Im vergangenen Jahr fragten mich in Warschau Menschen sowohl aus Polen als auch aus der Ukraine, wenn sie hörten, dass ich in den USA aufgewachsen bin, fast immer als Erstes, wer meiner Meinung nach die Wahl 2024 gewinnen würde. Die nächste Frage war dann immer, ob ein Trump, wenn er gewänne, die Ukraine und Osteuropa wirklich den Russen preisgeben würde. In den ersten Tagen nach Trumps Wahlsieg war diese Sorge unter meinen polnischen Freunden und Angehörigen deutlich zu spüren. Doch nachdem monatelang gewarnt worden ist, eine Rückkehr von Donald Trump an die Macht würde apokalyptische Folgen für die Ukraine und die NATO-Ostflanke haben, gibt es jetzt an Europas Grenze zu Russland eine neue Devise: Verfallt nicht in Panik, sondern bereitet euch vor.
Das wahrscheinliche Ende des Krieges in der Ukraine während Trumps erstem Amtsjahr wird nur die Spitze des Eisbergs der Veränderungen sein, die sich in Osteuropa abzeichnen. Die Staaten in der Region, allen voran Polen und die baltischen Staaten, stellen sich bereits ein Szenario vor, das über die Ukraine hinausreicht und so aussieht, dass Russland seine Kriegsmaschinerie schon bald direkt an der NATO-Ostflanke in Aktion setzen könnte, die ohne solide amerikanische Sicherheitsgarantien verwundbarer wäre denn je. Und doch bietet die angespannte Situation Osteuropa unerwartete Chancen. Ohne Amerikas Führungsrolle und seine oftmals einschränkende Einflussnahme hat Osteuropa die Chance, seine eigene künftige Verteidigungsstrategie zu überdenken, die Fortschritte der Nachkriegswirtschaftsordnung in der Ukraine zu nutzen und Westeuropa endlich dazu zu zwingen, sich den Realitäten der multipolaren Welt voll und ganz zu stellen.
Wir erleben derzeit eine grundlegende Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Osteuropa.
Mit anderen Worten: Wir erleben derzeit eine grundlegende Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Osteuropa. In naher Zukunft werden Polen und die baltischen Staaten nicht umhinkommen, in die Bresche zu springen und sich stärker als bisher in Europa zu positionieren. Denn sie blicken in die Gewehrläufe eines Russlands, das durch einen De-facto-Triumph in der Ukraine und die schwächer werdenden amerikanischen Sicherheitsgarantien in Europa erst recht gestärkt wird. Unterdessen sieht sich die Ukraine mit dem schlimmsten anzunehmenden Szenario konfrontiert, da die USA den Unterstützungshahn vermutlich zudrehen werden. Dann muss Europa gezwungenermaßen zum ersten Mal seit Generationen die Verteidigung der Ukraine und seine eigene Verteidigung selbst in die Hand nehmen.
Die Chancen, dass Trump seine Meinung zur Militärhilfe für die Ukraine ändern und auch weiterhin Mittel für die Verteidigung des Landes bereitstellen wird, stehen leider sehr schlecht. Die Ukraine wird wohl an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Die europäischen, von Polen angeführten Bemühungen, das ukrainische Militär weiterhin zu unterstützen, werden das Unvermeidliche bestenfalls hinauszögern, und die Biden-Regierung ist sich dessen bewusst. Jüngste Kursänderungen wie die Freigabe von Langstreckenraketen vom Typ ATACMS, die von der Ukraine für Schläge gegen russisches Territorium genutzt werden können, und die Lieferung von Antipersonenminen sollen der Ukraine vor allem helfen, sich vor den Verhandlungen eine möglichst günstige Position zu sichern und zumindest ein Mindestmaß an Abschreckung gegen künftige russische Aggressionen aufbieten zu können.
Fast erübrigt es sich zu erwähnen, dass jedes Friedensabkommen wohl auf die dauerhafte Annexion der gegenwärtig von Russland besetzten Gebiete hinausläuft und die Ukraine dazu zwingen wird, ihre Ambitionen auf einen NATO-Beitritt aufzugeben. Mit anderen Worten: Es wäre ein Sieg für Russland. Aber selbst dann bleibt noch vieles offen in der Frage, wie ein solcher „Frieden“ konkret aussehen würde und wie die Ukraine vermeiden könnte, von Russland auf Dauer geschluckt zu werden. Laut einem Bericht des Wall Street Journal sieht der zentrale Plan von Trumps Übergangsteam vor, die Ukraine auf eine Zusage zu verpflichten, in den nächsten 20 Jahren nicht der NATO beizutreten. Die kontinuierliche Lieferung von US-Waffen soll dann Russland von künftigen Angriffen abschrecken, und eine Art europäische Friedenstruppe soll die entmilitarisierte Zone überwachen, in der die Kämpfe eingestellt werden.
