Es war alles angerichtet an jenem 3. Januar, an dem sich der Kongressabgeordnete Kevin McCarthy seinen politischen Lebenstraum erfüllen wollte: das Sprecheramt, also den Vorsitz des Repräsentantenhauses zu erlangen und so zum nominell dritten Mann der US-amerikanischen Verfassungshierarchie aufzusteigen – den Vorsitz im Senat führt bekanntlich die Vizepräsidentin. Zumindest auf dem Papier erschien der Schritt nur folgerichtig, hatte McCarthy, ein hager anmutender Kalifornier mit silbernem Haarschopf, doch den üblichen cursus honorum auf dem Weg zur Macht mit Bravour absolviert: erst als Majority Whip (Parlamentarischer Geschäftsführer der Mehrheitsfraktion) unter Eric Cantor, dann seit 2014 als Mehrheits- und später auch Minderheitsführer.

Geschickt war es ihm dabei gelungen, präsent, aber nicht überpräsent zu sein: einerseits den republikanischen Mainstream abzubilden, ohne andererseits den Eindruck eines Landeis und Hinterwäldlers zu vermitteln, den man vor keine Kamera stellen kann. Mit Donald Trump schien auch der wichtigste potenzielle Störfaktor aus dem Weg geräumt: Der Stern des Ex-Präsidenten ist zwar mehr denn je im Sinkflug begriffen, sein Zorn kann aber noch immer so manche Politkarriere torpedieren.

Umso erleichterter dürfte McCarthy gewesen sein, als ihm Trump noch im Sommer, wohl auch als Belohnung für seine Kehrtwende im Nachgang der Kapitol-Erstürmung 2021, wiederholt das Vertrauen aussprach und als außerordentlich „starken und mutigen Anführer“ pries: „Er arbeitet unermüdlich hart, um […] Joe Biden und Nancy Pelosi für ihr katastrophales Versagen und ihre fehlende Pflichterfüllung zur Rechenschaft zu ziehen“. Nach diesem Ritterschlag von höchster Stelle fehlte nur noch eines auf dem Weg zur Speakership: ein deutlicher Wahlsieg bei den anstehenden Zwischenwahlen, der – auch aufgrund der anhaltend niedrigen Beliebtheitswerte von Präsident Joe Biden – lange Zeit  als bloße Formsache galt.

„Take back the House“ stand daher auch in dicken weiß-roten Lettern auf dem Rednerpult, an das der 57-Jährige in der Nacht zum 9. November trat, um trotzig die allzu unterwältigende Performance seiner Partei zu verteidigen. „Wenn ihr morgen aufwacht, werden wir in der Mehrheit sein und Nancy Pelosi in der Minderheit!“, rief er in einen halbleeren, vorrangig von Mitarbeitern und Kampagnenoffiziellen bevölkerten Festsaal. Vermutlich wird ihm schon da durch den Kopf gegangen sein, dass sich der Weg zum Sprecheramt doch noch als steiniger als gedacht herausstellen könnte. Ein Eindruck, den die aufwallende Kritik der nächsten Tage und Wochen nur weiter verfestigte: Fehlenden Politinstinkt warfen ihm einige Parteifreunde vor, taktische Beschränktheit und überhaupt sei er doch kein echter Konservativer.

Mehr Macht für die Rebellen, die sich nach 15 Wahlgängen auch ohne Skalp als Sieger fühlen dürfen.

Eine Handvoll Gegenstimmen im ersten Durchgang der Speaker-Wahl war insofern wohl von vornherein eingepreist gewesen. Dass es am Ende aber 20 sein würden, abgegeben nicht nur als Denkzettel, sondern in reiner Verhinderungsabsicht, dürfte die Führung der Kongressrepublikaner dennoch kalt erwischt haben. Ebenso die undurchsichtige Taktik der Renegaten, die fortwährend zwischen Gesprächsbereitschaft und Standhaftigkeit mäanderten und bisweilen gar andeuteten, dass ihnen weder Steve Scalise (die Nummer 2 der Parteiführung) noch die aufstrebende Elise Stefanik als Alternativkandidaten recht wären. Vielmehr gehe es ihnen ums Prinzip.

