Am 19. Januar 2025 trat in Gaza die erste Stufe des seit Mai 2024 vorliegenden Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas in Kraft. Das dreistufige Abkommen sieht vor, die Feindseligkeiten zu beenden und Gefangene gegen Geiseln auszutauschen, einen sukzessiven Rückzug der israelischen Armee sowie zum Ende in eine Phase des Wiederaufbaus des Gazastreifens einzusteigen. Des Weiteren sollen pro Tag 600 Lkw mit humanitären Gütern nach Gaza eingelassen werden. Im Rahmen von Phase 1 wurden am 19. Januar entsprechend die ersten israelischen Geiseln freigelassen, wie auch die ersten palästinensischen Gefangenen – darunter viele sogenannte Administrativhäftlinge, die ohne Anklage und Verfahren in unrechtmäßiger israelischer Haft saßen. Am 25. Januar erfolgte die zweite Runde des Austauschs. Am Folgetag wurde gemäß dem Abkommen nun auch der sogenannte „Netzarim-Korridor“ geöffnet, um die Rückkehr der intern vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinenser in den Norden Gazas zu ermöglichen. Kontrolliert werden sie auf dem Weg von einem Konsortium aus privaten US-amerikanischen und ägyptischen Militärfirmen, die für diesen Zweck am 27. Januar Zugang nach Gaza erhielten.
Die Lage im Gazastreifen bleibt derweil apokalyptisch. Die Bevölkerung ist mit den kombinierten Auswirkungen der weitgehenden humanitären Blockade durch die israelische Regierung und des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung konfrontiert. Aktuell gibt es keine sanktionsbewährte zentrale Instanz, die die öffentliche Sicherheit und damit auch eine geordnete und bedarfsgerechte Verteilung humanitärer Güter garantieren könnte.
Die Lage im Gazastreifen bleibt derweil apokalyptisch.
Trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen ist das Zustandekommen des Abkommens eine große Erleichterung für die geschundene Zivilbevölkerung Gazas. Rund 47 000 Menschen wurden bislang durch direkte Kampfhandlungen getötet, die Zahl der Verletzten liegt bei circa 110 000. Nahezu die gesamte Zivilbevölkerung Gazas ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Fraglich ist jedoch, wie lange das Abkommen, das bislang nur bruchstückhaft bekannt ist, halten wird – die Fallstricke in dieser äußerst komplexen Lage sind vielfältig und die Toleranz für Fehler ist gering.
Zunächst ist festzustellen, dass es trotz der weitgehend definierten ersten Phase des Abkommens keinen klaren Schlichtungsmechanismus für den Fall gibt, dass eine der beiden Seiten die Vereinbarungen nicht einhält. Dies ist besonders im Hinblick auf die Hamas problematisch, da sie infolge des Krieges nach dem 7. Oktober von einem para-staatlichen, territorialen Akteur zu einem dezentralen Netzwerk aus autonom agierenden Zellen zerfallen ist. Es bleibt unklar, ob Mohammed Sinwar, der nach dem Tod seines Bruders Yahia die Führung der Al-Quassam-Brigaden übernommen hat, die vollständige Kommandogewalt über das gesamte Netzwerk erlangen konnte und ob er in der Lage ist, sicherzustellen, dass die Zellen die fragile Waffenruhe einhalten.
Besonders relevant wird diese Unsicherheit beim Übergang von Phase 1 zu Phase 2, der nach 42 Tagen erfolgen soll. Der Inhalt dieser Phase ist bislang nur sehr vage definiert und soll erst ab dem 16. Tag der ersten Phase konkreter ausgehandelt werden. Sollte es an diesem kritischen Punkt beispielsweise zu Raketenbeschuss auf israelisches Staatsgebiet kommen, könnte dies Benjamin Netanjahu und seiner in Teilen rechtsradikalen Regierung einen willkommenen Vorwand liefern, das innerhalb der Administration umstrittene Abkommen scheitern zu lassen. Medienberichten zufolge hat Netanjahu dies bereits seinem Finanzminister Bezalel Smotrich zugesichert, nachdem dieser ihm eine Liste von Forderungen präsentiert hatte, um seinen Verbleib in der Regierung – und damit den Fortbestand der Koalition während Phase 1 – zu gewährleisten. Eine weitere Forderung Smotrichs, der Rücktritt von Generalstabschef Herzi Halevi, wurde am 22. Januar erfüllt.
Die im Abkommen vorgesehene massive Ausweitung der humanitären Hilfe wird durch zwei Faktoren erheblich gefährdet.
Die im Abkommen vorgesehene massive Ausweitung der humanitären Hilfe, die bislang zumindest zu einem deutlichen Anstieg der in den Gazastreifen eingelassenen Lkw geführt hat, wird durch zwei Faktoren erheblich gefährdet. Zum einen durch die fehlende öffentliche Ordnung: Das Gebiet wird heute kontrolliert von Überresten und neu rekrutierten Kämpfern der bewaffneten Gruppierungen auf der einen und kriminellen Banden auf der anderen Seite. Letztere haben bereits in der Vergangenheit spektakuläre Entführungs- und Plünderungsaktionen durchgeführt. In diesem Umfeld eine geordnete und den Bedarfen entsprechende humanitäre Mission durchzuführen, erscheint kaum möglich, da weder die Sicherheit der Transporte noch die Sicherheit des Personals gewährleistet werden kann. Zum anderen wird die Ausweitung der humanitären Hilfe durch die im Oktober 2024 verabschiedeten israelischen Gesetze zur UNRWA gefährdet, die es israelischen Behörden untersagen, mit der Agentur zu kooperieren. Die Gesetze, die den Kontakt zur Organisation verbieten und die UNRWA auf die Terrorliste setzen, treten am 28. Januar in Kraft. Ihr Ziel ist es nicht nur, die humanitäre Hilfe weiter zu erschweren und die Resilienz der Bevölkerung im Gazastreifen zu schwächen. Sie sollen auch die Organisation, die als institutionelles Symbol der Nakba gilt, dauerhaft marginalisieren.
