luft aufgelöst. Statt israelisch-arabischer Annäherung konferiert der saudische Kronprinz lieber mit dem iranischen Staatspräsidenten. Zur für den Westen bitteren Wahrheit gehört: Nicht die Islamische Republik Iran ist derzeit isoliert, sondern Israel.

Nirgends sonst wird dies so deutlich wie am gescheiterten Versuch, die Hamas aufgrund der Gräueltaten als Wiedergänger des sogenannten Islamischen Staats zu entlarven. Während der Kampf gegen den IS eine global unterstützte Anti-Terror-Koalition hervorbrachte, ist ähnliches derzeit kaum ersichtlich. Außerhalb Israels und der westlichen Kernstaaten USA und Deutschland lässt sich kaum jemand auf die Erzählung Netanjahus vom „Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit“ ein. Es ist stattdessen der in Deutschland medial so hart angegangene UN-Generalsekretär Guterres, der mit seiner Kontextualisierung den Nerv der globalen Mehrheitsmeinung trifft. Nicht der Terror steht plötzlich im Fokus, sondern das ganze Elend des ungelösten Nahostkonflikts.

Dass dieser so ungeliebte, bereits marginalisiert geglaubte Urkonflikt des Nahen Ostens sich nun mit einem Riesenknall zurück ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit katapultiert, bedroht direkt die Glaubwürdigkeit des Westens. Sieht sich dieser doch, nicht zuletzt in seiner Verteidigung der angegriffenen Ukraine, in einem globalen Kampf für eine regelbasierte, liberale Weltordnung. Die bedingungslose Solidarität mit Israel konterkariert in den Augen vieler im Globalen Süden diese Mission. Trotz aller Unterschiede der Konflikte, die es gibt, ist in der arabischen Welt und in weiten Teilen des Globalen Südens der Verweis auf westliche Doppelstandards allzu präsent.

All das, was gestern noch für die Ukraine galt, scheint heute für die Palästinenser nicht mehr zu gelten.

All das, was gestern noch für die Ukraine galt, scheint heute für die Palästinenser nicht mehr zu gelten: das Recht auf nationale Selbstbestimmung, die Freiheit von ausländischer Besatzung, die Notwendigkeit, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, sowie das Verbot der Bombardierung von Wohnquartieren. Die israelische Ankündigung, die Zivilbevölkerung von Wasser, Strom und Nahrung abzuschneiden, führte zu keinerlei Verurteilung seitens des Westens, obgleich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen russische Attacken auf die ukrainische Infrastruktur ein Jahr vorher noch als „Akte puren Terrors“ gegeißelt hatte. Hängen bleibt bei vielen im Globalen Süden vor allem eins: dass, wie es der jordanische König ausdrückt, die Anwendung des humanitären Völkerrechts optional sei sowie dass Menschenrechte für manche gelten, für andere jedoch nicht.

Der Vorwurf der systematischen Anwendung von Doppelstandards ist dabei nicht erst auf die jüngste Bombardierung Gazas zurückzuführen. Er rührt viel tiefer. Seit Jahrzehnten betreibt Israel in den besetzten Gebieten, wozu laut UN- und offizieller deutscher Definition auch der Gazastreifen zählt, ein Besatzungsregime, das die palästinensische Bevölkerung systematisch entrechtet, gängelt und demütigt. Während die Augen der Weltöffentlichkeit auf den Gazastreifen gerichtet sind, setzt sich dies aktuell mit Wucht in der Westbank fort.

In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat sich herauskristallisiert, dass die Besatzung keine temporäre Maßnahme auf dem Weg zu einer Zweitstaatenlösung mehr ist. Netanjahu ist ein erklärter Gegner jeder palästinensischen Staatlichkeit. Seine Vision und die seiner rechtsradikalen Koalitionspartner beruht darauf, dieses Regime in alle Ewigkeit zu perpetuieren. Sprich: From the river to the sea soll es wie derzeit nur einen einzigen Staat geben, mit (mehrheitlich jüdischen) Bürgern, für die demokratische Rechte gelten, und Millionen rechtloser (durchweg palästinensischer) Untertanen, die durch Israel beherrscht werden, aber keinerlei Mitspracherechte erlangen. Ganz offen werden mittlerweile selbst Pläne „ethnischer Säuberung“ kultiviert – nicht mehr nur in den Parteiprogrammen der Rechtsradikalen, sondern sogar in offiziellen Regierungsdokumenten.

