Droht den USA die Schädigung der Kreditwürdigkeit? US-Finanzministerin Janet Yellen hat angekündigt, dass die gesetzliche Schuldenobergrenze des Bundes schon an diesem Donnerstag erreicht wird, und dass die Bundesregierung danach Sondermaßnahmen ergreifen muss, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, beispielsweise für die staatlichen Renten und Krankenversicherungsleistungen. Mittelfristig drohe nicht nur ein government shutdown, also die Zwangsschließung der Bundesbehörden, sondern vor allem eine nachhaltige und kostspielige Schädigung der Kreditwürdigkeit der USA. Yellen forderte den neugewählten Speaker des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, unmissverständlich dazu auf, die Schuldenobergrenze unverzüglich auszusetzen oder zu erweitern. Doch McCarthy hat ein Problem: Er musste für seinen späten Erfolg im 15. Wahlgang einen hohen Preis an besonders kompromisslose Abgeordnete seiner eigenen Fraktion bezahlen, unter anderem in Geschäftsordnungsfragen, und befindet sich nun faktisch in deren Geiselhaft. Ein einzelner Abgeordneter oder eine einzelne Abgeordnete kann nämlich die Absetzung des Speaker beantragen. Damit wird angesichts der knappen Mehrheit der Republikaner jede kontroverse Abstimmung zum potentiellen Misstrauensvotum gegen McCarthy.

Die Erhöhung der Schuldenobergrenze ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, weil der Kongress den Haushalt für 2023 ja schon beschlossen hat, der nun dazu führt, dass neue Schulden aufgenommen werden müssen. Doch insbesondere für die radikalen Mitglieder des Freedom Caucus in der Fraktion der Republikaner im Repräsentantenhaus ist er ein wesentliches Symbol für die „faulen Kompromisse“ des Washingtoner Establishments, die sie bekämpfen wollen. Sie haben ihre Zustimmung für McCarthy auch an die Bedingung geknüpft, dass die Obergrenze zukünftig nur im Austausch mit erheblichen Haushaltskürzungen erhöht werden soll. Grundsätzlich trifft diese Forderung wohl auf breite Zustimmung in der Fraktion, aber nur die entschlossensten MAGA-Republikaner – benannt nach Trumps Slogan Make America Great Again – haben dafür den Aufstand geprobt und sich zwischenzeitlich sogar ihrem Idol widersetzt. Es geht dabei nicht in erster Linie um Ideologie, aber durchaus um Grundsätzliches.

Und deshalb hat McCarthy den Speaker-Posten keineswegs für die nächsten zwei Jahre sicher, wie Marco Bitschnau schreibt. Denn er ist zwar einerseits ein ziemlich schamloser Opportunist, der bekanntlich kurz nach dem Aufstand am 6. Januar 2021 nach Mar-a-Lago pilgerte, um Trumps Ring zu küssen – was sich angesichts dessen Intervention bei der Speaker-Wahl wohl ausgezahlt hat, jedenfalls für den Moment. Aber McCarthy ist andererseits auch am Funktionieren der Institution interessiert, an der Regierungsarbeit. Und das heißt, dass er zu überparteilichen Kompromissen bereit ist – qua Amt bereit sein muss –, beispielsweise eben in der Frage der Erhöhung der Schuldenobergrenze. Auch Biden und die Demokraten haben Kompromissbereitschaft angekündigt – es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig, denn sie sind mittelbar eben auch in Geiselhaft des Freedom Caucus.

Denn ein Teil der Fraktion der Republikaner scheint bereit zu sein, auch die Schließung der Regierungsbehörden und die Gefährdung der Kreditwürdigkeit der USA in Kauf zu nehmen.

Doch der Aufstand der MAGA-Republikaner ist nicht vorbei, und es gibt auch keinen Burgfrieden. Denn ein Teil der Fraktion der Republikaner scheint bereit zu sein, auch die Schließung der Regierungsbehörden und die Gefährdung der Kreditwürdigkeit der USA in Kauf zu nehmen – und sie werden kaum zögern, McCarthy über die Klinge springen zu lassen, so wie schon McCarthys Republikanische Vorgänger im Amt des Speaker – John Boehner und Paul Ryan –, die ebenfalls zu den notwendigen, aber verhassten überparteilichen Kompromissen bereit waren.

