Fast zehn Monate dauert der desaströse Gaza-Krieg nach den terroristischen Anschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bereits an. Darüber hinaus hält die Gewalt im Gaza-Streifen die gesamte Region im Würgegriff und sorgt für die Gefahr einer regionalen Eskalation. Das Risiko eines offenen Krieges zwischen der israelischen Armee und der libanesischen Hisbollah wächst täglich, während die jemenitischen Huthis seit Monaten die internationale Schifffahrt im Roten Meer mit Drohnen- und Raketenangriffen bedrohen. Die Feindschaft zwischen Israel und Iran wird immer offener ausgetragen und schlug sich bereits in direkten Attacken nieder.
Bisher zeigen einige einflussreiche regionale Akteure jedoch kein Interesse daran, den Konflikt außer Kontrolle geraten zu lassen – zu sehr fürchten sie eine Spirale der Gewalt, die sie nicht managen könnten und in den Sog direkt hineingezogen zu werden. Zu diesen Akteuren gehören insbesondere die arabischen Golfmonarchien. In den letzten Jahren verfolgen sie eine Strategie der regionalen Deeskalation, der Risikominimierung und der taktischen Annäherung. Dies zeigt sich an der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den Rivalen Iran und Saudi-Arabien im März 2023 sowie dem Besuch des mittlerweile bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen ehemaligen iranischen Präsidenten Ibrahim Raisi in Riad zu einem Krisengipfel der Organisation islamischer Staaten (OIC) kurz nach Beginn des Gaza-Krieges.
Auch Bahrain sucht die Annäherung an Iran, obwohl die Islamische Republik von den bahrainischen Herrschern als Bedrohung der eigenen Macht wahrgenommen werden. Im Januar 2021 legten die arabischen Golfmonarchien ihren seit 2017 andauernden Konflikt bei, der in der Blockade Katars durch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten gemündet und zu tiefgreifenden golfinternen Verwerfungen geführt hatte. Und 2020 folgte die historische Entscheidung der VAE und Bahrain, im Rahmen der sogenannten „Abraham-Abkommen“ diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen.
Auch in den Golfstaaten hat die Solidarität mit den palästinensischen „Brüdern und Schwestern“ rapide zugenommen und kann von den Herrschern nicht ignoriert werden.
Solche Annäherungsprozesse sind kein Zufall: In den letzten Jahren ist den Herrschern am Golf bewusst geworden, dass Animositäten und Abgrenzung der eigenen Reputation und dem eigenen Geschäftsmodell schaden. Länder wie Saudi-Arabien durchlaufen einen komplizierten Transformationsprozess: Die ölabhängige Wirtschaft muss neue Einnahmequellen und Sektoren erschließen, weswegen der mächtige saudische Kronprinz Muhammad bin Salman den Ausbau des Tourismus oder der Sport- und Unterhaltungsindustrie sowie in ambitionierte Megaprojekte wie die Smart City The Line am Roten Meer forciert. Die Ziele sind eindeutig: Nur mit der Diversifizierung der Wirtschaft kann es dem Königshaus gelingen, die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren und die politische Macht zu bewahren. Ähnlich vielschichtige und komplizierte Prozesse durchlaufen auch die anderen Golfmonarchien. Auch wenn sie in vielerlei Hinsicht um Investoren und Marktzugänge konkurrieren und vor unterschiedlichen Herausforderungen stehen, eint sie doch eine Formel: ohne regionale Stabilität kein nationaler Fortschritt und ohne nationalen Fortschritt kein politisches Überleben.
Vor diesem Hintergrund bedroht der Gaza-Krieg und das damit zusammenhängende Schreckensszenario einer regionalen Eskalation die Geschäftsinteressen und das politische Machtkalkül der arabischen Herrscher. Je mehr die Situation im Roten Meer außer Kontrolle gerät, desto stärker werden geostrategische Konnektivitätsinteressen der VAE, die sich als „neues Venedig“ begreifen und längst ein maritimes Netzwerk über die Beteiligung an afrikanischen, arabischen, asiatischen und europäischen Häfen aufgebaut haben, gefährdet. Für Saudi-Arabien ist es unerlässlich, dass ausländische Investitionen ins Land fließen, um die gigantischen Pläne und Projekte auch realisieren zu können. Unruhe in der direkten Nachbarschaft schadet diesem Vorhaben, da auch der Status des Königreichs als sicherer Investitionsstandort leiden könnte.
