Die NATO und nahezu alle Sicherheitspolitiker im Westen haben zu Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine die Offensivfähigkeit und den Einsatzwert der russischen Armee dramatisch überschätzt. Heute, nur ein Dreivierteljahr später, glauben nunmehr einige Militärexperten – in einer Überreaktion – an einen ukrainischen Sieg, bei dem das gesamte von Russland besetzte Territorium zurückerobert werden könne. Der Ukraine ist es zwar in der Tat gelungen, einen erheblichen Teil des von Russland besetzten Territoriums zurückzuerobern. Inzwischen ist in den Kämpfen aber im Großen und Ganzen eine Pattsituation entstanden.

Die russische Armee hat nach den erheblichen Geländeverlusten im Raum Charkiw und dem von der Ukraine erzwungenen Rückzug auf das Ostufer des Dnepr die Front wesentlich verkürzt und konsolidiert. Der breite Dnepr stellt eine erhebliche Barriere für mögliche Gegenangriffsoperationen der ukrainischen Streitkräfte im südlichen Teil der Front dar. Die militärische Lage in der Ostukraine dürfte in den Wintermonaten am Ehesten durch einen längeren Abnutzungs- und Stellungskrieg mit zeitweisen lokalen Stößen und Gegenstößen gekennzeichnet sein. Fortgesetzte russische Luftangriffe mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern gegen kritische Infrastrukturen in der ganzen Ukraine zielen auf die Zermürbung des Verteidigungswillens der Bevölkerung im kalten Winter. Der Munitionsverbrauch auf beiden Seiten ist ungewöhnlich hoch. Meldungen über Verschleißerscheinungen bei Hauptwaffensystemen häufen sich. Vor allem bei der wichtigen Artilleriemunition dürften die russischen Streitkräfte aktuell bereits erhebliche Nachschubprobleme haben.

Aber auch die westliche Seite kann nicht weiter in die Sperrbestände der Munitionsdepots ihrer Streitkräfte eingreifen und unbegrenzt liefern. Dies gilt in besonderem Maße für Deutschland. Auch in den USA stoßen die Munitionsvorräte für die M777-Haubitzen und die weitreichenden HIMARS-Raketenwerfer an Grenzen. Die bereits angelaufene Steigerung der Produktionskapazitäten für Munition in den USA und in Europa wird Zeit in Anspruch nehmen. Viele aus dem Westen bereits gelieferte moderne Waffensysteme müssen zudem instand gesetzt werden

Der Munitionsverbrauch auf beiden Seiten ist ungewöhnlich hoch.

Nachdem Wladimir Putin noch im September 2022 in seiner „Kein Bluff“-Rede erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hatte, veröffentlichte das russische Außenministerium am 2. November 2022 eine Erklärung, in der deutlich von Atomdrohungen abgerückt wurde. Frühere Erklärungen der Atommächte werden in dieser Verlautbarung wiederholt, denen zufolge ein Atomkrieg nicht gewonnen werden könne und niemals geführt werden dürfe. Die Veröffentlichung wurde vielfach als Entspannungszeichen gewertet. Putin selbst hat allerdings in mehreren Äußerungen in der zweiten Dezemberwoche widersprüchliche Signale verbreitet. Er warnte vor der wachsenden Bedrohung durch einen Atomkrieg, vermischte Aspekte der Strategischen Stabilität zwischen den Atommächten mit dem Risiko einer nuklearen Eskalation im Krieg in der Ukraine und wies andererseits auf den primären Abschreckungscharakter der russischen Atomwaffen hin. Von nuklearer Entspannung kann an dieser Stelle also noch nicht geredet werden, zumal stets zwischen nuklearer Deklaratorik einerseits und operativen nuklearen Strategien andererseits differenziert werden muss.

US-Präsident Joe Biden hat mehrfach, zuletzt am 6. Oktober 2022, deutlich gemacht, dass beim Einsatz taktischer Atomwaffen das Risiko einer Eskalation in ein atomares Inferno besteht. Mit dem Begriff „Armageddon“ hat er zum Ausdruck gebracht, dass die Gefahr eines atomaren Flächenbrands besteht, wenn die nukleare Schwelle einmal überschritten wird. Der sicherheitspolitisch überaus erfahrene US-Präsident spürt offenbar, ganz im Gegensatz zur verbreiteten nuklearen Nonchalance in manchen medialen Äußerungen auf beiden Seiten des Atlantiks, die existentielle Verantwortung für die Verhinderung eines Atomkrieges, die schwer auf seinen Schultern lastet.

Offenbar will er eine Lageentwicklung vermeiden, in der Putin und dessen Militärführung eine nukleare Eskalation als unabdingbar erscheint, um eine eklatante Niederlage zu vermeiden, trotz aller unkalkulierbaren Folgen. Die amerikanischen Unterstützungsleistungen sind dementsprechend seit Kriegsbeginn kalibriert. Moskau und Washington sind letzten Endes dazu verdammt, die Eskalationskontrolle in diesem Krieg aufrechtzuerhalten. Warnungen vor einer nuklearen Eskalation als übertriebene Ängste darzustellen, ist verantwortungslos.

