Dem syrischen Volk ist nach fast 14 Jahren Krieg und nach einem halben Jahrhundert der Schreckensherrschaft der Sturz des Assad-Regimes gelungen. Ein wichtiger Faktor für die Rasanz des Vormarschs sind Veränderungen in der Konstellation dritter, in den Konflikt involvierter Parteien. Sie öffneten ein Gelegenheitsfenster, das die syrischen Rebellen nutzten und das für den Zeitpunkt der Offensive entscheidend war.
Der syrische Bürgerkrieg kennzeichnete sich durch eine Vielzahl an bewaffneten Gruppen, die in wechselnden Allianzen, manchmal auch in jahrelanger Kooperation, gegen das Regime und untereinander kämpften. Darüber hinaus ist auch der hohe Grad der Internationalisierung dieses Konflikts markant. Bereits in den ersten Jahren des Krieges waren Forderungen nach einer humanitären Intervention laut geworden. Aber selbst nach dem Giftgasangriff des Regimes 2013, bei dem über 1 400 Menschen getötet wurden, blieb eine direkte Intervention westlicher Mächte unter US-Führung aus – gegen den Wunsch vieler Syrerinnen und Syrer nach einem begrenzten Militäreinsatz zur Schwächung von Baschar al-Assad.
Dies erlaubte es anderen internationalen Akteuren, sich in den Konflikt einzumischen. Eine zentrale Rolle spielte Russland als Unterstützer des Regimes. Wladimir Putin lieferte Waffen, Baschar al-Assad erlaubte es dem russischen Regime, nahe Latakia in Westsyrien einen Luftwaffenstützpunkt und in Tartus eine Marinebasis im östlichen Mittelmeer zu unterhalten. Ab 2015 griff Russland direkt zugunsten des Regimes ein, vor allem mit massiven Luftangriffen gegen Zivilistinnen und Zivilisten sowie gegen zivile Infrastruktur. Bis zuletzt waren diverse private russische Militärfirmen in Syrien aktiv.
Für das iranische Regime stellte Syrien seit der Islamischen Revolution einen wichtigen Verbündeten dar.
Eine weitere Stütze der Assad-Diktatur war der Iran, der bereits seit 2011 aus ideologischen und strategischen Gründen militärisch in den Konflikt eingriff. Für das iranische Regime stellte Syrien seit der Islamischen Revolution einen wichtigen Verbündeten dar, insbesondere im Austragen regionaler Rivalitäten mit den sunnitischen Golfstaaten. In den Jahren des Global War on Terror gewann die Allianz gemeinsam mit nicht-staatlichen Gruppierungen im Libanon, Irak und in Palästina – darunter Hisbollah und Hamas – unter dem Namen „Achse des Widerstands“ neue strategische Bedeutung. Der Iran unterstützte das Assad-Regime direkt durch Training, Waffenlieferungen und Personal.
Die wohl mächtigste Kraft auf der Seite des Regimes war die libanesische Hisbollah. Trotz einer innerlibanesischen Einigung auf Neutralität im Syrienkonflikt griff die Gruppe ab 2012 zunächst durch die Entsendung von Beratern und Militärkadern ein, ab 2013 dann ganz offiziell und direkt mit Kämpfern aufseiten des Assad-Regimes. Neben den mit der „Achse des Widerstands“ geteilten Zielen für die regionale Ordnung gab es für die Hisbollah auch materielle Gründe, sich mit Assad gut zu stellen – für sie bestimmte iranische Waffenlieferungen liefen über syrisches Territorium.
Während die USA und andere westliche Staaten zunächst von einem direkten Militäreinsatz absahen, stellten sie bereits ab Beginn des Krieges Finanzmittel und leichte Waffen für die syrische Opposition zur Verfügung. Ein direkter Einsatz begann erst mit dem rasanten Aufstieg des Islamischen Staats in Irak und Syrien (ISIS) im Jahr 2014. Unter US-Führung formierte sich die Global Coalition against Daesh, die bis 2019 über 44 000 Luftschläge im Irak und in Syrien durchführte. Neben einer Reihe westlicher Staaten gehörten der Koalition auch diverse arabische Verbündete an, nämlich Bahrain, Jordanien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie für eine kurze Zeit Katar.
Aber auch jenseits des Kampfes gegen ISIS hatten die Golfstaaten und die Türkei Syrien schon früh als Gebiet entdeckt, innerhalb dessen sie ihre regionalen, ordnungspolitischen Interessen durchsetzen wollten. Dies geschah vor allem durch die Finanzierung von Rebellengruppen ab 2012. Saudi-Arabien unterstützte Teile der Freien Syrischen Armee als Gegengewicht gegen der Muslimbruderschaft nahestehende islamistische Gruppen. Die Türkei und Katar statteten dagegen salafistische und islamistische Gruppen aus, vor allem Ahrar al-Sham.