So kam es bis 2022 immer wieder zu Angriffen der Huthis auf saudische Ziele. Zwar scheint diese Gefahr derzeit gebannt, doch könnten solche Attacken immer wieder aufflammen. Sollte es zu einem offenen Krieg zwischen Israel und der Hisbollah kommen, könnten sich Angriffe aus dem Libanon auch gegen Ziele in Saudi-Arabien – zum Beispiel US-Stellungen – richten. Immerhin verfügt die Hisbollah über ein Arsenal von etwa 130 000 Raketen. Katar ist als wichtiger Exporteur und Produzent von Erdgas ebenfalls auf freie Handelswege angewiesen, teilt sich das größte Gasfeld der Erde mit Iran und zeigt demnach ebenfalls kein Interesse an einer regionalen Dauerkrise.
Saudi-Arabien präsentiert sich seit Beginn des Gaza-Kriegs als regionale Führungsmacht.
Aus diesen Gründen versuchen alle Golfmonarchien auf unterschiedlichem Wege, den Konflikt einzuhegen und zu managen: Saudi-Arabien präsentiert sich seit Beginn des Gaza-Kriegs als regionale Führungsmacht, die sich für die palästinensische Sache einsetzt und Israel hart kritisiert. Vertreter der saudischen Regierung verweisen auf die Arabische Friedensinitiative von 2002, die maßgeblich vom damaligen saudischen König Abdullah initiiert worden war und eine Zwei-Staaten-Lösung als Ziel formuliert. Damit will sich das Königreich als Unterstützer der Palästinenser darstellen, immerhin trägt Saudi-Arabien als „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ Mekka und Medina auch moralisch-religiöse Verantwortung für Palästina. Erhöhter Druck kommt auch von den jeweiligen Bevölkerungen: Auch in den Golfstaaten hat die Solidarität mit den palästinensischen „Brüdern und Schwestern“ rapide zugenommen und kann von den Herrschern nicht ignoriert werden.
Außerdem hält es eine Trumpfkarte in den Händen: Die Verhandlungen mit den USA und Israel über eine mögliche Normalisierung der Beziehungen mit Israel wurden nach dem 7. Oktober zwar ausgesetzt, werden aber von der saudischen Führung strategisch klug instrumentalisiert, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Immerhin geht es Saudi-Arabien um ein Sicherheitsabkommen mit den USA, das Rüstungszusagen und Schutzgarantien sowie die Erlaubnis, ein nationales ziviles Nuklearprogramm aufbauen zu dürfen, beinhalten soll. Befanden sich diese Gespräche vor dem Beginn des Krieges in einer aussichtsreichen Situation, erscheint es für Saudi-Arabien derzeit aufgrund des brutalen israelischen Vorgehens in Gaza jedoch unmöglich, mit Premierminister Benjamin Netanjahu über die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu verhandeln; einige saudische Analysten nennen die Regierung von Netanjahu eine „faschistische Koalition“. Deswegen spielt Riad auf Zeit und ist daran interessiert, sich alle Optionen offenzuhalten. Möglicherweise hofft man auf einen Wahlsieg Donald Trumps, um die eigene Verhandlungsposition weiter zu verbessern.
Die VAE haben diese Trumpfkarte mit ihrer Unterzeichnung der sogenannten „Abraham-Abkommen“ 2020 aus der Hand gegeben. Damals normalisierten sie gemeinsam mit Bahrain und anderen nicht-golfarabischen Staaten ihre Beziehungen zu Israel. Das Kalkül, auf diplomatischem Wege die israelische Regierung zu einer Zwei-Staaten-Lösung bewegen zu können, entpuppte sich allerdings als illusorisch. Deswegen steckt Abu Dhabi nun in einer Zwickmühle: Einerseits profitiert das emiratische Geschäftsmodell von den erstarkten Handelsbeziehungen zu Israel. Beide Staaten haben Handelsabkommen unterschrieben, und 2023 waren tausend israelische Unternehmen in den VAE aktiv. Andererseits rütteln die Abraham-Abkommen aber auch an der politischen Legitimation der emiratischen Führung: In einer Umfrage aus dem Januar 2024 äußerten sich 67 Prozent der Befragten kritisch zur Rolle der VAE im Gaza-Krieg. Bisher ist es den Emiraten jedenfalls nicht gelungen, ihre diplomatischen Kanäle zu Israel für eine Deeskalation zu nutzen. Eine Aufkündigung der Abraham-Abkommen wird dagegen auch nicht ernsthaft in Betracht gezogen, da sich die Herrscher in Abu Dhabi langfristig strategische Tiefe und wirtschaftliche Rendite von diesem Deal versprechen.
