Die NATO ist ein Musterbeispiel für Stabilität, bürokratische Kontinuität und Routinearbeit. 2008 hieß es in der Abschlusserklärung des Gipfels in Bukarest: „Die Ukraine wird NATO-Mitglied werden.“ 15 Jahre danach ist die internationale Sicherheitsordnung komplett aus den Angeln gehoben. Im Kommuniqué des Gipfels in Vilnius lesen wir nun: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO“. Den Unterschied muss man mit der Lupe suchen.

Der Kontext ist es, der den Unterschied macht. In der Welt hat sich vieles geändert, aber eines nicht: Die NATO – genauer, ihre mächtigsten Mitgliedstaaten – wollen für die Sicherheit der Ukraine keine Risiken eingehen. Manche sind erstaunt, dass Generationen ukrainischer Politiker das so wenig wahrhaben wollen. Mit ihrer mangelnden Bereitschaft, sich in die Befürchtungen und in das Kalkül der USA, Deutschlands oder Frankreichs hineinzudenken, haben sie der ukrainischen Außenpolitik keinen Gefallen getan. Ein Krieg ohne Verbündete gegen einen weitaus stärkeren Gegner – kann es für einen Staat eine schwierigere Situation geben?

Es stimmt zwar, dass wir Ukrainer Partner haben, deren Interessen sich im Augenblick mit unseren Interessen decken, und von ihnen unterstützt werden. Aber der Unterschied zwischen einem Partner und einem Verbündeten ist, dass man von einem Partner nichts einfordern kann. Deshalb sind Rhetorik und Vorwürfe die falsche Antwort auf die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Vilnius, bei dem es im Übrigen nicht nur um die Ukraine ging, sondern ebenso sehr um die neuen Realitäten, mit denen die Allianz in ihrem Kampf für die internationale Ordnung konfrontiert ist.

Schon beim Querlesen des gemeinsamen Kommuniqués wird deutlich: Die NATO ist beunruhigt wegen des Zerfalls des sicherheitspolitischen Fundaments, des Rüstungskontrollregimes und vor allem der nuklearen Sicherheit. Diese Themen nehmen in der Abschlusserklärung erheblich mehr Raum ein als die wenigen Sätze über die Ukraine. Das Bündnis hat eine breite Agenda abzuarbeiten und muss in der internationalen Politik eine Vielzahl von Regionen und Wirkungsbereichen aufmerksam im Blick behalten. Das erfordert ein gutes Risiko- und Ressourcenmanagement. Diese Überlegungen waren und sind die Grundlage für die Strategie der NATO gegenüber der Ukraine – 2008, wie auch 2023.

Für ein solches System stellt die Ukraine keine Chance, sondern ein großes Risiko dar.

Hat die ukrainische Führung ernsthaft geglaubt, sie hätte die NATO-Mitgliedschaft praktisch schon in der Tasche? Wenn ja, dann lautet eine der Lektionen aus Vilnius: Wenn es um die Zwickmühlen und Zielkonflikte der internationalen Sicherheit geht, verpufft auch die eloquenteste Rhetorik.

Die Funktionsweise der NATO ist ganz einfach – ebenso wie die Antwort auf die Frage, warum der Ukraine die Mitgliedschaft versagt bleibt. Die NATO ist ein klassisches kollektives Sicherheitssystem. Ihre Mitglieder erkaufen sich den Verteidigungsbeistand der anderen Partner mit dem Risiko, dass sie ihrerseits im Fall der Fälle einem der Partner beistehen müssen. Der entscheidende Pluspunkt der Allianz ist ihre hohe Abschreckungs- und Schutzwirkung, die noch stärker von der Kampfbereitschaft aller Partner abhängt als von der Bündelung des kollektiven Verteidigungspotenzials. Für ein solches System stellt die Ukraine keine Chance, sondern ein großes Risiko dar.

Wie erfahren oder effektiv die ukrainischen Streitkräfte sind, spielt keine Rolle. Der Allianz kommt es darauf an, dass die Kriegsrisiken nicht zu groß werden, weil sonst die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass irgendein Partner seinen Pflichten nicht nachkommt – und dann würde die NATO ihre Wirkung verlieren oder auseinanderbrechen. Genau dies wäre schon vor dem russischen Einmarsch die Gefahr gewesen: Dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wegen der hohen Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Russland zu einer inneren Spaltung der Allianz hätte führen können. Heute, da mitten in Europa ein ausgewachsener konventioneller Krieg im Gange ist, ist diese Gefahr um ein Vielfaches höher. Bei Weitem nicht jeder ist dafür, dass die NATO für die Sicherheit der Ukraine die eigene Sicherheit aufs Spiel setzen sollte.