Wenn jedoch die UNRWA, die als einzige Organisation über eine Struktur in Gaza verfügt, nicht mehr in der Lage ist, humanitäre Transporte innerhalb von Gaza mit israelischen Instanzen zu koordinieren, erreicht die Hilfe die Menschen nicht mehr. Besonders dieses Netzwerk innerhalb von Gaza ist unersetzbar, keine andere Organisation verfügt über eine ähnlich ausgebaute Personalstruktur in der Enklave. Es ist zudem zu erwarten, dass alle Importe der UNRWA nach Gaza ab dem 28. Januar von israelischen Behörden blockiert werden. Bereits vor Inkrafttreten der Gesetze sind Importe der UNRWA nach Gaza eingeschränkt – aus diesem Grund nutzt die Agentur in Koordination mit anderen UN-Organisationen deren Labels und Logos, um weiterhin Hilfe leisten zu können. Der dadurch nur scheinbar reduzierte Anteil der UNRWA-Hilfe in Gaza wird jedoch von der israelischen Regierung instrumentalisiert, um die Bedeutung der UNRWA und die Auswirkungen des Banns herunterzuspielen.
Es ist wahrscheinlich, dass andere Organisationen versuchen werden, die Rolle der UNRWA zu übernehmen. Allerdings werden sie keinesfalls über auch nur annähernd vergleichbare Kapazitäten verfügen. Da es unwahrscheinlich ist, dass ein einfaches Re-Labeling zugunsten von Organisationen wie dem World Food Programme oder UNICEF für die israelischen Behörden akzeptabel wäre, würde der Aufbau einer komplett neuen Infrastruktur – inklusive Personal, Lieferketten und Logistik – mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Die Leidtragenden dieser Verzögerung und Unsicherheit wären die Menschen in Gaza.
Allerdings bleibt abzuwarten, ob das Gesetz tatsächlich umgesetzt wird, insbesondere im Licht des laufenden Völkermord-Verfahrens gegen Israel, das explizit humanitäre Fragen adressiert, sowie der internationalen Haftbefehle gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant, die ähnliche Anliegen betreffen. Hier wäre es wichtig, dass auch die Bundesregierung aktiv wird, um die Implementierung des Gesetzes zu verhindern und so die humanitäre Versorgung in Gaza sicherzustellen. Letztlich bleibt es angesichts der fehlenden Ordnung in Gaza und der Ungewissheit um die UNRWA unklar, ob die momentane Erhöhung der humanitären Hilfe in Gaza einen dauerhaften Effekt haben oder lediglich ein schnelllebiges Strohfeuer sein wird. Letzteres erscheint wahrscheinlicher.
Ein Blick auf den bekannten Teil des Abkommens offenbart das Fehlen einer klaren Zukunftsvision für Gaza und darüber hinaus für Palästina.
Ein Blick auf den bekannten Teil des Abkommens offenbart das Fehlen einer klaren Zukunftsvision für Gaza und darüber hinaus für Palästina. Der Text enthält keinerlei Perspektive, die auf die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung der Palästinenserinnen und Palästinenser hinweist. In seiner vorliegenden Form führt das Abkommen zu einer weitgehend unkontrollierten Deeskalation, die die Menschen in einem mehr oder weniger anarchischen Zustand zurücklässt. In einem solchen Vakuum ist ein geordneter Wiederaufbau nahezu unmöglich. Ein solcher muss zwingend in einen politischen Prozess eingebettet sein, da nur so die Ursachen der Gewalt beseitigt werden können. Unter den gegebenen Bedingungen erscheint jedoch ein anderes Szenario – nach dem der Wiederaufnahme des Krieges – wahrscheinlicher: ein verelendeter, fragmentierter Küstenstreifen, in dem Überreste bewaffneter Gruppen und ökonomisch motivierte „Warlords“ die Zivilgesellschaft terrorisieren und ihr das Leben unerträglich machen. Das darf keinesfalls zugelassen werden.
Die Idee von Präsident Trump, die Palästinenser aus Gaza nach Jordanien und Ägypten zu bringen und den Gazastreifen folglich ethnisch zu säubern, stieß bei israelischen Rechtsradikalen wie Finanzminister Bezalel Smotrich und dem nun ehemaligen Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir auf volle Zustimmung, wurde aber unverzüglich von den von Trump ins Spiel gebrachten Ländern abgelehnt. Ob es sich bei dem Vorschlag um einen ernsthaften Vorschlag Trumps oder um eine einfach dahergeredete Idee handelt, ist nicht bekannt, jedoch sollte klar sein, dass dies keine realistische Option ist und ein weiteres Verbrechen an den Palästinenserinnen und Palästinensern darstellen würde.
Um tatsächlich zu erreichen, dass alle Menschen in der Region – einschließlich der Palästinenserinnen und Palästinenser – mit gleichen Rechten in Frieden, Freiheit und Würde leben können, darf die Lösung nicht in Gewalt, sondern muss in der Politik liegen. Besonders die USA und Deutschland sollten sich nach 15 Monaten unkritischer Unterstützung der von Anfang an unrealistischen Kriegsziele der in Teilen rechtsradikalen israelischen Regierung fragen, welche politischen Ansätze in anderen Kontexten zu nachhaltigem Frieden geführt haben und wie sie ein- und umgesetzt werden könnten. Denn dieser Krieg in Gaza muss der letzte gewesen sein.