Der Terroranschlag der Hamas vom Oktober 2023 und seine Folgen haben die Gewalt im Nahen Osten drastisch verschärft. Alle wichtigen Akteure vor Ort befinden sich in Anspannung, wenn nicht im Kriegszustand. Die direkte Konfrontation mit Israel übernehmen vor allem nichtstaatliche Akteure, deren Kampfkraft den regulären Armeen in ihrer Heimat überlegen ist. Neben der Hamas sind das die Hisbollah im Libanon, Ansar Allah (Houthis) im Jemen und schiitische Milizen im Irak. Zusammen bilden sie die „Achse des Widerstands“, ein bewaffneter pro-iranischer Zusammenschluss im Nahen Osten.

Viele Jahre beruhte die Militärdoktrin Teherans darauf, möglichst jeden Konflikt mit einem potenziellen Feind von den eigenen Grenzen fernzuhalten. Das ist nun anders. Zum ersten Mal in der Geschichte führte der Iran vom eigenen Territorium aus massive Angriffe auf Israel durch. Die Verschärfung der iranischen Außenpolitik ist vor allem eine Folge der Ereignisse im Gazastreifen. Obwohl es keine Hinweise darauf gibt, dass der Iran an den Attacken der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 beteiligt war, begrüßten Teherans Offizielle die Tat mit mindestens 1 200 Toten ausdrücklich. „Was sie getan haben, bedeutet Stolz, Ruhm und Stärke, Gott wird sie unterstützen“, beglückwünschte der damalige iranische Präsident Ebrahim Raisi die Hamas. Der darauf folgende israelische Feldzug in Gaza dauert nun schon ein Jahr und kostete 40 000 Zivilisten das Leben. Dennoch ist das Schicksal vieler israelischer Geiseln unklar. Es handelt sich mittlerweile um den längsten Krieg Israels seit 1949.

Israel hat seine Strategie auf Geheimdienstoperationen verlagert, wie die Liquidierung des Chefs des Hamas-Politbüros Ismail Haniyeh in Teheran im Juli, die elektronisch gesteuerte Tötung zahlreicher Hisbollah-Kämpfer, die Ermordung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah im September und die des Hamas-Anführers Yahya Sinwar im Oktober zeigen. All das waren schwere moralische Schläge für den Iran, die zeigten, dass er die Kommandeure seiner Stellvertreter nicht einmal im eigenen Land schützen kann. Daher musste Teheran auf die Angriffe Israels reagieren.

Die Hisbollah hat durch die Angriffe mindestens zehn hochrangige Anführer verloren.

Die Hisbollah hat durch die Angriffe mindestens zehn hochrangige Anführer verloren, allen voran Nasrallah. Die Miliz scheint langfristig am Boden und ihre zukünftige Bedeutung infrage gestellt. Doch es ist zu früh, die Hisbollah abzuschreiben. In den Reihen der Gruppierung verbleiben etwa 100 000 Kämpfer, ihr Arsenal besteht aus immer noch bis zu 150 000 Raketen. Die Geschichte solcher Gruppen zeigt, dass hochrangige Anführer schnell durch andere Militante ersetzt werden, die die Arbeit nahtlos fortsetzen. So eliminierte Israel bereits 2004 zwei Hamas-Führer. Doch das brachte der Gruppierung eher noch größere Popularität und mehr Einfluss.