Hinzu kommt, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine für die NATO keinerlei Mehrwert bringt. Sie würde im Gegenteil erhebliche zusätzliche Verpflichtungen bedeuten, die sich besser und bequemer mit Geld und Waffenlieferungen regeln lassen – und genau darauf laufen die am Rande des Gipfels gemachten Zusagen der Mitgliedstaaten auch hinaus. Dies war glasklar vorauszusehen. Für die Ukraine ist das Kriegführen ein Muss, weil sie um die eigene Staatlichkeit und Unabhängigkeit kämpft. Für die NATO ist es aber kein Muss, die Ukraine in ihr Bündnis einzuladen, damit dieser Kampf weitergeht.

In den 15 Jahren, die seit dem Bukarester Gipfel vergangen sind, hat die Welt sich gewandelt. 2008 war Chinas kaufkraftbereinigtes Bruttoinlandsprodukt nur halb so groß wie das der USA und der EU. Inzwischen ist Chinas Wirtschaftsleistung, gemessen an der Kaufkraftparität, 25 Prozent größer als die amerikanische. Die Welt steuert auf eine bipolare Ordnung zu, wenn diese Ordnung nicht sogar schon jetzt Realität ist. Diese Veränderungen sind für Kiew nicht von Vorteil und haben das sicherheitspolitische Umfeld für die Ukraine und für den von ihr angestrebten NATO-Beitritt verschlechtert.

Entgegen der landläufigen Meinung kann man sagen, dass die Ukraine heute weiter von der NATO-Mitgliedschaft entfernt ist als 2008.

Kein Land wird heute mehr NATO-Mitglied nach den Rezepten, die noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts galten. Entgegen der landläufigen Meinung kann man sagen, dass die Ukraine heute weiter von der NATO-Mitgliedschaft entfernt ist als 2008. Der Westen geht schwierigen Zielkonflikten aus dem Weg, minimiert seine sicherheitspolitischen Verpflichtungen und spart Ressourcen. Auch der Krieg ist einem ukrainischen NATO-Beitritt nicht förderlich, obwohl viele glauben, er zwinge den Westen, ihn in seine Reihen aufzunehmen. Nein: Dazu zwingt der Krieg den Westen nicht.

Eine der Botschaften des Gipfels in Vilnius lautet: Solange der Krieg in der Ukraine andauert, wird es keine NATO-Mitgliedschaft geben. Das heißt nicht automatisch, dass nach dem Krieg die Mitgliedschaft kommen wird, und kann natürlich unter anderem bedeuten, dass über die Frage der NATO-Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft der Ukraine möglicherweise im Rahmen umfassenderer Vereinbarungen über die künftige Sicherheitsordnung entschieden wird. Es kann darüber hinaus für die ukrainische Regierung ein unangenehmes und kompliziertes Dilemma bedeuten: Frieden mit Russland suchen und auf den NATO-Beitritt hoffen – oder unbefristet weiterkämpfen in der Hoffnung, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Allmählich wird hier die Grundhaltung des Westens erkennbar. Zunächst muss der Krieg beendet werden. Erst dann kommen alle schicksalsschweren Entscheidungen auf den Tisch. Diese Grundhaltung gilt womöglich nicht nur für die NATO-, sondern auch für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine.

Die ukrainische Wette auf die NATO ist wieder einmal nicht aufgegangen. Doch man muss realistisch sein. Dass bei dem Gipfel über die Mitgliedschaft der Ukraine entschieden würde, war ausgeschlossen. Es ging um Formen und Umfang der Unterstützung, und dafür ist Dankbarkeit angebracht. Beim nächsten Gipfel in Washington wird es voraussichtlich genauso sein. In Vilnius hat die NATO unter Beweis gestellt, dass sie breit und strategisch denken kann, und hat ihre Stärke demonstriert. Die Allianz hat Zeit gewonnen. Russland ist geschwächt, die Bündnispartner gestärkt. Dazu hat die Ukraine – wenn auch nur notgedrungen – nicht unwesentlich beigetragen. Deshalb dürfen wir mehr Unterstützung und Hilfe einfordern. Das ist im Unterschied zur NATO-Mitgliedschaft eine realistische Forderung.

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind der Meinung, es sei ein Fehler gewesen, dass die deutsche und die französische Regierung 2008 der Ukraine und Georgien einen „Aktionsplan zur Mitgliedschaft“ (Membership Action Plan, kurz MAP) verwehrt haben, denn dadurch hätten sie die russische Aggression gegen beide Staaten provoziert. Das war schon immer ein schwaches Argument. Dass die Dinge mit einem MAP für die beiden Länder einen anderen Verlauf genommen hätten, lässt sich nicht verifizieren. Der Gipfel in Vilnius hat gezeigt: Inzwischen wären auch andere westliche Regierungen bereit, ähnlich zu entscheiden. Die Frage, wer sich an welcher Stelle geirrt hat, bleibt offen.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld