Es war ein großer Moment für die neuen Machthaber in Damaskus – auf einer „Siegeskonferenz“ wurde der langjährige Anführer von Hayat Tahrir al-Sham(HTS), Ahmed Al-Sharaa am 29. Januar 2025 zum Übergangspräsidenten Syriens bestimmt. Al-Sharaa, dessen Rebellenbündnis überraschend das Regime von Bashar al-Assad innerhalb von wenigen Tagen stürzte, hat seit der Machtübernahme vieles richtig gemacht. So hat er, der erst 2016 mit der islamistischen Terrororganisation Al-Qaida brach, den vielen religiösen und ethnischen Minderheiten Syriens Schutz sowie den Wiederaufbau von staatlichen Institutionen versprochen. Auch Vergeltungsaktionen gegen ehemalige Unterstützer des Assad-Regimes sind weitgehend ausgeblieben. Seit der Machtübernahme geben sich internationale Delegationen, darunter auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Damaskus die Klinke in die Hand. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der von ihm geführten Übergangsregierung ist überall erkennbar.
Trotzdem bleibt eine wichtige Frage offen – wie soll es mit den, je nach Zählweise, hunderten von bewaffneten Gruppen weitergehen? Bilder der Siegeskonferenz zeigen Al-Sharaa im dunklen Anzug umgeben von Männern in olivfarbenen Kampfanzügen: Es sind die wichtigsten Führer der verschiedenen bewaffneten Gruppen, deren Kämpfer die Offensive gegen Assad Ende 2024 unterstützt haben. Sie alle hatten im Dezember angekündigt, dass sie ihre Verbände dem nun HTS-geführten syrischen Verteidigungsministerium unterstellen wollten. Andere bewaffnete Bewegungen, darunter die Kurdisch-dominierten Syrian Democratic Forces (SDF), sowie verschiedene kleinere Rebellengruppen aus Suwayda und Daraa im Süden Syriens, waren hingegen ebenso wenig vertreten wie die syrische Zivilgesellschaft.
Dies zeigt zweierlei Herausforderungen für die neue Regierung. Obwohl der Sturz von Assad von weiten Teilen der syrischen Gesellschaft gefeiert wurde, basiert die politische Macht der neuen Führung vor allem auf den Kommandanten verschiedener bewaffneter Gruppen. Nach der Entlassung der führenden Vertreter des alten Regimes hat die HTS zwar den Staatsapparat übernommen, sie verfügt aber nur über wenig Erfahrung im bürokratischen Tagesgeschäft. „Fünf Kommandeure, die per WhatsApp versuchen einen Staat zu lenken“, so beschreibt ein erfahrener Syrienkenner die aktuelle Situation in Damaskus. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass staatliche Institutionen weithin in einem postrevolutionären Schockzustand verweilen. Das gilt insbesondere für den Bereich öffentliche Sicherheit – die in der Bevölkerung verhassten Polizeibeamten des alten Regimes sind entweder geflohen oder wurden entlassen. Ihre Arbeit übernehmen die hierfür kaum vorbereiteten und zahlenmäßig schwachen Kämpfer der HTS.
Die Kämpfe zwischen den von der Türkei unterstützten syrischen Milizen und der SDF gehen auch nach dem Fall des Assad-Regimes weiter.
Zweitens kontrolliert die neue Regierung keineswegs das gesamte Staatsgebiet. Im Nordosten Syriens hält die SDF weiterhin etwa ein Viertel des Landes und hat dort eigene Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Die türkische Regierung, die selbst zu den Unterstützern der HTS gehört, bekämpft die SDF und wirft ihr vor, einen unabhängigen kurdischen Staat schaffen zu wollen. Die Kämpfe zwischen den von der Türkei unterstützten syrischen Milizen und der SDF gehen auch nach dem Fall des Assad-Regimes weiter.
Im Südwesten hat die israelische Regierung den Umsturz genutzt, um weitere Teile Syriens zu besetzen. Laut israelischen Medienberichten besteht das Ziel in der Schaffung einer „Einflusszone“, um die Siedlungen auf dem besetzten Golan zu schützen. Bereits im Dezember hatte die israelische Luftwaffe mehrere hundert Angriffe auf syrische Militäreinrichtungen geflogen, um zu verhindern, dass die Bestände an modernen Waffen den Rebellen in die Hände fallen. Al-Sharaa hat die Angriffe und den israelischen Vormarsch kritisiert, gleichzeitig aber den Friedenswillen seiner Regierung betont. Bemerkenswerterweise wird diese eher konziliante Position vom Iran, dessen Einfluss nach der Revolution deutlich gesunken ist, genutzt, um die HTS als israelischen Lakaien und Verräter an der Sache der Palästinenser darzustellen. Die iranischen Revolutionsgarden haben durch den Sturz Assads wichtige Transportverbindungen für den Schmuggel zu ihren Verbündeten im Libanon verloren. Teheran ist nicht bereit, dies zu akzeptieren, und hat bereits damit begonnen, durch eine gezielte Desinformationskampagne Unruhe unter ethnischen und religiösen Minderheiten zu schüren. So sei die moderate Haltung der neuen Machthaber nur Fassade und in Wirklichkeit wolle die HTS ein islamisches Kalifat nach afghanischem Modell ausrufen.
