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Das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt ist eine Leitlinie deutscher Außenpolitik. Anfang der Woche forderte CDU-Politiker Johann Wadephul jedoch in einem Tagesspiegel-Interview: „Wer ein guter Europäer sein will, darf nicht nur in der Umweltpolitik zusammenarbeiten, sondern muss das auch in der Rüstungspolitik tun.“ Und weiter: „Deutschland sollte bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen. Im Gegenzug sollte Frankreich sie unter ein gemeinsames Kommando der EU oder der Nato stellen.“
Die Forderung nuklearer Bewaffnung als Antwort auf internationale Krisen setzt uns in der Debatte um Jahrzehnte zurück. Auch wenn die Leitlinien der deutschen Außenpolitik oft diffus und hinter den Erwartungen verschiedener Akteure zurückbleiben, ist jedenfalls eins klar. Deutschland versucht sich immerhin an einem neuen Politikansatz: Multilateralismus statt Alleingängen, Diplomatie statt Force de Frappe. Ein deutsch-französisches oder ein europäisches Nuklearwaffenprogramm würde hinter dem Politikansatz der Bundesregierung der letzten Jahre zurückfallen.
Deutschland und Frankreich kooperieren bereits eng im Rüstungsbereich, unter anderem beim neuartigen Luftwaffenprojekt Future Combat Air System. Eine noch stärkere deutsch-französische oder auch europäische Kooperation mit nuklearer Komponente würde jegliche Allianz des Multilateralismus konterkarieren. Im Übrigen hatte Frankreich zuletzt 2007, unter Präsident Sarkozy, Deutschland eine begrenzte Teilhabe am französischen Nukleararsenal angeboten. Deutschland sollte sich an den Kosten für die französische Atomstreitmacht beteiligen und dafür Mitspracherecht erhalten. Die Bundesregierung lehnte ab. Deutschland sei Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages und strebe den Besitz von Atomwaffen nicht an, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier damals. Diese Einstellung sollte auch heute noch Bestand haben. Eine Teilhabe am französischen Nuklearprogramm wäre keine kurze Affäre sondern ein langfristiger Ehevertrag. Mit Folgen für das gesamte Rüstungskontroll- und Abrüstungsregime. Eine „Scheidung“ wäre zukünftig nur schmerzhaft möglich.
Eine Teilhabe am französischen Nuklearprogramm wäre keine kurze Affäre sondern ein langfristiger Ehevertrag.
Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen. Die nukleare Abschreckung beruht auf dem Willen und der Fähigkeit zum Einsatz dieser Waffen. Diese Strategie ist weder eine Basis für ein geeintes Europa, dessen sicherheitspolitische Perspektive vom Baltikum bis Portugal stark variiert, noch kann es die Grundlage einer kooperativen Politik gegenüber anderen Staaten sein. Wie kann Deutschland überzeugend gegen die nukleare Aufrüstung anderer argumentieren und gegen das nukleare Streben Nordkoreas oder des Irans eintreten, wenn es Teil einer neuen europäischen nuklearen Abschreckungsinitiative wird? Es wäre in der Tat noch inkonsequenter als die bereits bestehende nukleare Teilhabe der NATO mit US-Atomwaffen.
Ja, Deutschland muss eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, dazu gehört in einigen Bereichen auch mehr Verantwortung. Die Beteiligung an Nuklearwaffenprogrammen kann langfristig jedoch kein Teil davon sein. Dabei ist unerheblich, ob der aktuelle Politikstil des US-Präsidenten Trump die Debatte befeuert oder es vielleicht in Frankreich irgendwann Marine LePen ist, die über Atomwaffen verfügt. Entscheidungsträger wechseln, das Konzept der nuklearen Abschreckung prägt die internationale Zusammenarbeit jedoch schon seit 75 Jahren. Es hat ein System geschaffen, in dem bestimmte Staaten ein Instrument zur Vernichtung der Menschheit besitzen dürfen, das anderen niemals zustehen wird.