Doch worum geht es den Abgeordneten des Freedom Caucus jetzt noch? Matt Gaetz, einer der Rädelsführer der „Rebellen“, begründete seine Enthaltung im letzten Wahlgang bei der Speaker-Wahl, die McCarthys Sieg ermöglichte, damit, dass ihm nichts mehr eingefallen sei, was er noch hätte fordern können. McCarthy gab ihnen Posten in wichtigen Ausschüssen und die Möglichkeit, die weaponization der Bundesregierung zu untersuchen, also die angebliche Hexenjagd auf Konservative durch FBI, Steuerbehörde und andere. Er hatte sogar versprechen müssen, dass er bei Vorwahlen der Republikaner nicht länger gegen die Kandidaten des Freedom Caucus und andere MAGA-Republikaner arbeiten wird, sprich: keine Spenden gegen sie mobilisiert. Das hat zwar mit dem Amt des Speaker überhaupt nichts zu tun, zeigt aber, dass es den „Rebellen“ in erster Linie um Macht geht. Das erklärt auch ihren Hang zum medienwirksamen Spektakel, das Spielen für die Galerie, das Desinteresse an tatsächlicher Parlamentsarbeit. Denn die meisten Abgeordneten kommen aus sicheren Wahlkreisen und müssen sich auf die Vorwahlen konzentrieren, wo vielfach Trumps Basis den Ton angibt. Man geht fehl, wenn man vorrangig nach inhaltlichen Interessen sucht, und versucht, Raum für Kompromisse auszuloten: Die Basis belohnt Überzeugungstäter und verachtet Kompromisse. Und deshalb geht man auch fehl, wenn man sich allein auf die Abgeordneten konzentriert, die den Widerstand gegen McCarthy angeführt haben.

Denn auch wenn der Personenkult um Donald Trump zuletzt Risse bekommen hat, so ist die neue Fraktion der Republikaner nämlich schlicht ein Spiegelbild der durch seinen Einfluss veränderten Partei. Moderate Konservative gibt es kaum noch. Die Mehrheit der Abgeordneten glaubt Trumps Lüge vom Wahlbetrug und scheint bereit, die demokratischen Institutionen zu untergraben, auch jenseits der skandalösen, aber legalen, administrativen Beeinträchtigung der Wahlbeteiligung von Minderheiten. Zwar hat der aus der Tea Party-Bewegung hervorgegangene Freedom Caucus nur etwa 40 Mitglieder, aber er wächst und hat auch jenseits der Speaker-Wahl überproportionalen Einfluss. Diesen Abgeordneten reicht es nicht, die Politik der Biden-Regierung zu blockieren und sie mit Untersuchungsausschüssen zu schikanieren. Bei einigen scheint es, als glaubten sie inzwischen ihre eigenen Verschwörungserzählungen eines bösartigen deep state, der im Hintergrund alles kontrolliert. Deshalb wächst die Bereitschaft, die Bundesregierung an die Wand fahren zu lassen, wenn sie nicht – wie bei der Speaker-Wahl – alles bekommen, was sie wollen. In diesem Sinne können manche der extremistischen Rebellen als Revolutionäre bezeichnet werden. Sie sind Verhandlungen nicht mehr zugänglich.

Die Demokraten stehen vor einem Dilemma.

Das stellt nicht nur McCarthy, sondern auch die Demokraten vor ein Dilemma. Verweigern sich die Extremisten einem Kompromiss bei der Erhöhung der Schuldenobergrenze – der aufgrund der divided government notwendigerweise ein überparteilicher sein muss, da Regierung und Mehrheit im Parlament von unterschiedlichen Parteien gestellt werden –, steht McCarthy möglicherweise vor dem Sturz, wenn er sich über sie hinwegsetzt. Dann müssten die Demokraten ihn entweder stützen oder sich zumindest bei der Speaker-Wahl enthalten, wenn sie nicht wollen, dass das Repräsentantenhaus völlig dysfunktional wird. Oder die Demokraten lassen es darauf ankommen und nehmen eine vorübergehende Schließung der Regierungsbehörden in Kauf, in der Hoffnung, dass die Republikaner für die Folgen zur Verantwortung gezogen würden, spätestens bei der Wahl 2024. Doch die Gefahr einer Rezession und einer dauerhaften Schädigung der Kreditwürdigkeit der USA ist groß.

Noch ist etwas Zeit. Durch die Notmaßnahmen, die Yellen nun ergreift, können die Regierungsbehörden einstweilen weiterarbeiten. Biden will sogar erst nach dem Steuertermin im April die Verhandlungen mit den Republikanern aufnehmen, weil dann die Finanzsituation des Bundes klarer sein wird. Nur mit wem wird er dann eigentlich wirklich verhandeln? Mit McCarthy und den verbliebenen „normalen“ Konservativen, die am Funktionieren der Institutionen interessiert sind? Oder doch mittelbar mit den Extremisten, die bereit sind, die Bundesregierung komplett handlungsunfähig zu machen, auch wenn das bedeutet, dass ihre eigenen Wählerinnen und Wähler Schaden nehmen?

Es ist gut möglich, dass die kompromisslosen Extremisten sich bei diesem innenpolitischen Spiel mit dem Feuer am Ende durchsetzen, eben weil ihnen nicht nur die Republikanische Mehrheit egal ist, sondern auch das Wohl des Landes. Geht es doch irgendwie gut, dann steht bald danach schon der Haushalt für 2024 an, inklusive der Unterstützung für die Ukraine, die von den isolationistischen und autokratischen Teilen der Republikanischen Fraktion abgelehnt wird. Auch da hat McCarthy Zugeständnisse gemacht, die Kompromisse erschweren: Es wird keine Paketlösungen mehr geben, sondern es müssen Einzelhaushalte beschlossen werden. Stillstand und Chaos sind die neue Normalität in der amerikanischen Politik.