Seit 2012 unterhält die katarische Führung konziliante Beziehungen zu Teilen der islamistischen Bewegung.
Zuletzt ist das dritte Schwergewicht am Golf, Katar, als Vermittler zwischen der israelischen Regierung und der Hamas in die Weltöffentlichkeit gerückt. Seit 2012 unterhält die katarische Führung konziliante Beziehungen zu Teilen der islamistischen Bewegung und Hamas-Vertreter wie Ismail Haniyya leben in Doha. Bereits 2006, 2009 und 2014 vermittelte Katar im Nahostkonflikt und hat seitdem seinen Einfluss als einflussreicher Netzwerker und Verhandler ausgeweitet. Dies zeigt sich insbesondere in der prominenten Rolle, die Katar bei den Verhandlungen mit Hamas um die Freilassung der israelischen Geiseln einnimmt. Damit gelang es dem kleinen Emirat, seine Relevanz als hyperaktiver Netzwerker auf der Weltbühne zu konsolidieren. Mittlerweile steht Katar aber wegen seiner Nähe zur Hamas in der Kritik und sieht sich verdächtigt, terroristische Strukturen unterstützt zu haben. Immerhin soll Katar seit 2007 etwa zwei Milliarden US-Dollar an finanzieller Unterstützung an die Hamas geleistet haben – was von Israel geduldet und teilweise sogar unterstützt worden war.
Saudi-Arabien, die VAE und Katar suchen also mit eigenen Instrumenten und Strategien, den Gaza-Krieg in ihrem Sinne zu managen und zu deeskalieren. Der Gaza-Krieg verlangt somit von den arabischen Golfmonarchien eine Neu-Definition ihrer politischen Strategien. Bislang versuchten sie, regionale Konflikte mehrheitlich zu managen, um nationale Ziele zu erreichen. Dieser Kurs greift jedoch zu kurz. Stattdessen braucht es einen Ansatz des partnerschaftlichen Miteinanders, um die Krisen in der Nachbarschaft langfristig zu deeskalieren. Bis dato ist es den Golfmonarchien nicht gelungen, ihre Ansätze zu koordinieren und konkrete Strategien für ein Post-Kriegs-Gaza zu entwickeln. So lehnen sie es ab, die gigantischen Kosten von mindestens 20 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau mittragen zu wollen. Zwar sagten sie in der Vergangenheit immer wieder umfassende Hilfsmittel für Gaza zu, ein Großteil dieser Versprechungen wurde allerdings nicht eingehalten; momentan wollen sie nicht für die von Israel verursachten Schäden aufkommen und betrachten Hilfsleistungen als ineffizient, sollten zukünftig ähnliche Zerstörungen durch Israel drohen. Ohne politische Sicherheitsgarantien und einen Fahrplan für eine Zwei-Staaten-Lösung scheint golfarabische Unterstützung demnach unrealistisch zu sein.
Dabei verfügen die Golfmonarchien über die notwendigen Netzwerke zu unterschiedlichen Konfliktparteien sowie zu internationalen Akteuren, um Dialog zu initiieren und auf ein Nachkriegsszenario hinzuarbeiten. Im März 2024 hat der Golfkooperationsrat, zu dem die sechs Golfmonarchien gehören, erstmals in seiner 43-jährigen Geschichte eine gemeinsame Vision für die regionale Sicherheit vorgestellt. Darin wird ausdrücklich die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung auf Grundlage der Arabischen Friedensinitiative gefordert, um eine gerechte Lösung der palästinensischen Frage zu erreichen. Zwar werden durch eine solche Verlautbarung die nationalen Eigeninteressen, die unterschiedlichen Egos der Herrscher und das gegenseitige Konkurrenzdenken nicht obsolet, sie könnte aber als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Strategie dienen, welche die heterogenen Interessen der Einzelstaaten berücksichtigt und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten betont. So könnte Saudi-Arabien als wichtigste golfarabische Führungskraft die Maßnahmen koordinieren und legitimieren, während Katar mit seinen Kommunikationskanälen zur Hamas und die VAE zur israelischen Regierung ihr diplomatisches Kapital zielgerichteter als bisher einsetzen könnten.