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Jordanien hat sich einen Ruf als Stabilitätsanker im Nahen Osten erarbeitet. Das Land hat trotz direkter Nachbarschaft zu Syrien, Irak, Israel und Palästina in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche Vielzahl von Krisen unbeschadet überstanden. In Amman werden regionale Konflikte in ruhiger Atmosphäre gemanagt oder besprochen, aber niemals ausgelöst. Das im Ausland als liberal geschätzte Königshaus hat Gesprächskanäle zu allen relevanten Akteuren. Stabilität gehört zum Markenkern des Landes. Die von der neuen israelischen Regierung unter Premier Netanjahu geplante völkerrechtswidrige Annexion von etwa einem Drittel des Westjordanlands inklusive des westlichen Jordantals bringt König Abdallah II in eine Zwickmühle. Egal, was er tut, die Folgen sind schlecht für die Entwicklung seines Landes.
Die meisten Jordanier erwarten vom König, dass er alles in seiner Macht stehende tun wird, um die Annexion zu verhindern. Schließlich begräbt sie nicht nur die Zwei-Staaten-Lösung endgültig, sie verletzt auch den Geist und Buchstaben des Friedensabkommens zwischen Israel und Jordanien. Den Geist, weil Voraussetzung für die jordanische Unterzeichnung des Vertrags die Aussicht auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat war. Den Buchstaben, weil Israel damit unilateral eine Änderung der im Abkommen markierten Grenzen vornähme. Es gibt prominente Stimmen in Jordanien, die in der geplanten Annexion eine unausgesprochene Kriegserklärung an Jordanien sehen. Das Land habe daher gar keine andere Wahl, als das Friedensabkommen mit Israel zu kündigen.
Um den auf dem König lastenden Druck zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Demographie. Mindestens 60 Prozent des jordanischen Volkes hat palästinensische Wurzeln und verfolgt die Zuspitzung der Lage westlich des Jordans mit Sorge und Wut. Von den sogenannten Transjordaniern schauen ebenfalls einige besorgt nach Westen. Sie befürchten für den Fall einer Annexion die Ankunft neuer palästinensischer Flüchtlinge. Denn ohne die Perspektive auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat wird vermutet, dass nach und nach tausende Palästinenser aus dem Westjordanland Verwandte in Jordanien „besuchen“ werden, um dann zu bleiben.
Die vom israelischen Likud immer wieder aufgewärmte Vorstellung eines palästinensischen Staates östlich des Jordans bekommt durch die Annexionspläne neue Brisanz und beginnt, den gesellschaftlichen Frieden in Jordanien zu bedrohen. In jedem Fall würde sich die sensible demographische Balance im Land erneut verändern, was perspektivisch für Unruhe gerade unter den zum Teil bewaffneten jordanischen Stämmen sorgen wird.
Klar ist, der König muss handeln. Einerseits symbolisch, um zu demonstrieren, dass die haschemitische Dynastie die Interessen aller Jordanier vertritt. Andererseits aber auch realpolitisch mit dem konkreten Ziel, die Annexion zu verhindern oder zumindest im Ausmaß zu reduzieren, denn sie berührt empfindlich jordanische Sicherheitsinteressen und bedroht indirekt den bestehenden Gesellschaftsvertrag.
Sollte das westliche Jordantal tatsächlich annektiert werden, wäre es denkbar, dass König Abdallah das Ende des Friedensvertrags mit Israel ankündigt.
Sollte das westliche Jordantal tatsächlich annektiert werden, wäre es denkbar, dass König Abdallah das Ende des Friedensvertrags mit Israel ankündigt. Er würde damit sein Ansehen im Volk weiter steigern, sich die Unterstützung relevanter Einflussgrößen im Land sichern und einer zermürbenden Legendenbildung zuvorkommen. Eine direkte Drohung Jordaniens mit dem Ende des Friedensvertrages würde in Israel sicher Eindruck machen – zumindest in den Reihen der Blau-Weiß-Bewegung von Benny Gantz. Und bei Entscheidungsträgern im Sicherheitssektor, aus deren Perspektive ein gutes Verhältnis mit Jordanien strategische Tiefe in Richtung Iran verleiht. So könnte in Israel eine neue Debatte um Risiken der Annexion oder zumindest deren Umfang entstehen. Das wäre im jordanischen Interesse.