Selbst sprachen sich die Zwanzig zunächst für den ehemaligen Ringer-Coach Jim Jordan aus, der aber ironischerweise für seinen nominellen Konkurrenten McCarthy votiert und gar ein Plädoyer zu dessen Gunsten gehalten hatte. Es folgte in den weiteren Wahlgängen eine Reihe mehr oder weniger bekannter Namen – der Ron-DeSantis-Mann Byron Donalds, der Vorsitzende des Republican Study Committee Kevin Hern, der erzkonservativeAndy Biggs –, ohne dass sich ein einheitliches Muster ergeben hätte. Der Schaden war da freilich bereits angerichtet, die Krönungsmesse zur Farce und parteiinternen Zerreißprobe mutiert.

Was den angeschlagenen McCarthy am Ende doch noch über die Ziellinie brachte, war neben zunehmendem öffentlichem Druck wohl vor allem der Umstand, dass seine Unterstützer bis zuletzt unverbrüchlich an ihm festhielten. Vereinzelt ertönte gar der Ruf, ihn mit einigen demokratischen Leihstimmen wählen zu lassen, um so den Abweichlern eine lange Nase zu zeigen – in der Tat wäre deren Spiel damit grandios nach hinten losgegangen. So aber einigte man sich nach einigem Hin und Her, etlichen Nachtsitzungen und Hinterzimmergesprächen auf einen Kompromiss: Mitwahl (beziehungsweise Wahlenthaltung) im Tausch gegen eine ganze Reihe an Zugeständnissen inhaltlicher, personeller und prozeduraler Art.

Mehr Macht für die Rebellen also, die sich so nach 15 Wahlgängen auch ohne Skalp als Sieger fühlen dürfen. Ein Umstand, der Kommentatoren auf beiden Seiten des Atlantiks einige Kopfschmerzen bereitete. In nicht wenigen Fällen verfestigte sich aufgrund der Zugehörigkeit der Zwanzig zum aus der Tea Party-Bewegung hervorgegangenen Freedom Caucus gar die Lesart, die Partei sei von ultrarechten Kräften in Geiselhaft genommen worden. Tatsächlich aber sind die Verhältnisse innerhalb der republikanischen Mehrheitsfraktion zu komplex, als dass man sie auf eine binäre Gegenüberstellung von Moderaten und Radikalen herunterbrechen könnte.

Ideologie war und ist in dieser Geschichte mehr Schlachtparole als grundsätzliche Trennlinie.

Gerade im vorliegenden Fall dürften etwa persönliche Eitelkeiten (die Animosität etwa eines Matt Gaetz gegenüber McCarthy ist hinlänglich bekannt) und strategisches Kalkül ebenso eine Rolle gespielt haben wie der Wunsch, alte Rechnungen zu begleichen oder sich für die Zukunft in eine aussichtsreiche Lage zu bringen. In diesem ausgreifenden Rationalitätenwust sind inhaltliche Differenzen dann oft nur schmückendes Beiwerk – was sich beispielhaft darin niederschlug, dass die Rechtsaußen-Abgeordnete Marjorie Taylor Greene zu den energischsten McCarthy-Befürwortern zählte, der von Trump protegierte Kongressneuling Matt Rosendale aber selbst dann noch bei seiner Trotzhaltung blieb, als ihm die sichtlich erboste Taylor Greene einen Anruf des Ex-Präsidenten aufdrängen wollte.

