Syrien steht vor Europas Toreinfahrt wie eine verunfallte Karosse. Sie fährt nicht mehr, der eine oder andere hat sich schon an den Ersatzteilen bedient. Verkaufen kann man sie nicht, verschrotten will man sie auch nicht. Und kostenlos hergeben? Dafür war sie eigentlich zu teuer. So bleibt sie dort liegen, erinnert gelegentlich an alte, bessere Zeiten. Nun hat man sich an ihren desolaten Anblick gewöhnt. Handlungsdruck wird erst entstehen, wenn randalierende Passanten das Fahrzeug in Brand stecken, die emporlodernden Flammen die Häuser in der Nachbarschaft bedrohen und es am nächsten Tag Vorwürfe hagelt.

Mehr als zehn Jahre sind seit Ausbruch des Kriegs in Syrien vergangen. In Deutschland ist inzwischen das vierte Kabinett in Folge mit dieser Krise befasst. Und die Beamtinnen und Beamten, die sich um Syrien kümmern, haben seit 2011 schon mindestens drei Mal durchgewechselt. Man hat das Syrien-Dossier geerbt – ebenso die diffuse Überzeugung: Wir haben alles irgendwann mal versucht. Initiativen bringen nichts. Immerhin bleiben wir konsequent und treu zu unserer Haltung, die natürlich eine gemeinsame, eine europäische sein soll.

2022 wäre das Jahr, um den „attentisme“, wie es die Franzosen nennen, also das energische Abwarten zu Syrien, zu durchbrechen: Deutschland hat eine neue Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag gelobt, sich für Frieden und Stabilität im Nahen Osten tatkräftig zu engagieren. In Frankreich stehen Präsidentschaftswahlen an. Sollte Emmanuel Macron ein zweites und letztes Mal gewählt werden, kann er außenpolitisch Wagnisse eingehen, ohne sich von Umfrageergebnissen hin und her schubsen zu lassen.

Syrien ist und bleibt nicht nur die größte humanitäre Katastrophe in der europäischen Nachbarschaft. Es ist auch ein internationaler Konflikt, in dem sich hochgerüstete Armeen regionaler Mächte lauernd gegenüberstehen.

Europa sollte sich unter deutsch-französischer Führung, aber unter starker Beteiligung der EU-Mittelmeeranrainer, wieder Syrien zuwenden und verhindern, dass – um im Bild zu bleiben – die Karosse endgültig abfackelt. Syrien ist und bleibt nicht nur die größte humanitäre Katastrophe in der europäischen Nachbarschaft. Es ist auch ein internationaler Konflikt, in dem sich hochgerüstete Armeen regionaler Mächte lauernd gegenüberstehen.

Entgegen landläufiger Meinungen ist der Krieg in Syrien keineswegs vorbei. Die Annahme, dass ein vom Regime kontrolliertes Syrien, so sehr man es auch ablehnt, wenigstens halbwegs stabil wäre, ist trügerisch. Das System kann jederzeit kollabieren, das Territorium weiter zersplittern, weitere Flüchtlingsströme können sich in Bewegung setzen. Die „Belavia-Affäre“ im November, während der Menschen u.a. aus Damaskus nach Belarus und dann an die polnische Grenze gebracht wurden, hat lebhaft in Erinnerung gerufen, dass nicht nur die Territorien der Rebellen, sondern auch jene des Regimes so unwirtlich geworden sind, dass junge Menschen dort nicht länger leben wollen. Aus politischen Gründen ohnehin, aber auch aus wirtschaftlichen.

Dass von solchen fragilen Zuständen dschihadistische Terrorgruppen profitieren, sollte sich herumgesprochen haben. Wie anaerobe Bakterien gedeihen sie am besten dort, wo sonst nichts atmen kann.

Bei anderen Akteuren im Syrienkonflikt, etwa bei Russland oder der Türkei, hat sich die Überzeugung durchgesetzt, den Europäern sei Syrien – Hand aufs Herz – eigentlich egal. Und umso weniger wollen sie sich Vorschriften machen lassen, wenn sie im und mit dem Land nach Gutdünken verfahren.

Bei anderen Akteuren im Syrienkonflikt, etwa bei Russland oder der Türkei, hat sich die Überzeugung durchgesetzt, den Europäern sei Syrien – Hand aufs Herz – eigentlich egal.