Nebenwirkung wäre allerdings die vermutlich verschnupfte Reaktion aus Washington. Präsident Trump verfolgt mit seinem „Jahrhundert-Deal“ offensichtlich Wahlkampfzwecke. Konkret geht es darum, die Stimmen evangelikaler Wähler zu sichern, die geschätzt ein Viertel seiner Wählerschaft ausmachen. Er würde darum vermutlich nicht goutieren, wenn König Abdallah seinen Nahostplan und die dazugehörende Landnahme offen durchkreuzt. Und er hat einen Hebel: Die USA sind Jordaniens größter bilateraler Geldgeber mit einem Mindestbetrag von 1,25 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Die Hälfte dieser Mittel wird dabei, anders als bei anderen Gebern, direkt als Budgethilfe gewährt. Auf dieses Geld und die damit verbundene Sicherheit für die Staatsfinanzen ist Jordanien gerade während der Corona-Krise dringend angewiesen. Die USA als Partner und Finanzier zu verlieren, kann sich Jordanien kaum leisten.
Wählt der König allerdings eine weichere Gangart, riskiert er einen dramatischen Autoritätsverlust im eigenen Land. Kurzfristig kann er damit sicher umgehen, zumal in Jordanien derzeit Corona-bedingt das Verteidigungsrecht gilt, inklusive Demonstrationsverbot und eingeschränkter Pressefreiheit. Gefährlich wäre aber die Entstehung einer Dolchstoßlegende, die alle zukünftigen Gegner der Dynastie im eigenen Land mit einem wirkmächtigen Narrativ ausstattet. Dafür würde es reichen, in den sozialen Medien zu verbreiten, dass König Abdallah II im Frühsommer 2020 die historische Chance hatte, die Annexion zu verhindern, sie aber nicht genutzt habe. Eine solche Geschichte, gewürzt mit bestätigenden Aussagen von Blau-Weiß-Politikern aus Israel, hätte Sprengkraft.
Als erste innenpolitische Folge einer als zu schwach empfundenen Reaktion des Königs wäre ein Rückschritt der Demokratieentwicklung in Jordanien wahrscheinlich. Der voraussehbare Preis für den Verlust von Autorität und Integrationskraft des Königs wäre eine deutliche Verschiebung der sensiblen Balance zwischen Sicherheit und Freiheit in Richtung Sicherheit, Diskurskontrolle und Repression. König Abdallah wünscht sich eine demokratische Monarchie. Priorität hat aber der Erhalt der Dynastie an der Macht. Die politische Ermordung des irakischen Zweigs der Familie 1958 ist nicht vergessen. Bisher hat Jordanien im regionalen Vergleich eine sehr lebendige Zivilgesellschaft, eine zuverlässige Justiz, eine vergleichsweise gute Menschenrechtslage und regelmäßige, korrekt ablaufende Parlamentswahlen.
Kündigt der König das Friedensabkommen auf, droht der Staatsbankrott.
Wenn Israel tatsächlich das Jordantal annektiert, ist all das gefährdet. Kündigt der König das Friedensabkommen auf, droht der Staatsbankrott. Tut er es nicht, droht langfristig offener Widerstand gegen haschemitische Herrschaft, und kurzfristig ein Rückbau von Freiheitsrechten. Außerdem ist das Wiederaufbrechen alter Ressentiments zwischen Jordaniern palästinensischer und transjordanischer Herkunft zu befürchten. Weniger dramatisch würde sich die Situation darstellen, wenn die israelische Landnahme kleiner ausfiele als derzeit geplant. Eine Annexion großer Siedlungsblöcke wie Gush Etzion und Maale Adumin ohne das Jordantal wäre zwar gleichermaßen völkerrechtswidrig, würde aber jordanische Sicherheitsinteressen und den Grenzverlauf weniger direkt tangieren. In einem solchen Fall würde der König innenpolitisch weniger unter Druck geraten, wenn er auf die Kündigung des Friedensabkommens verzichtet.