Auch eingedenk des Umstandes, dass das Gros des Freedom Caucus McCarthy bis zuletzt die Treue hielt, scheint es jedenfalls verkürzt, von einem Aufstand der Parteirechten zu sprechen und die komplexen und nicht selten disparat verlaufenden Gegensätze innerhalb der Partei in ein eindimensionales Ideologienkorsett zu zwängen: Ideologie war und ist in dieser Geschichte mehr Schlachtparole als grundsätzliche Trennlinie. Am Ende, so ist anzunehmen, wurde von einem gut organisierten Häuflein schlicht eine Gelegenheit zur Interessendurchsetzung erkannt und mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit ausgenutzt. So funktioniert Politik nun einmal.

Was bleibt nun von alledem? Zunächst natürlich kein sonderlich guter Eindruck der neuen Mehrheitsfraktion, wobei gewisse Verwerfungen angesichts der enttäuschenden  Midterm-Ergebnisse so oder so zu erwarten gewesen wären. Am Ende aber auch die Tatsache, dass der Ernstfall ausgeblieben ist: McCarthy hat das Sprecheramt  bekommen und seine Kritiker mit ausreichend politischem Zuckerbrot ruhiggestellt, obgleich natürlich unklar ist, wie lange ein solcher Burgfrieden Bestand haben kann und wie tief der Unmut der loyalistischen Mehrheit sitzt. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Establishment bei nächster Gelegenheit zurückschlagen und den Abweichlern einige wiederwahlgefährdende Knüppel zwischen die Beine werfen wird.

McCarthy hat das Sprecheramt  bekommen und seine Kritiker mit ausreichend politischem Zuckerbrot ruhiggestellt.

Dessen ungeachtet könnte sich die Episode aber vor allem für die nunmehr oppositionellen Demokraten als vergiftete Pille herausstellen. Vieles, was die Vereinbarungen zwischen McCarthy und seinen Gegnern anbelangt, ist im Einzelnen noch unklar, doch die Bereitschaft des Erstgenannten zur vielbeschworenen Bipartisanship – und seine Hemmung, diverse Anti-Biden-Untersuchungsausschüsse ins Leben zu rufen – dürfte mit der Hand der Rebellen an der Kehle ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht haben. Die Absage an fraktionsübergreifende Gefälligkeiten und Gesetzesvorschläge ist zweifelsohne Teil des Preises, der hier zu entrichten war.

Insofern scheint bei Kommentatoren wie dem NBC-Journalisten Noah Berlatsky, der die Demokraten mit ihrer „stillen Kompetenz und Einigkeit“ als die eigentlichen Sieger der ganzen Episode ausmacht, der Wunsch der Realität doch ein Stück weit davonzugaloppieren. Mit Sicherheit hat die Partei in den letzten Tagen die deutlich bessere Figur abgegeben, doch sind die Kaspereien diverser Funktionsträger mit Berlatskys erklärtem Nüchternheitsverdikt nur bedingt zu vereinbaren. Betont ironisch mit einer Popcorntüte zu posieren wie der Abgeordnete Ted Lieu vor dem ersten Wahlgang mag zwar einige Lacher auf Twitter einbringen, führt allerdings kaum dazu, einer besonderen Gravitas verdächtigt zu werden.

Vor allem aber gilt: Nichts verliert in der Politik so schnell an Alltagsrelevanz wie die Blamage von gestern. Die Unerbittlichkeit der Medienzyklen dürfte auch die 15 Wahlgänge binnen Wochenfrist hinwegspülen, zumal die im Privathaus von Joe Biden gefundenen Geheimdokumente derzeit einiges an Aufmerksamkeit binden. McCarthy dagegen hat den Speaker-Posten zumindest fürs Erste sicher. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass die Biden-Partei öffentlichkeitswirksam jede Menge moralisch-ästhetisches Kapital amassiert, nur um dann irgendwann irritiert festzustellen, dass es keinen echten Verwendungszweck dafür gibt. Etwas mehr Zurückhaltung und weniger Triumphalismus erscheint beim gegenwärtigen Stand der Dinge jedenfalls nicht verkehrt.