Der Terror der Hamas ist nicht ursächlich auf diese Perspektivlosigkeit zurückzuführen. Mörderischer Islamismus und Antisemitismus, das zeigt sich auch anderswo, brauchen keine Besatzung als Geburtshelfer. Wohl aber hat Hamas vor allem dann Zulauf bekommen, als die moderaten, verhandlungsbereiten Kräfte an die Wand gedrückt wurden – eine Politik, die Netanjahu sogar ganz offiziell so betrieben hat. In ihrer Ablehnung eines gerechten Friedens sind Israels Rechte und die Islamisten seit jeher vereint.

Es sind gerade die Kernstaaten des Westens, die eine besondere Innigkeit zu Israel an den Tag legen.

Dies allein müsste für den politischen Westen kein Problem darstellen, kultiviert er doch auch intensive Beziehungen zu einer Reihe anderer Staaten mit durchaus eigensinnigen Verständnissen von politischer Partizipation und Minderheitenschutz. Im Gegensatz zu Israel handelt es sich bei diesen Staaten allerdings um Autokratien verschiedenster Spielart und nicht um eine selbsterklärte Demokratie, die, als Teil einer sich auch als Wertegemeinschaft verstehenden Gruppe, an entsprechend höheren Standards in puncto Menschenrechten gemessen wird.  

Es sind gerade die Kernstaaten des Westens, Amerika und Deutschland, die eine besondere Innigkeit zu Israel an den Tag legen – die Beziehung zum jüdischen Staat ist nachgerade konstituierend für ihr politisch-staatliches Selbstverständnis („Staatsräson“). Es sind im Übrigen auch jene beiden Länder, die am lautesten eine Wertebindung ihrer Außenpolitik behaupten, mithin vorgeben, dass sich ihre Politik an übergeordneten Idealen und keineswegs nur an schnöden Interessen orientiert. Daran misst diese zunehmend auch die Welt.  Die faktische Unterstützung der israelischen Besatzungspolitik, die gegen jegliche der hochgehaltenen Prinzipien verstößt, ist eine eitrige Wunde in der argumentativen Flanke des „Wertewestens“.

Der nun hochkochende Krieg ist somit ein Geschenk an all jene, vornehmlich in Peking und Moskau, die die durch den Westen verteidigte regelbasierte und liberale Weltordnung ohnehin als Heuchelei denunzieren. Und die sich nun als Champions des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts, mithin als Anführer jener Mehrheit von 138 UNO-Mitgliedstaaten aufführen dürfen, die den Staat Palästina anerkannt haben. Was sich andeutet in der öffentlichen Weltmeinung, ist möglicherweise ein veritabler Großkonflikt zwischen dem Westen und dem Globalen Süden.

Hinsichtlich der Ukraine dominierte in den aufstrebenden Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens eher das Ressentiment gegen die moralisch überhöhte Selbstgerechtigkeit des Westens – eine Art Trotz. Der Nahostkonflikt ist anders gelagert. Er ist ein wahrhaftiger Nord-Süd-Konflikt. Hier steht also mitnichten die „zivilisierte Welt“ gegen die Teheraner Terrorachse, sondern es ist eine globale Auseinandersetzung, die an die Grundfesten der vom Westen verkündeten Werte rührt.

Für die Zivilbevölkerung Gazas gibt es keinen Ausweg.