Abhängig vom Ausmaß der Annexion sind eine Reihe von Reaktionen denkbar, vom Abzug des jordanischen Botschafters aus Tel Aviv, verbunden mit der Ausweisung des israelischen Botschafters aus Amman, über das Aussetzen der Sicherheitskooperation mit Israel bis hin zu einer weniger strengen Bewachung der Grenze. All das würde allerdings in Jordanien innenpolitisch als unzureichend angesehen werden. Um einen Autoritätsverlust zu vermeiden, wird der König mindestens die Kündigung des sehr unpopulären Gas-Lieferungsabkommens mit Israel veranlassen müssen. Israel hat außer Ägypten und Jordanien keine Kunden für sein Offshore-Gas und produziert mehr als es braucht. Anders als mitunter dargestellt ist das Abkommen zurzeit für Israel wichtiger als für Jordanien. Aus jordanischer Perspektive ist das israelische Gas nicht nur politisch problematisch, sondern derzeit auch viel teurer als zum Beispiel Flüssiggas aus Katar und nicht nach Bedarf dosierbar. Jordanien hat derzeit Überkapazitäten in einem Ausmaß, das schon zu einer Vollbremsung beim Ausbau der erneuerbaren Energien geführt hat. Eine Kündigung des Gas-Deals schlüge daher trotz drohender Vertragsstrafe mehrere Fliegen mit einer Klappe.
Die schärfste mögliche Reaktion wäre die formelle Aufhebung des Friedensabkommens. Jordanien und Israel haben bislang gegenseitig vom Wadi-Araba-Friedensvertrag profitiert. In vielen Bereichen (Kooperation der Dienste gegen den IS, Überflugrechte, Grenzschutz etc.) würde man sich vermutlich hinter verschlossenen Türen auch ohne Abkommen einigen. Die Kündigung würde keinesfalls Krieg zwischen beiden Ländern bedeuten. Dramatischer als das Einfrieren der offiziellen Beziehungen wäre neben ausbleibenden israelischen Wasserlieferungen vor allem die zu befürchtende Reaktion der Trump-Administration. In Ost-Jerusalem drohen zudem Unruhen, sollte Israel die im Friedensvertrag festgelegte und seit 1924 bestehende Hüterrolle der Haschemiten auf dem Tempelberg für beendet erklären.
Um diesen Extremschritt zu vermeiden, ist die Monarchie derzeit diplomatisch sehr aktiv. Das Land ist in Washington in beiden Lagern des politischen Spektrums hervorragend vernetzt und nutzt seine Kontakte auf dem Capitol Hill. Minimalziel ist vermutlich, die Annexionsbestrebungen territorial zu verkleinern und das westliche Jordantal auszuklammern. Das Spiegel-Interview des Königs am 15. Mai lässt sich ebenfalls in diesen Kontext einordnen. Die Tatsache, dass die erste versteckte Drohung des jordanischen Königs an Israel mit einem „massiven Konflikt“ und der Prüfung „sämtliche(r) Optionen“ ausgerechnet in der deutschen Presse geäußert wurde, ist kein Zufall.
Denn der Annexionsbeschluss ist für Juli angesetzt. Anfang des Monats übernimmt Deutschland dann nicht nur die EU-Ratspräsidentschaft, sondern auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Auf Deutschland wird dann die schwere Verantwortung lasten, Israel und die USA vor einem schweren Fehler zu bewahren und zu demonstrieren, dass sein Bekenntnis zur Zwei-Staatenlösung ernstgemeint ist.