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Der Europarat feiert in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen. Und er befindet sich zugleich in seiner größten Krise. 1949 gegründet und mittlerweile auf 47 Mitgliedsstaaten angewachsen, leidet er unter chronischen Aufmerksamkeitsdefiziten in den west- und nordeuropäischen Demokratien ebenso wie unter der teils offenen, teils verschleierten Missachtung seiner Grundwerte in immer mehr Staaten.

Es ist an der Zeit, sich zu entscheiden. Brauchen wir das oder kann das weg? In einer Zeit populistischer Angriffe auf die drei Grundelemente Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeutet interessenloses Achselzucken, den Europarat denen auszuliefern, die seine Werte und Regeln mit Füßen treten. Eine abenteuerlich schlechte Finanzausstattung mit einem Haushalt vergleichbar dem der feinen, aber kleinen Stadt Castrop-Rauxel, Korruptionsangriffe und die offene Missachtung von Grundregeln durch eine Reihe von Mitgliedsstaaten müssen im so schwierigen Jubiläumsjahr beantwortet werden.

Im Zentrum der aktuellen Debatten geht es um Russland. Das aber nur vordergründig. Eigentlich geht es darum, wie man jetzt und in Zukunft mit Staaten umgeht, die fundamentale Regeln brechen. Im besten Fall bliebe Russland im Europarat und der Europarat hätte gleichzeitig seine Stabilität angesichts populistischer Angriffe auf seine Werte gefestigt statt seine Glaubwürdigkeit zu untergraben.

Entweder wird Russland wieder kooperierender Teil der Organisation, oder Russland muss den Europarat verlassen.

Der Europarat besteht aus zwei Teilen. Zum einen der Vertretung der 47 Regierungen im Ministerkomitee und zum anderen der Vertretung der 47 Parlamente in der Parlamentarischen Versammlung. Letztere hat in Reaktion auf die russische Annexion der ukrainischen Krim im Jahr 2014 beschlossen, der russischen Duma-Delegation bestimmte Rechte abzuerkennen. Das Ministerkomitee der Regierungen leitete vergleichbare Schritte dagegen nicht ein. Daraufhin zog Russland die gesamte Parlamentsdelegation ab und stellte zwischenzeitlich die Zahlung der Mitgliedsbeiträge ein, was wiederum den gesamten Europarat in eine veritable Finanzkrise stürzte.

Inzwischen zahlt Russland seit zwei Jahren seine Beiträge nicht. Wie in jedem SPD-Ortsverein ist so etwas mit einer weiteren Mitgliedschaft offensichtlich nicht vereinbar. Darüber hinaus haben entscheidende Akteure des Europarats wie Abgeordnete, die Berichte zur Menschenrechtslage in Russland anfertigen sollen, keinen Zugang zum Land. Nun muss entschieden werden: Entweder wird Russland wieder kooperierender Teil der Organisation, oder Russland muss den Europarat verlassen.

Ein Austritt Russlands hätte gravierende Konsequenzen nicht nur für die über 140 Millionen Menschen auf dem Territorium der Russischen Föderation, sondern auch die Millionen Menschen in den besetzten oder kontrollierten Gebieten wie der Krim, dem Donbass oder dem georgischen Südossetien. All diese Menschen stehen nämlich bis heute unter dem Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention und  können sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wenden. Sie profitieren davon, dass Europaratsstandards entweder in russischem Recht implementiert werden oder sich russisches Recht zumindest daran orientiert. Und wenn es auch zu den besetzten Gebieten keinen Zugang gibt, so wirkt doch zumindest die schlichte Mitgliedschaft im Europarat tendenziell mäßigend auf mögliche Menschenrechtsverletzer. Deswegen wünschen sich große Teile der russischen Zivilgesellschaft einen Verbleib Russlands unter dem Dach der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Doch so einfach ist das nicht. Der Kreml gibt nicht wirklich zu erkennen, wie wichtig ihm der Verbleib Russlands im Europarat ist. Im Gegenteil. Das provokante Angebot russischer Pässe für Ukrainer kam jedenfalls zur Unzeit und zementiert die Position derjenigen, die einen Verbleib Russlands im Europarat verhindern wollen. Auch Wohlmeinende beklagen, dass sich Russland als zu groß und stark ansieht, um sich den Regeln des Europarats in gleicher Weise wie kleinere Mitgliedsstaaten unterordnen zu wollen.

