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INF, New START, NPT: Die Rolle von Nuklearwaffen in der europäischen Sicherheitspolitik wird wieder thematisiert. Rolf Mützenichs Plädoyer für den Abzug der US-Nuklearwaffen aus Deutschland hat daran erinnert, dass Deutschland selbst gefragt ist, wenn in Sonntagsreden nukleare Abrüstung gefordert wird. Denn Deutschland ist weiterhin aktiv in die nukleare Teilhabe eingebunden, inklusive der Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden.
Zuletzt hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer zweiten Grundsatzrede am 19. November in Hamburg das Thema nukleare Teilhabe prominent ins Rampenlicht gestellt. Deutschlands Festhalten an der technischen nuklearen Teilhabe gerät darin gar zur Bekenntnisfrage. Die quasi-religiöse Aufladung der Debatte macht deutlich, dass inzwischen nicht mehr über den militärisch-politischen Sinn und Zweck dieser Waffen gestritten wird, sondern allein über die politische Symbolik. Wie konnte es dazu kommen?
Grundsätzlich stehen sich hier zwei Ansichten gegenüber. Die eine konstatiert die militärische Nutzlosigkeit der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen. Diese waren ursprünglich dafür gedacht, sowjetische Panzerkolonnen im Fulda-Tal aufzuhalten – und diese Zeiten sind ja nun vorbei. Die andere Seite entgegnet darauf, dass sich die Zeiten für Deutschland vielleicht geändert hätten, die baltischen Staaten beispielsweise sich aber durchaus noch immer von Russland bedroht fühlten.
Diese Bedrohungswahrnehmung ist zwar nachvollziehbar, lässt aber die Frage offen, wieso man dann ausgerechnet an veralteten taktischen Nuklearwaffen in Deutschland festhält. Denn unbestritten sind die faktischen Herausforderungen durch Russland mittlerweile gänzlich andere als zu Zeiten des Kalten Kriegs. Ein möglicher Grund für das Festhalten lässt sich neudeutsch mit dem Glaubenssatz „never change a running system“ zusammenfassen. Eine Debatte über die Zukunft der nuklearen Teilhabe würde – so die Sorge – unnötige Zwietracht in der NATO säen und Russland in die Hände spielen. Nach dieser Logik hätte man aber auch während des Kalten Krieges keine kontroverse Diskussion über Nuklearwaffen führen dürfen. Das Gegenteil war der Fall.
In einer Strategie der minimalen nuklearen Abschreckung hingegen wären die in Deutschland und anderen Ländern der nuklearen Teilhabe stationierten Waffen nicht mehr vorgesehen.
Es wäre sinnvoll, eine Reform der NATO-Nukleardoktrin mit dem Ziel der minimalen nuklearen Abschreckung zu diskutieren. Befürworter dieser minimalen nuklearen Abschreckung sind der Ansicht, dass der eigentliche Nutzen von Nuklearwaffen darin besteht, komplizierte Berechnungen über militärische Gleichgewichte hinfällig zu machen. Aufgrund der schieren Zerstörungskraft von Nuklearwaffen sei die Anzahl der Waffen irrelevant. Bereits ein kleines Arsenal von strategischen Waffen reiche zu Abschreckungszwecken völlig aus. Nach einer solchen Doktrin wären sub-strategische, d.h. Gefechtsfeldwaffen wie die in Deutschland stationierten, obsolet.
Dies ist ein Ansatz, den beispielsweise Großbritannien und Frankreich mit ihren nationalen Nuklearwaffen verfolgen. Beide Länder verfügen über vergleichsweise „kleine“ Nukleararsenale von rund 200 (Großbritannien) und 300 (Frankreich) Sprengköpfen (zum Vergleich: in den USA liegt diese Zahl bei 6185, in der Russischen Föderation bei 6500). Die NATO wählte hingegen zunächst den Weg der massiven Vergeltung mit dem berüchtigten Gütesiegel der „beidseitig gesicherten Vernichtung“. Später ging man dann zu einer flexiblen Antwort über, die auch den Einsatz von (kleineren) Nuklearwaffen gegen die konventionelle militärische Übermacht des Warschauer Paktes vorsah. Dies führte zu den absurden Sprengkopfzahlen des Kalten Krieges. Die derzeit in Deutschland stationierten Waffen sind ein Relikt dieser Planungen.
In einer Strategie der minimalen nuklearen Abschreckung hingegen wären die in Deutschland und anderen Ländern der nuklearen Teilhabe stationierten Waffen nicht mehr vorgesehen. Gemäß dem Mantra von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, dass ein Nuklearkrieg nicht zu gewinnen sei, würde sich das Arsenal auf eine – weit geringere – Anzahl von strategischen Langstreckenwaffen reduzieren.
Darum würde die NATO-Strategie den veränderten Gegebenheiten angepasst. Im Jahr 2020 steht die NATO schon lange nicht mehr in einem Abschreckungsverhältnis zur Sowjetunion, sondern zur Russischen Föderation. Die ehemalige konventionelle Übermacht des Warschauer Pakts ist in Ermangelung von Verbündeten daher nicht mehr vorhanden.
Mit dieser Feststellung soll keineswegs das destruktive Potential russischer Außenpolitik heruntergespielt werden. Doch in den Szenarien, über die sich militärische Planer derzeit besonders die Köpfe zerbrechen – Cyberangriffe, Desinformation, andere Elemente nicht-linearer Kriegsführung –, sind Nuklearwaffen nicht nur nutzlos. Sie stellen gar eine zusätzliche Belastung für die Sicherheit dar, z.B. mit Blick auf die Möglichkeit von Cyberangriffen gegen die nukleare Kommandostruktur oder auf den unerlaubten, physischen Zugriff auf Waffen.