Wenn die Europäer in Syrien und seiner Nachbarschaft wieder die Grundlagen für strategischen Einfluss aufbauen wollen, müssen sie sich nicht nur wie bisher mit der Türkei und Russland ins Benehmen setzen, sondern auch die Zusammenarbeit mit denjenigen Nachbarstaaten stärken, die in der geopolitischen Gleichung seltener vorkommen. Neben Jordanien und dem Libanon ist hier vor allem der Irak entscheidend. Je stärker die europäische Position in diesem einflussreichen Nachbarland ist, desto besser sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Syrienpolitik. Die Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie im Irak ist kein Selbstzweck, sondern ein Beitrag zur Stabilisierung des gesamten Nahen Ostens. Frankreich geht im Irak voran und zeigt dort starke Präsenz, hält sich bei der Bearbeitung der Syrienkrise aber gleichwohl zurück.

Deutsches und europäisches Ziel muss es sein, Syriens Gesellschaft in die europäische Nachbarschaft zu integrieren und trotz der politischen Widrigkeiten tiefe und strukturelle Beziehungen zur syrischen Bevölkerung aufzubauen. „Normalisierung“ der Beziehungen – nicht mit dem Regime, sondern mit der syrischen Gesellschaft – könnte der Slogan der europäischen Politik sein. Normalisierung ist dabei nicht mit humanitärer Hilfe zu verwechseln. Diese ist zweifellos erforderlich, ersetzt aber keine kluge politische Strategie. Gleiches gilt für Verfassungsdiskussionen in Genf und die strafrechtliche Verfolgung einiger Kriegsverbrecher.

Normalisierung heißt hier für Europa, dem Verhältnis Europas zu Syrerinnen und Syrern Priorität vor unserem (Nicht-)Verhältnis zum syrischen Regime einzuräumen. Kreative Ansätze dürfen dabei nicht an der Sorge scheitern, dass das Regime davon profitieren könnte oder eine – versehentliche – toxische Berührung mit dem syrischen Staat riskiert wird. Hier ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung notwendig. Dabei braucht es die höchste Kunst der Außenpolitik in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft.

Die Zeit, in der man den Schadensfall Syrien vor sich her verwalten konnte, läuft ab. Bundeskanzler Scholz, Außenministerin Baerbock, aber auch Entwicklungsministerin Schulze müssen ihrem Personal hier alles abverlangen, selbst Engagement zeigen, Risiken eingehen, Ideen einfordern und mit entwickeln. Dafür muss man allerdings nahe dran sein am Geschehen, Zugänge erschließen und sie nutzen; aus der Ferne lassen sich nur Konturen erkennen, und die sind wie immer trügerisch.

Die Syrerinnen und Syrer, ob in Damaskus, Aleppo oder Latakia, schauen hoffend nach Europa – nicht in ihre unmittelbare Nachbarschaft. Manche wünschen sich gar das französische Völkerbundmandat zurück, weil alles so frustrierend ist. Eine Dürrekatastrophe nach der anderen erschüttert Syriens Nordosten. Die Wälder an der syrischen Küste sind abgeholzt; was davon noch übrig war, wird spätestens in diesem Winter in Brennöfen verheizt. Ihre C02-Bilanz möchte man den Syrern nicht vorhalten, aber wenn es das Argument braucht, dass eine Lösung des Syrienkonflikts gut fürs Klima ist, dann bitte. So ist es. Zweifelsfrei.

Der Kreativität für eine diplomatische Syrien-Initiative, die mehr Akteure einbezieht als nur einige Oppositionsvertreter im Exil und das syrische Regime, sollte man keine Grenzen setzen.

Der Kreativität für eine diplomatische Syrien-Initiative, die mehr Akteure einbezieht als nur einige Oppositionsvertreter im Exil und das syrische Regime, sollte man hier keine Grenzen setzen, sofern sie mit einer klaren Grundhaltung und politischem Taktgefühl zum Einsatz kommt: kulturelle Angebote an die syrische Bevölkerung, Stipendienprogramme, niederschwellige Kooperationen im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich, Fortbildungen für die Bewältigung der dramatischen Herausforderungen durch die Digitalisierung, Aufforstung, Unterstützung für die verfasste, aber auch nicht verfasste Zivilgesellschaft, sofern sie sich nicht mehr als unbedingt notwendig politisch vereinnahmen lässt. An Ideen, um in kleinen Schritten Boden gutzumachen, gibt es keinen Mangel. Aus Angst davor, falsch verstanden zu werden oder gar frühzeitig zu scheitern, werden sie bislang leider nicht zu Ende gedacht.

Annalena Baerbock prägte während des Wahlkampfes die Aussage, die nächste Bundesregierung werde die letzte sein, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen könne. Das gilt ganz sicher auch für die Syrienkrise.