Ein solcher Plan kommt Polen sehr gelegen, da der polnische Präsident Andrzej Duda im vergangenen Jahr vorgeschlagen hat, polnische Truppen im Rahmen von Friedensbemühungen in der Ukraine zu stationieren. Inzwischen ist Polen gut aufgestellt, um von den Wiederaufbaubemühungen nach dem Krieg enorm zu profitieren. 3 000 polnische Unternehmen haben sich bei der polnischen Investitions- und Handelsagentur (PAIH) registrieren lassen, weil sie am Wiederaufbau der Ukraine mitwirken wollen. Wenn Polen sich daran beteiligt, die Sicherheit in der Ukraine vor Ort zu gewährleisten, birgt das natürlich ein erhebliches Risiko, da es das Land einem Konflikt mit Russland umso näherbringt. Doch auf genau diese Rolle bereitet die polnische Führung das Militär des Landes seit Jahren vor.
Die Osteuropäer wissen jedoch, dass es im Falle eines russischen Angriffs an ihnen wäre, die Stellung zu halten.
Die Staats- und Regierungschefs Osteuropas befinden sich nach eigener Einschätzung im Fadenkreuz Russlands – egal, wie sie sich verhalten. Eine aktive Verteidigung muss also an oberster Stelle stehen. Staats- und Regierungschefs von weiter westlich gelegenen Ländern Europas kommen zögerlich zu demselben Schluss und haben kürzlich zugesagt, nicht nur in die nationalen Verteidigungsausgaben, sondern auch in den Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie zu investieren. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, Putin werde sich mit einer Verhandlungslösung in der Ukraine zufriedengeben. Im Gegenteil: Mit dem Rückenwind eines Sieges in der Ukraine und mit einer US-Führung, die nicht bereit ist, sich über das absolute Minimum hinaus militärisch in Europa zu engagieren, könnte Putin durchaus zu dem Schluss kommen, dass die Zeit reif ist für eine weiter gehende Wiederherstellung der sowjetischen Einflusssphäre. Westeuropa tut schrittweise mehr, um gerüstet zu sein, und Frankreich zum Beispiel liegt im Zeitplan bei seinen Bemühungen, die Verteidigungsausgaben in diesem Jahr auf die von der NATO vorgegebenen zwei Prozent des BIP zu steigern. Die Osteuropäer wissen jedoch, dass es im Falle eines russischen Angriffs an ihnen wäre, die Stellung zu halten. Polen verfügt derzeit über die drittgrößte Armee der NATO, und wenn die ukrainische Armee die russischen Streitkräfte fast drei Jahre lang in Schach halten konnte, kann das robustere und technologisch fortschrittlichere Militär Polens hoffentlich dasselbe leisten.
Es kann gar nicht genug betont werden, wie ungewiss die Sicherheit Osteuropas durch Trumps Wahl schlagartig wird. Ein vollständiger Rückzug der USA aus der NATO ist weniger wahrscheinlich, als es die weit verbreitete Diskussion nahelegen könnte, denn die jüngst erfolgte, richtungsweisende Eröffnung eines US-Stützpunktes in Polen und die Bemühungen, die amerikanische Militärhilfe für die Ukraine und die NATO „Trump-sicher“ zu machen, werden es Trump erschweren, sich vollständig aus dem Bündnis zurückzuziehen. Doch nachdem Russland seine Nukleardoktrin aktualisiert, eine ballistische Rakete, die nuklear bestückt werden kann, auf die Ukraine abgefeuert und letzte Woche die neue US-Basis in Polen auf seine Liste potenzieller Ziele gesetzt hat, glaubt Putin offenbar, dass er die Oberhand hat – und dass Europa nicht willens oder in der Lage ist, die eigene Ostgrenze wirksam zu verteidigen.
Da Trump in wenigen Monaten das gesamte regionale Gefüge verändern könnte, bemüht sich der Osten der NATO, die Folgen abzumildern. Das bringt vor allem Polen in die Bredouille, denn es muss nicht nur seine Bedeutung als aufstrebende Militärmacht unter Beweis stellen, sondern auch mit Ländern wie Rumänien, Schweden, den baltischen Staaten und der bedrängten Ukraine zusammenarbeiten, um Moskau gemeinsam in Schach zu halten. Vor allem aber ist dies eine Feuerprobe für Europa. Jahrzehntelang konnten sich die Westeuropäer in der von den Vereinigten Staaten gebotenen Sicherheit wiegen und sich pazifistischen Visionen hingeben. Diese Illusion mussten zuerst die an Putins Russland angrenzenden Staaten aufgeben, aber Europa steht jetzt am gleichen Scheideweg: Entweder räumt Europa der Sicherheit höchste Priorität ein und beschreitet einen unabhängigen Weg in der Verteidigungspolitik – oder es lässt Putin weiterhin freie Hand.
Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.
Aus dem Englischen von Christine Hardung