Es wäre naiv anzunehmen, dass diese Ausgangssituation langfristig zu Stabilität führen könnte. Die Erosion dieses Ansatzes beobachten wir bereits in den letzten Jahren. Nordkorea testet trotz internationaler Sanktionen weiterhin Atomwaffen und Langstreckenraketen. Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ist angespannter denn je. Der Konflikt mit dem Iran spitzt sich nach der Atempause durch das 2015 geschaffene JCPOA wieder deutlich zu. Sogar der türkische Präsident Recep Erdogan forderte im Herbst 2019 das Recht auf Atomwaffen. Die nukleare Abschreckung führt nicht zu Stabilität. Im Gegenteil: Sie ermuntert weitere Akteure, nach dem Besitz von Atomwaffen zu streben. Denn diese sehen die „nukleare Karte“ als Trumpf im Kampf um Einfluss und Anerkennung in der internationalen Gemeinschaft.
Die Idee einer neuen europäischen nuklearen Abschreckung kann nur in dem Glauben an eine überschaubare Anzahl rationaler Akteure und dem fehlerfreien Funktionieren von Kommunikation und Technologie begründet sein. Die beschleunigten Prozesse der Kommunikations- und Entscheidungsfindung verändern den politischen Spielraum, besonders in Krisensituationen. In diesem Kontext werden die Risiken der nuklearen Abschreckung in der öffentlichen Debatte meist unterschätzt, wenn nicht sogar negiert. Wir müssen gar nicht auf all die Fehlalarme der Geschichte schauen, die insbesondere Russland und die USA mehrmals an den Rand eines Atomkrieges brachten. Erst im Januar 2018, als sich der Konflikt zwischen Nordkorea und den USA zuspitzte, war auf Hawaii 48 Minuten lang nicht klar, ob eine Rakete im Anflug ist. Von der Katastrophenschutzbehörde EMA war fälschlicherweise eine Informationskette ausgelöst worden, die eine SMS-Warnung an die Bürgerinnen und Bürger versendete.
Die Debatte zu Nuklearwaffen und um Abschreckung muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen.
Ein aktueller Pentagonbericht verweist auf Sicherheitslücken in der Software der neuen B61-12-Atombomben, die offen für Cyberangriffen sind. Studien zum Nexus zwischen neuen Technologien und Atomwaffen zeigen, dass die Entwicklung autonomer Waffen, künstlicher Intelligenz und offensiver Cyberkapazitäten das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes erhöht.
Technische Systeme und menschliche Entscheidungen sind fehlbar. Es liegt daher in der Verantwortung politischer Entscheidungsträger, das Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung zu minimieren. Das bedeutet die Abkehr von der nuklearen Abschreckung. Als „guter Europäer“, um mit Johann Wadephuls Worten zu sprechen, wäre das tatsächlich eine präventive, sicherheitspolitische Handlung. Nicht nur im nationalstaatlichen Sinn, sondern eben auch im Interesse der Gemeinschaft. Der Einsatz, versehentlich oder absichtlich, nur einer Atomwaffe über einer einzigen Stadt, hätte verheerende Folgen, für die laut Internationalem Roten Kreuz keine geeigneten Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stünden. Ein potenzieller Fallout würde weder an der EU-Grenze noch in der Kaschmirregion stoppen, sollte der Konflikt zwischen den Atommächten Pakistan und Indien eskalieren.
Verwunderlich ist nicht nur die Verhaftung der Diskussion zu nuklearer Abschreckung in den Paradigmen des Kalten Krieges. Auch die Entkopplung der CDU von den Einstellungen ihrer Wähler überrascht. Eine Greenpeace-Umfrage aus dem Sommer 2019 zeigt, dass 89 Prozent der befragten CDU-Anhänger den Beitritt Deutschlands zum Vertrag zum Verbot von Atomwaffen befürworten. Sie sprechen sich damit für eine Ächtung dieser Massenvernichtungswaffen aus. Knapp drei Viertel der befragten CDU-Anhänger stimmen auch explizit für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland. Unter den Anhängern anderer Parteien ist die Zustimmung größtenteils noch höher.
Die Debatte zu Nuklearwaffen und um Abschreckung muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Das Festhalten an alten Paradigmen begegnet uns sonst immer wieder: als Bumerang neuer Nuklearwaffenstaaten.