Dass die Miliz fähig ist, den Widerstand gegen den jüdischen Staat fortzusetzen, zeigt etwa der Drohnenangriff vom 13. Oktober. Bis heute können mehr als 80 000 israelische Bürgerinnen und Bürger, die wegen des Dauerbeschusses aus dem Libanon aus ihrer Heimat im Norden des Landes flüchten mussten, nicht nach Hause zurück. Der einzige Erfolg der Israelis durch ihre Bodeninvasion besteht darin, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit vom Gazastreifen abgelenkt wird. Dort ist die Bilanz schlecht: Noch immer sind die Aussichten trübe, die verbleibenden Geiseln befreien zu können, und die Hamas besteht ebenfalls fort. Auch die Liquidierung von Sinwar bedeutet nicht die Zerstörung der Hamas. Insgesamt hat die Gruppierung laut den US-Analysten von ACLED nur etwa 8 500 ihrer 25 000 bis 30 000 Kämpfer in den Auseinandersetzungen mit Israel verloren. Diesen Verlusten stehen Neurekrutierungen unter den Palästinensern unbekannten Ausmaßes gegenüber, die bei den israelischen Angriffen Verwandte und Freunde verloren haben.

Der Angriff auf den Libanon löste zudem den zweiten massiven iranischen Raketenangriff auf Israel innerhalb eines Jahres aus. Beide Angriffe unterlagen dem Kalkül, nicht maximalen Schaden anzurichten, sondern eine symbolische Antwort zu geben. Markige Worte von Israels Premier Benjamin Netanjahu nach dem Schlag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die weitere Reaktion Israels noch unklar ist. Ein großer Krieg ist dabei nicht so wahrscheinlich, wie er manchmal gemacht wird. Das liegt auch an der großen Entfernung zwischen den beiden Ländern – an ihren nächstgelegenen Punkten sind es immerhin 1 200 Kilometer. Aber nicht nur.

Jede Eskalation kann zur Stärkung des iranischen Regimes führen.

Denn der Iran hat in Syrien etwa 40 000 afghanische, irakische, pakistanische und syrische Milizionäre konzentriert. Noch hat der Iran nicht versucht, diese gegen Israel einzusetzen, da die Führung in Teheran sich des selbstmörderischen Aspekts einer solchen Aktion bewusst ist. Des Weiteren ist die Situation auf dem Ölmarkt ein Faktor, der vor einer Eskalation zurückschrecken lässt – und zwar auf beiden Seiten. Während der Iran auf die Öleinnahmen angewiesen ist, weiß Israel, dass ein Angriff auf Teherans Ölindustrie und die damit verbundenen weltweiten Preissteigerungen auf dem Rohölmarkt die eigenen Verbündeten verärgern würden, allen voran die USA. Und zuletzt würde ein massiver Angriff auf den Iran mit zivilen Opfern die Bevölkerung um ihre sonst wenig populäre Regierung scharen. Trotz militärischer Unterlegenheit befindet sich das iranische Regime also in einer vorteilhaften Situation in einem möglichen direkten Konflikt. Jede Eskalation kann zur Stärkung des Regimes führen.

Und dann ist da noch die Möglichkeit einer iranischen Atombombe. Das offene Ziel der iranischen Offiziellen war es in den letzten Jahren, beim Thema Atomwaffen den „Schwellenstatus“ beizubehalten, also kurzfristig Atomwaffen herstellen zu können, aber das nicht zu tun. Auch hier hat sich die Situation dramatisch verändert. Internationale Beobachterinnen und Beobachter schlagen Alarm, dass die Entwicklung iranischer Atombomben bald starten könnte. So berichteten US-Geheimdienste im Juli über aktive Vorbereitungsmaßnahmen für eine mögliche Atomwaffenproduktion. Wenig später stellte die Internationale Atomenergiebehörde fest, dass sie nicht mehr zuverlässig zusichern könne, dass das iranische Atomprogramm friedlichen Charakters sei.

Obwohl es paradox ist, unterstützen trotz hoher Inflation immer mehr Menschen im Iran die Idee, Atomwaffen herzustellen. Bei einer Umfrage von IranPoll erklärten fast 70 Prozent der befragten Iranerinnen und Iraner, dass das Land Atomwaffen besitzen solle. Je stärker Israel oder der Westen den Iran unter Druck setzen, umso größer wird der Wille im Land, die atomare Schwelle zu überschreiten, um notfalls einen konventionell überlegenen Gegner abschrecken zu können.