Nuklearwaffen sind dafür geschaffen worden, klassische zwischenstaatliche Kriege zu verhindern. Auf die neuen Kriege unserer Zeit bieten sie keine Antwort.
Es gibt also mindestens drei gewichtige Gründe, die für eine NATO-Nuklearstrategie der minimalen Abschreckung sprechen. Da wären zunächst die bessere Kosten-Nutzen-Bilanz und Lastenteilung im Bündnis. Wenn das politisch-militärische Ziel des Bündnisses mit weniger Waffen und Kosten erreicht werden kann, dann sollte man diesen Weg auch gehen. Dies ist nicht nur eine Frage finanzieller Belastungen (Nuklearwaffen sind SEHR teuer), sondern auch „strategischer“ Kosten: je mehr Waffen, desto höher das Risiko von Unfällen oder terroristischer bzw. krimineller Nutzung. Da der Großteil der Kosten für die nukleare Abschreckung von den USA getragen wird, würde eine Strategie der minimalen nuklearen Abschreckung zudem die Lastenteilung zwischen den USA und den europäischen Alliierten verbessern.
Ein weiter Grund ist die Sicherheit in Europa. Das Festhalten an der Stationierung sub-strategischer Nuklearwaffen in Deutschland setzt voraus, dass die militärische Stabilität in Europa von der Anzahl und Stationierung nuklearer Gefechtsfeldwaffen abhängt. Eine Strategie der minimalen Abschreckung folgt hingegen der Richtschnur, dass ab einem bestimmten Punkt die Kalkulation von nuklearen Gleichgewichten verrücktes Gerede ist und technische Details keine Rolle spielen. Die Zerstörungskraft einer einzigen nuklear-bestückten Interkontinentalrakete ist so groß, dass bereits ein gegenseitiger Beschuss (zehn Waffen auf zehn Städte) eine Katastrophe jenseits der Menschheitsgeschichte darstellen würde. Da sich auch die politischen Entscheidungsträger dieses Zerstörungspotenzials bewusst sind, ist das Gleichgewicht des Terrors alles andere als filigran.
Am Wichtigsten wäre jedoch die konzeptionelle Rückbesinnung auf den politischen Wert von Nuklearwaffen. Nuklearwaffen sind dafür geschaffen worden, klassische zwischenstaatliche Kriege zu verhindern. Auf die neuen Kriege unserer Zeit bieten sie keine Antwort, werden diese doch mit militärischen Mitteln unterhalb der Kriegsschwelle oder irregulären Einheiten geführt.
Deutschland sollte sich als Treiber und Ideengeber einer Neuausrichtung der nuklearen Abschreckung in der NATO engagieren, die neben der Sicherheit der Allianz auch die Voraussetzungen für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle verbessert.
Es ist dringend geboten, die Planungen und Strategien der NATO auf den Prüfstand zu stellen und zu aktualisieren. Deutschland und Europa brauchen eine zeitgemäße NATO. Deswegen sollte sich gerade Deutschland als Treiber und Ideengeber einer Neuausrichtung der nuklearen Abschreckung in der NATO engagieren, die neben der Sicherheit der Allianz auch die Voraussetzungen für nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle verbessert.
Diese Debatte muss von zwei Seiten geführt werden: Abrüstungsbefürworter müssen erklären, wie sich ein Ausstieg aus der technischen nuklearen Teilhabe in vertrauensbildende und deeskalierende Maßnahmen übersetzen lässt. Hierzu liegen schon einige Vorschläge vor, und es wäre dringend geboten, dass sich auch der Teil der sicherheitspolitischen Community konstruktiv mit diesen Vorschlägen befasst, der für ein Festhalten am Status quo plädiert. In diese Debatte sollten nicht nur die Kosten eines Ersatzes der nuklearen Teilhabe, sondern auch die Opportunitätskosten des Status-Quo einfließen.
Noch dringender ist ein grundsätzlicher Mentalitätswechsel: Im Zentrum sollte die Frage stehen, wie man innerhalb der Allianz Schritte hin zu mehr nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle umsetzen kann, ohne an Sicherheit einzubüßen. Die Strategie der minimalen nuklearen Abschreckung ist keine verworrene Idee irgendwelcher Hippies. Sie folgt einer militärischen Logik.
Jenseits der militärischen Logik wäre ein solcher Schritt auch den breiteren außenpolitischen Zielen Deutschlands dienlich. So steht Deutschland aufgrund der nuklearen Teilhabe in einem besonders schwierigen Verhältnis zum in Kürze in Kraft tretenden Atomwaffenverbotsvertrag, der von einer breiten und progressiven multilateralen Koalition vorangetrieben wurde. Das ist wahrlich kein Ruhmesblatt für Deutschland, das sich sonst in einer treibenden Rolle in der Allianz für den Multilateralismus wähnt. Und auch mit Blick auf den Nicht-Verbreitungsvertrag selbst muss sich Deutschland wegen der nuklearen Teilhabe berechtigter Kritik stellen. Wie will man Nicht-Nuklearwaffen-Staaten weiterhin davon überzeugen, nicht nuklear aufzurüsten, wenn man selbst nicht einmal bereit ist, auf die Stationierung obsoleter nuklearer Gefechtsfeldwaffen zu verzichten? Eine konzeptionelle Neuorientierung der NATO-Abschreckungsdoktrin wäre gerade auch mit Blick auf nukleare Abrüstung und Nichtweiterverbreitung ein wichtiges politisches Signal.