Gerade unter den Alawiten findet diese Erzählung Anklang. Ähnlich wie die kurdische SDF, die Milizen der Drusen oder auch die Kämpfer der Southern Operations, weigern sich auch die meisten alawitischen Kämpfer, ihre Waffen abzugeben. Diese Gruppen eint nicht nur ihre Ablehnung des türkischen Einflusses und der fundamentalistischen Ideologie der HTS, sondern auch die Tatsache, dass sie sich zuvor mit dem Assad-Regime arrangiert hatten. Sollte die HTS versuchen, sie gewaltsam zu entwaffnen, könnte dies den Beginn eines neuen syrischen Bürgerkriegs markieren. Hinzu kommt, dass viele der von Al-Sharaa entlassenen Angehörigen von Assads Sicherheitskräften sich vermutlich einer zukünftigen Anti-HTS-Koalition anschließen würden. Eine solche Bewegung könnte erneut iranische und möglicherweise auch russische Unterstützung erhalten, was den Konflikt weiter eskalieren lassen würde.
Dies zeigt deutlich, dass die Entwaffnung der verschiedenen Milizen sowie der Aufbau eines neuen, weltanschaulich und ethnisch neutralen Sicherheitsapparats die zentrale Zukunftsaufgabe für die neue syrische Regierung darstellt. Zwar haben mehr als 70 bewaffnete Gruppen nach der Siegeskonferenz ihre Eingliederung in die neuen syrischen Streitkräfte zugesagt, doch bislang gibt es kaum konkrete Pläne, wie dieser Prozess ablaufen soll. Die Integration soll schrittweise erfolgen, was darauf hindeutet, dass die einzelnen Gruppen zwar bereit sind, sich einem gemeinsamen Oberkommando zu unterstellen – vermutlich in der Hoffnung, künftig aus der syrischen Staatskasse bezahlt zu werden –, dass sie ihre Autonomie und die Kontrolle über ihre Herrschaftsgebiete jedoch zumindest vorläufig behalten wollen.
Dieser pragmatische Ansatz birgt jedoch bereits die Gefahr des Scheiterns.
Dieser pragmatische Ansatz birgt jedoch bereits die Gefahr des Scheiterns, da die bestehenden Kommandostrukturen erhalten bleiben. Wie in anderen Konfliktregionen zu beobachten war – von Libyen bis zum Südsudan –, steigt dadurch das Risiko, dass politische Spannungen schnell in neue Gewalt umschlagen. Zudem ist absehbar, dass der wirtschaftlich schwer angeschlagene syrische Staat kaum in der Lage sein wird, mehrere zehntausend, meist schlecht ausgebildete Kämpfer langfristig zu finanzieren. Ein sinnvollerer Ansatz wäre, einerseits die Angehörigen der Rebellengruppen zu entwaffnen und ihre Wiedereingliederung in das zivile Leben durch materielle Unterstützung zu fördern. Andererseits müsste ein neuer, professioneller Sicherheitsapparat aufgebaut werden, der Angehörigen aller syrischer Bevölkerungsgruppen gleichermaßen offensteht.
Positive Erfahrungen mit diesem Modell hat die internationale Gemeinschaft beispielsweise nach dem Ende des Bürgerkriegs in Liberia gemacht. Dort verhinderte eine robuste Friedensmission der Vereinten Nationen das Entstehen eines Sicherheitsvakuums. Ein vergleichbares Szenario ist in Syrien jedoch kaum zu erwarten. Die HTS steht den Vereinten Nationen distanziert gegenüber, und der Sicherheitsrat bleibt in seiner Bewertung der Lage gespalten. Zudem bestehen die UN-Sanktionen gegen die HTS fort, was eine Zusammenarbeit bei der Reform der Sicherheitskräfte erheblich erschwert.
Eine Aufhebung oder auch nur eine Abmilderung der Sanktionen dürfte am Veto Chinas (in den Reihen der HTS kämpfen auch uigurische Jihadisten) und möglicherweise Russlands scheitern. Westliche Partner, darunter auch Deutschland, haben zwar Interesse an einer Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern signalisiert, sie zögern jedoch, sich in politisch heikle Themen wie Entwaffnung und Demobilisierung einzubringen. Auch von der Türkei und den Golfstaaten sind bislang kaum nennenswerte Initiativen in dieser Richtung bekannt geworden.
Diese internationale Zurückhaltung ist problematisch, da Erfahrungen aus anderen Konfliktregionen zeigen, dass das Zeitfenster für grundlegende Reformen in diesem Bereich begrenzt ist. Je länger die Demobilisierung der Milizen und der Aufbau neuer Sicherheitskräfte hinausgezögert werden, desto größer ist das Risiko eines Scheiterns. Ethnische und konfessionelle Spannungen könnten sich verschärfen, und das Land könnte nach dem Ende der revolutionären Euphorie erneut zum Spielball regionaler Mächte werden. Umso wichtiger wäre es, dass die internationale Gemeinschaft die syrische Regierung bei diesem Prozess mit Rat und Tat unterstützt.