Es rächt sich zurzeit, dass das Imperium als politische Kategorie aus den Theorien der internationalen Politik verschwunden ist. Nicht nur die Politiker der Europäischen Union stehen Putins Agieren auf der Krim und in der Ostukraine ratlos gegenüber, sondern erst recht und noch viel mehr tun dies die mit Fragen der internationalen Beziehungen befassten Politikwissenschaftler. Auch die wenigsten Russland- und Osteuropaspezialisten haben die Entwicklung der vergangenen Monate im Schwarzmeerraum antizipiert.

Längerfristig betrachtet ist Putins Handeln sicherlich nicht rational. Russland wird für die territorialen Zugewinne, die es gemacht hat, einen in der Summe sehr hohen Preis zahlen. Obendrein wird die Kluft, die sich zwischen der EU und Russland inzwischen aufgetan hat, beide Seiten an einer wirkungsvollen Kooperation hindern. Dies nicht zuletzt etwa im arabischen Raum, wo die Probleme immer größer werden, ohne dass eine Lösung in Sicht käme.

 

Revision des westlichen Analyserasters

Der Hauptgrund für die westliche Fehlbeurteilung der politisch-militärischen Elite in Russland dürfte darin liegen, dass Theorien, die auf der Grundannahme rationaler Nutzenmaximierung errichtet wurden, den Einfluss historischer Erinnerung für Entscheidungen nicht kennen. Deshalb wurden Sentiments und Ressentiments nicht systematisch in die Modelle einbezogen. So wurde die Äußerung Wladimir Putins, der Zerfall der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, als Anekdote zur melancholischen Stimmung des Kremlherrn begriffen, nicht aber als handlungsleitende Vorstellung maßgeblicher russischer Politiker.

Hätte man dagegen die Bedeutung historischer Erinnerung an einstige Größe in Rechnung gestellt, dann hätte man mit einem entsprechenden Agieren der Russen gerechnet, sobald bestimmte Entwicklungen die alte Größe in noch weitere Ferne zu rücken drohten. Folglich hätte  man bei Beachtung historischer Reminiszenzen die Gespräche über ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine mit größerer Sensibilität für russische Befindlichkeiten geführt und entweder Rücksicht genommen oder mit einer heftigen Reaktion gerechnet. Die Europäer aber taten weder das Eine noch das Andere. Das spricht dafür, dass neoimperiale Träume und ein durch sie angeleitetes Handeln der Russen außerhalb ihres Analyserasters lagen. Es ist an der Zeit, dieses Analyseraster einer gründlichen Revision zu unterziehen.

Ein Ansatzpunkt dabei ist die Reflexion auf postimperiale Räume und die Ausbildung von Krisenherden in solchen Räumen. Am Ende des Ersten Weltkriegs sind die drei großen multinationalen und multireligiösen Großreiche Mittel- und Osteuropas sowie des Nahen Ostens untergegangen: Das Habsburgerreich, das Reich der russischen Zaren und das Osmanische Reich. Die kohäsiven Kräfte dieser Großreiche waren den Versprechungen nationaler wie religiöser Separation nicht gewachsen. Der offiziellen Lesart nach, wie sie sich in den Friedensverträgen am Ende des Ersten Weltkriegs findet, traten Nationalstaaten an die Stelle der einstigen Imperien, in denen die freie Selbstbestimmung der Völker die repressive Struktur der einstigen „Völkergefängnisse“ ablöste.

Wo postimperiale Räume keine stabile neue Ordnung entwickeln, werden sie zur Einladung, neoimperiale Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Doch so einfach war das nicht. Es gab Nationalstaaten, die sich auf ein gefestigtes Identitätsbewusstsein gründen konnten, und es gab Staaten, in denen der nationale Zusammengehörigkeitsanspruch im Wesentlichen auf den Vorstellungen einer kleinen Elite beruhte. Und schließlich gab es infolge der langen Imperialgeschichte Gebiete, in denen unterschiedliche ethnische Gruppen siedelten und sich bis in die Kleinstädte und Dörfer hinein multireligiöse Strukturen herausgebildet hatten. Der Zerfall der imperialen Ordnung war hier damit gleichbedeutend, dass diese Zugehörigkeiten politisiert wurden. Freund-Feind-Unterscheidungen hielten Einzug. Die Zeit des friedlichen Zusammenlebens ging damit zu Ende.

Postimperiale Räume sind Räume politischer Instabilität, ethnischer wie religiöser bzw. konfessioneller Konflikte sowie forcierter Verteilungskämpfe, die durch keinerlei Zusammengehörigkeitsgefühl oder wechselseitige Solidarität begrenzt werden. Die konkurrierenden Interessen und exkludierenden Identitäten treffen hier ungebremst aufeinander.