Eine entscheidende Wende für den Erfolg der Rebellengruppen stellte 2015 dar. Nicht nur gründeten Ahrar al-Sham und Jabhat al-Nusra sowie weitere bewaffnete Gruppen die Allianz Jaish al-Fatah, die weite Teile der Provinz Idlib unter ihre Kontrolle brachte. Diese vereinigten Kräfte erfuhren zudem gemeinschaftliche Unterstützung von Katar, der Türkei und Saudi-Arabien – und damit von drei Staaten, die zuvor oftmals gegnerische Gruppierungen unterstützt hatten. Diese Einigkeit, die sich aus einer gestiegenen Bedrohungswahrnehmung durch den Iran erklären lässt, dauerte jedoch nur kurz an.
Die Türkei verfolgte seit Beginn des Konflikts ein eigenständiges Ziel: die Schwächung kurdischer bewaffneter Gruppen.
Die Türkei verfolgte seit Beginn des Konflikts ein eigenständiges Ziel: die Schwächung kurdischer bewaffneter Gruppen und deren Fernhalten von der türkischen Grenze. Nach dem großflächigen Rückzug des syrischen Regimes übernahmen die kurdische PYD und ihr bewaffneter Arm YPG plötzlich die Kontrolle über bedeutende Teile Nordsyriens. Diese Gebietskontrolle wurde im Kampf gegen ISIS und andere salafistisch-jihadistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra, die Vorgängerorganisation von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS, unter deren Führung nun Assad gestürzt wurde), weiter ausgeweitet. Um den gestärkten kurdischen Kräften entgegenzuwirken, griff die Türkei seit 2016 mehrfach direkt militärisch ein und unterstützte nicht-staatliche Proxies im Nachbarland. Die wichtigste unterstützte Gruppe ist die Syrische Nationale Armee, die aus ehemaligen Mitgliedern der Freien Syrischen Armee und wohl auch von ISIS besteht.
Zuletzt ist auch Israel als Partei in dem Konflikt zu nennen. Während das Assad-Regime zur Achse des Widerstands gehörte und damit in einer Allianz mit Israels wichtigsten Gegnern stand, so hatte sich mit Syrien im Konflikt um die von Israel völkerrechtswidrig besetzten Golanhöhen eine Art stille Übereinkunft zur Duldung des Status quo eingespielt. Israel flog aber immer wieder Luftangriffe gegen iranische Militärs, Hisbollah-Angehörige, Waffentransporte und syrische Militäreinrichtungen. Diese Angriffe galten jedoch nicht der Stärkung einer Kriegspartei, sondern der Schwächung der Achsenmitglieder.
Die israelischen Militärhandlungen der vergangenen Monate haben in diesem Sinne die Achse des Widerstands gebrochen.
Die israelischen Militärhandlungen der vergangenen Monate haben in diesem Sinne die Achse des Widerstands gebrochen. Die exzessive israelische Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza und später im Libanon sowie sichtbar begangene Völkerrechtsverbrechen haben in der arabischen Welt zwar die Unterstützungswerte für die Achsenmitglieder deutlich steigen lassen. Allerdings fügte die israelische Armee nicht nur der Hamas in und außerhalb von Gaza, sondern auch der Hisbollah im Libanon und dem Iran erheblichen militärischen Schaden und einen massiven Gesichtsverlust zu, nicht zuletzt durch die Tötung der Anführer beider Gruppen in Teheran und Beirut.
Am Tag vor dem Beginn der Rebellenoffensive in Syrien war zwischen Hisbollah und Israel ein – bestehender, wenn auch brüchiger – Waffenstillstand verhandelt worden. Viele Kämpfer waren in den letzten Monaten bereits aus Syrien abgezogen worden, und so war Hisbollah wohl nicht fähig – und angesichts der massiven Rückschläge im Libanon vielleicht auch nicht willens –, den Rebellengruppen etwas entgegenzusetzen. Die iranische Führung selbst war von Assad zunehmend desillusioniert, der wohl Informationen über iranische Stellungen an Israel weitergegeben hatte. Teheran begann am 7. Dezember mit dem Abzug seines Personals aus Syrien.