Angesichts dessen sollten sich die Verantwortlichen in Washington und den europäischen Hauptstädten gut überlegen, ob sie Israel weiterhin eine carte blanche für das Trugbild einer rein militärischen Lösung geben sollten. Der von Israel nun angekündigte monatelange Krieg könnte in einem Desaster enden. Nicht nur, weil er sich militärisch womöglich als Himmelfahrtskommando entpuppt. Sondern weil er die humanitäre Krise auf die Spitze triebe. Für die Zivilbevölkerung Gazas gibt es keinen Ausweg, Hunderttausende werden zwischen die Fronten geraten. Die Bilder des tausendfachen Leids, millionenfach verbreitet in den sozialen Netzwerken, die ein solcher Krieg nach sich zieht, werden global die Ressentiments gegen Israel zum Kochen bringen.

Ein Sturm der Entrüstung gegen den gesamten Westen wäre die Konsequenz. Die massive Mobilisierung im Globalen Süden, aber auch in den westlichen Hauptstädten, die scharfen Äußerungen führender Staatsoberhäupter wie Erdogan und Lula, die diplomatischen Erschütterungen in Lateinamerika deuten darauf hin, dass hier etwas zu zerbrechen droht zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Hinzu kommt: Dieser Krieg könnte auch global eine ganze Generation radikalisieren. Israel glaubt, es könne die Hamas mit Gewalt zerschlagen. Stattdessen droht womöglich eine neue Terrorwelle. 

Noch ist es nicht zu spät, die Notbremse zu ziehen. Nicht zuletzt um einen regionalen Flächenbrand zu vermeiden, der der ganzen Region droht, mit womöglich unkontrollierbaren Auswirkungen auf den Weltfrieden. Denn das Kalkül, eine solche Eskalation durch Abschreckung – und die durch die Amerikaner betriebene massive Verlagerung von Militärgerät in den Nahen Osten – zu verhindern, könnte sich als Fehlkalkulation herausstellen. Wie realistisch ist die Annahme, dass Terrororganisationen, deren ganze ideologische raison d’être im Kampf gegen Israel besteht, das sich anbahnende Gemetzel in Gaza aussitzen werden? Dass regionale Alliierte dem sich hochschaukelnden Volkszorn ohne Folgen für ihre eigene Stabilität widerstehen? Dass Peking und Moskau dem ganzen nur zuschauen werden? Es ist ein Vabanque-Spiel mit extrem hohem Einsatz bei gleichzeitig bescheiden ausfallendem Gewinn.

Das Horrorszenario eines Flächenbrands ist keineswegs unausweichlich. Um es zu verhindern, braucht es seitens der USA und der Europäer allerdings die Einsicht, dass sich dieser Konflikt nicht militärisch lösen lässt. Dass der Versuch einer rein militärischen Lösung vielmehr den Nährboden bereitet für noch mehr Hass, für noch mehr Gewalt, für ein im globalen Maßstab beispielloses Zerwürfnis. Es ist Zeit für bittere Wahrheiten. Und eine davon lautet: Die Grundursache für den Nahostkonflikt heißt nicht Hamas. Aber es ist die Hamas, die den Konflikt zum Leben braucht, es ist die Hamas, die den großen Krieg will. Eine weitere lautet: Solange es die Möglichkeit hat, die Besatzung aufrechtzuerhalten, wird Israel diese nicht beenden. Denn Netanjahu und Israels Rechte wollen das ganze Land, sie wollen keinen palästinensischen Staat.

Das Scheitern von Oslo und die demonstrierte Unfähigkeit beider Konfliktparteien, sich im Rahmen einer in ihren Grundzügen bereits lange ausformulierten Zweistaatenlösung auf einen gerechten Frieden zu einigen, sollte sowohl im Westen als auch in der Arabischen Welt den Blick schärfen. Sie haben jetzt zwei Optionen. Möchten sie den regionalen Flächenbrand riskieren, dann lassen sie das Heft des Handelns in den Händen der Konfliktparteien. Möchten sie aber den Frieden wahren, und einen gerechten und dauerhaften Frieden erst möglich machen, so müssen sie ihn selbst durchsetzen. Gegen die mörderischen Islamisten der Hamas ebenso wie gegen Israels Rechtsradikale. Noch ist es nicht zu spät.