Nicht überall, wo Imperien untergegangen sind, entstehen postimperiale Räume im beschriebenen Sinn, aber man muss immer und überall damit rechnen. An den Rändern und der Peripherie Europas ist dies vor allem der Raum, der vom westlichen Balkan bis zum Schwarzen Meer reicht, dessen angrenzende Gebiete zum Teil einschließt und bis in den Kaukasus hineinreicht: Jugoslawien hat sich als Chimäre eines Nationalstaats erwiesen und ist in den 1990er Jahren zerfallen, Armenier und Aserbeidschaner haben um die Enklave Berg-Karabach Krieg geführt, an den Rändern Georgiens ist es zu Separationen mit begleitenden Kriegen gekommen, und der Nordkaukasus, Tschetschenien etwa und angrenzende Gebiete, ist ein Raum des Bürgerkriegs. Auch die Ukraine war und ist kein Nationalstaat im westeuropäischen Sinn.

Der andere postimperiale Raum, der die Europäer in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Atem halten wird, ist der arabisch-islamische Raum, der bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger zum Osmanischen Reich gehörte, das riesige Gebiet von der Südgrenze der heutigen Türkei bis in den Jemen, von Mesopotamien bis nach Tripolis an der afrikanischen Mittelmeerküste. Von Nationalstaaten hat hier nie die Rede sein können. Was dort entstand, war stets eine Melange aus Monarchien, Militärregimen und mehr oder weniger offenen Diktaturen. Nach der kurzen Hoffnungsphase des „Arabischen Frühlings“ ist dieser Raum in Krieg und Bürgerkrieg versunken - bekanntlich mit unbeschreiblichen Grausamkeiten und endlosen Flüchtlingsströmen.

 

Neoimperiale Träume kommen auf

Beide postimperialen Räume, der vom Balkan bis zum Kaukasus und der von Mesopotamien bis in die libysche Wüste, sind durch eines miteinander verbunden: Das Aufkommen neoimperialer Träume, die sich als neue Ordnung nach dem augenscheinlichen Scheitern der postimperialen Strukturen anbieten. Putins Agieren mag sich von dem der IS-Milizen in operativer Hinsicht grundlegend unterscheiden. Doch was beide verbindet, ist ein neoimperialer Traum, der dort Ansatzpunkte der Realisierung findet, wo es zur Erosion der postimperialen Ordnungsstrukturen kommt. Wo postimperiale Räume keine stabile neue Ordnung entwickeln, werden sie zur Einladung, neoimperiale Träume Wirklichkeit werden zu lassen.

Solche Träume entwickeln sich schon bald nach dem Zusammenbruch des alten Imperiums, doch sind zunächst pure Nostalgie kleiner Gruppen. Das imperiale Konzept des eurasischen Großraums entstand bald nach dem Ende der Sowjetunion, und das Osmanische Reich war grade untergegangen, als die ersten Ideen eines unter dem Banner des Islam geeinten arabischen Raums auftauchten. Erst das Scheitern bzw. die Erosion der zunächst entstandenen Ordnung hat aus den bloßen Träumen politische Neuordnungsprojekte werden lassen.

Postimperiale Räume sind Wetterecken der Weltpolitik, in denen Konflikte entstehen, die nach einer gewissen Zeit um sich greifen und bis in die Zentren der politischen und ökonomischen Stabilität übergreifen.

 

Aus einer solchen imperiumstheoretisch angeleiteten Beschreibung folgen Hinweise für die praktische Politik: Postimperiale Räume sind Wetterecken der Weltpolitik, in denen Konflikte entstehen, die nach einer gewissen Zeit um sich greifen und bis in die Zentren der politischen und ökonomischen Stabilität übergreifen. Die dominierenden Ordnungsmächte sind darum gut beraten, in die Stabilität postimperialer Räume zu investieren und diese nicht angesichts der Fülle ihrer Probleme sich selbst zu überlassen. Aber sie müssen das klug tun und attraktive Modelle für deren Zukunft anbieten. Das bedeutet, dass sich diese „Investitionen“ nicht auf zeitlich begrenzte Militärinterventionen beschränken können. Sie müssen auf lange Zeit angelegt sein. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Potentiell konkurrierende Ordnungsinvestoren sollten in das Projekt eingebunden werden. So können Kosten vermindert und ein gegenseitiges Ausspielen verhindert werden. Hier sind zuletzt viele Fehler gemacht worden, nicht nur in der operativen Politik, sondern auch in deren politiktheoretisch-strategischer Anleitung.

Die Kraft alter Reichsträume wurde übersehen, in Russland ebenso wie in der Arabischen Welt. Mit diesen Träumen wurde ebenso wenig gerechnet wie mit der ordnungszerstörenden Dynamik postimperialer  Räume. Gewiss: Russland wird langfristig aus seinem Agieren große Nachteile haben, und die IS-Milizen werden den jetzigen Krieg militärisch nicht gewinnen. Aber die Europäer werden ihre begrenzten Ressourcen für die Bearbeitung dieser Probleme einsetzen müssen, und die verwendeten Ressourcen  werden bei der Bewältigung anderer Probleme fehlen. Wahrscheinlich hätte man die Krise im arabischen Raum auch bei mehr Voraussicht und Klugheit nicht verhindern können. Im Fall der Ukraine dagegen wäre das jedoch durchaus möglich gewesen. Allerdings hätten dafür die Kategorie des Imperialen und die Kraft historischer Reminiszenz ins politische Kalkül einbezogen werden müssen.