Auch Russland ließ Assad fallen, nachdem es über Jahre nicht nur militärisch, sondern auch als diplomatische Schutzmacht eine zentrale Stütze für das Regime gewesen war, etwa durch Blockaden im UN-Sicherheitsrat. Assad scheint die russischen „Ratschläge“ schon länger ausgeschlagen zu haben. Hier ist der gescheiterte Normalisierungsprozess mit der Türkei zu nennen. Diesen hatte Russland in die Wege geleitet, um Syrien wieder in der Region zu verankern und von Iran zu entfernen. Assad zeigte sich in den Verhandlungen mit der Türkei jedoch unnachgiebig und unterschätzte dabei, dass Putin die Geduld mit ihm verlieren könnte.
Das Putin-Regime steht nach eigenen Angaben mit Vertretern der Rebellenallianz in Kontakt, um seine geostrategischen Interessen zu wahren.
Bis auf vereinzelte private Militärfirmen hatte Russland seine militärische und finanzielle Unterstützung seit Beginn der Invasion in der Ukraine 2022 zurückgefahren. Zudem hatte Russland nach dem 7. Oktober 2023 die gemeinsamen Luftschläge mit der syrischen Luftwaffe auf Idlib und angrenzende Gebiete wieder hochgefahren. Im Zuge des Rebellenvormarschs erhöhte sich die Taktung der Angriffe, blieb aber im Vergleich etwa zur Rückeroberung Aleppos begrenzt. Das Putin-Regime steht nach eigenen Angaben mit Vertretern der Rebellenallianz in Kontakt, um seine geostrategischen Interessen zu wahren. Russland hat bisher Stützpunkte im Landesinneren evakuiert, versucht aber seine Militärbasen im Mittelmeer zu behalten.
Die von HTS angeführte Rebellenallianz stand zumindest indirekt sowohl mit iranischen als auch mit russischen Vertretern im Austausch und sicherte zu, neben russischen Militärstützpunkten auch Botschaften und schiitische Schreine zu schützen. Nach Berichten der syrischen Medienplattform al-Jumhuriya war dies Ergebnis einer Zusammenkunft in Doha kurz vor Beginn der Rebellenoffensive. Die russische und iranische Führung signalisierten der Türkei, dass sie bereit seien für eine politische Transition in Syrien. In Koordination wurden mit Saudi-Arabien, Ägypten, Irak, Jordanien und Katar sieben Verhandlungspunkte erarbeitet und über die Türkei an die Rebellen übermittelt. Diese formulierten drei Gegenforderungen, nach deren Annahme der Vormarsch begann.
In nahezu vollständiger Abwesenheit iranischer und russischer Kräfte sowie der Hisbollah sind nun zwei andere internationale Mächte prägend für das künftige Geschehen in Syrien: Die Türkei und Israel versuchen, das Gelegenheitsfenster des Regimezusammenbruchs für sich zu nutzen. Die Kämpfe der Syrischen Nationalen Armee gegen die von Kurden geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) in Nordsyrien halten an; zuletzt brachten die türkisch unterstützten Milizen die Stadt Manbji unter ihre Kontrolle, die bisher von den SDF kontrolliert worden war. Zudem attackiert die Türkei direkt kurdische Stellungen mit Drohnen- und Luftangriffen. Sie scheint die Situation nutzen zu wollen, um die kurdischen Einheiten nachhaltig zu schwächen. Die Angriffe der Türkei sind nicht nur völkerrechtswidrig, sondern destabilisieren auch die Lage in Nordsyrien in einer Form, die am Ende ISIS wieder erstarken lassen könnte.
Israel hingegen hat in den vergangenen Tagen strategische Waffen der syrischen Armee wie die Luftwaffe und Marine sowie Chemiewaffen zerstört. Es hat zudem die militärisch-neutrale Pufferzone zwischen den seit 1967 von Israel illegal besetzten Golanhöhen und dem syrischen Staatsgebiet unter seine Kontrolle gebracht und erwägt wohl, diese in weitere syrische Gebiete auszudehnen. Diese Expansion würde für weitere Instabilität sorgen. Zudem verstoßen alle israelischen Militärhandlungen der letzten Tage in Syrien gegen das Völkerrecht, wie auch die Vereinten Nationen mehrfach anmahnten.
Sowohl die türkischen als auch die israelischen Militärhandlungen sind Brüche des internationalen Rechts und müssen dringend unterbunden werden. Beide Staaten scheinen in Erwartung der kommenden US-Regierung von Donald Trump Fakten schaffen zu wollen, die der neue Präsident nicht rückgängig machen wird. Er hat in der Vergangenheit sowohl die Türkei als auch Israel bei ähnlichen Aktionen unterstützt. Deutschland und die EU müssen jetzt Druck auf die Türkei und Israel ausüben, die Situation nicht weiter zu destabilisieren, und einen selbstbestimmten syrischen Übergangsprozess nach besten Kräften unterstützen.