Der Europarat muss sich auf das konzentrieren, was er leisten kann, das dann aber auch mit voller Konsequenz durchsetzen.

Die Entscheidung zum Umgang mit Russland steht wohl im Juni unmittelbar bevor. Bei aller Verurteilung russischer territorialer Aggressionen und der Verärgerung über die Nicht-Kooperation mit einer Reihe von Europarats-Gremien: Es bleibt festzuhalten, dass sich Russland en gros bisher an die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs hält. Mit existenziellen Folgen für viele Menschen. Und es wäre für viele weitere Menschen existenziell und lebensnotwendig, Russland zu weiterer Kooperation zu bewegen. Ich selbst müsste sehr dringend als zuständiger Berichterstatter nach Grosny reisen, um über eine der wohl verheerendsten Menschenrechtslagen auf dem Gebiet des Europarats im Nordkaukasus zu berichten.

Der Weg ist vorgezeichnet. Der Europarat müsste sich auf das konzentrieren, was er leisten kann, das dann aber auch mit voller Konsequenz durchsetzen. Und auch wenn es wünschenswert wäre: Wenn selbst der UN-Sicherheitsrat die von Russland zu verantwortenden Territorialkonflikte nicht lösen kann, dann muss sich der Europarat daran überheben es zu versuchen. Der Europarat ist nicht die Vereinten Nationen und auch nicht die OSZE. Er kann Konflikte nicht lösen, kann keine Friedenstruppen entsenden. Aber er kann und muss sogar auf die Einhaltung seiner Regeln pochen. Da ist zunächst der Schutz des Herzens der Organisation, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Nicht-Umsetzung von Gerichtsurteilen würde die rote Linie überschreiten und müsste umgehend sanktioniert werden. Zu den Grundregeln gehört auch der freie Zugang der Menschenrechtsorgane und -institutionen in die Mitgliedsstaaten.

Kann die Krise mit Russland ein Hebel sein, einen gemeinsamen und funktionstüchtigen Mechanismus zu entwickeln, der Mitgliedsstaaten die Notwendigkeit der Kooperation unmissverständlich verdeutlicht? Die Parlamentarische Versammlung hat Ideen präsentiert, wie ein solcher Mechanismus aussehen könnte. Es ist jetzt an den Regierungen, den nächsten Schritt zu tun. Das würde wiederum den Parlamentarierinnen und Parlamentariern ermöglichen, ihren bisherigen Sanktionsmechanismus zu verändern und mit dem Ministerkomitee in Einklang zu bringen. Für Russland wäre das der Weg, in eine Kooperation auf allen Ebenen des Europarats zurückzufinden und ein Ausscheiden zu vermeiden. Versehen wäre dieser Weg aber mit der klaren Erwartung des vollständigen Respekts der Europarat-Regeln. Ansonsten wäre Russland der erste Fall für die Erprobung des neuen gemeinsamen Mechanismus.

Wenn dann noch unter dem Druck der aktuellen Krise eine neue Finanzarchitektur entwickelt würde, die die Organisation dauerhaft auf solide Füße stellt, und dem Thema Korruption durch eine effektive Einheit präventiv begegnet würde, hätte der Europarat einen wichtigen Teil des Weges zurückgelegt, um für schwierige Situationen besser gewappnet zu sein. Den Menschenrechten von 820 Millionen und der Entwicklung der Demokratie und des Rechtsstaats in 47 Ländern würde es jedenfalls helfen.