Warnungen vor einer nuklearen Eskalation als übertriebene Ängste darzustellen, ist verantwortungslos.

Ob die beiderseitige Eskalationskontrolle im weiteren Verlauf der russischen Aggression gegen die Ukraine gelingt, ist aber keineswegs gesichert. Der tödliche Einschlag einer verirrten ukrainischen Luftabwehrrakete auf polnischem Boden am 15. November 2022 hat in Erinnerung gerufen, dass auch russische Raketen aufgrund von technischen Fehlfunktionen jederzeit auf NATO-Gebiet einschlagen können. Moskau geht dieses Risiko mit jeder Raketensalve auf die Westukraine ein. Der NATO-Generalsekretär hat nach dem Einschlag der ukrainischen Rakete auf polnischem NATO-Gebiet zu Recht darauf hingewiesen, dass die Erklärung des NATO-Bündnisfalls einen vorbedachten, absichtlichen Angriff („deliberate attack“) auf ein NATO-Land voraussetzt. Bei solchen Szenarien sind militärische und diplomatische Kontakte zwischen der NATO beziehungsweise ihren Mitgliedsstaaten und Russland außerordentlich wichtig, um Fehlwahrnehmungen, Fehlkalkulationen und unbeabsichtigte Eskalationen zu vermeiden.

Die immer wieder vernehmbare Argumentation, der Westen müsse mit Hilfe der Ukraine das russische Militär in die Knie zwingen, weil Putin sonst als Nächstes die NATO-Osteuropäer angreifen werde, kommt schlicht analyseschwach daher. Die konventionelle russische Armee ist heute bereits durch diesen verfehlten Krieg extrem geschwächt und vermutlich für die nächsten fünf bis zehn Jahre gegen die NATO nicht offensivfähig. Zudem: Der erhebliche Kräfteaufbau der NATO an ihrer Ostflanke in den kommenden Jahren unter dem Dachbegriff New Force Model wird zu einer gesicherten konventionellen Verteidigungsfähigkeit gegen Russland, vermutlich sogar zu einer militärischen Überlegenheit der NATO in der Region führen. Denn die westlichen Sanktionen im Bereich der Halbleiterelektronik werden sich nachhaltig negativ auf die russische Rüstungsproduktion auswirken. Für Moskau dürfte nach diesem Krieg für längere Zeit Selbstbeschäftigung angesagt sein. Eine umfassende Militärreform erscheint zwingend erforderlich, wie bereits nach dem desaströsen Erscheinungsbild der russischen Streitkräfte im Krieg gegen Georgien 2008.

Die USA und einige NATO-Staaten, jedoch nicht die NATO als Organisation, sind tief in die Verteidigung der Ukraine involviert – auf völkerrechtlich einwandfreier Grundlage. Auf der geopolitischen Ebene handelt es sich um einen russisch-amerikanischen Konflikt. Ohne die amerikanische Unterstützung, ergänzt durch andere NATO-Staaten, könnte sich die Ukraine nicht erfolgreich verteidigen. Das heißt, Biden bestimmt den militärpolitischen Handlungsspielraum Selenskis. Vor diesem Hintergrund liegen die Schlüssel für eine Beendigung des Krieges tatsächlich in Moskau und Washington. In den USA ist eine Debatte über mögliche Wege zur Beendigung der Kampfhandlungen angelaufen. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs im Pentagon, General Mark Milley, hat in bemerkenswerten Statements kürzlich zum Ausdruck gebracht, dass Russland und die Ukraine wechselseitig anerkennen müssten, dass ein militärischer Sieg nicht erzielbar ist und die Wintermonate für Verhandlungen genutzt werden sollten.

Auf der geopolitischen Ebene handelt es sich um einen russisch-amerikanischen Konflikt.

Ihm ist in der inneramerikanischen Debatte auch widersprochen worden. Gegner warnen vor einem „Diktatfrieden“, ohne jedoch realistische Alternativen aufzuzeigen. Die Äußerungen des höchstrangigen amerikanischen Generals korrespondieren vermutlich eng mit der Haltung des amerikanischen Präsidenten, der an Wegen interessiert zu sein scheint, wie der Krieg zu letztlich annehmbaren Bedingungen für die Ukraine beendet werden kann. Präsident Biden sollte darin vor allem vom deutschen Bundeskanzler und dem französischen Präsidenten ausdrücklich unterstützt werden. Denn die militärpolitische Vernunft spricht für eine baldige Beendigung dieses verlustreichen Krieges, in dem eine Pattsituation eingetreten ist.

Russland hält zwar nur noch deutlich unter 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets besetzt, Versuche weiterer raumgreifender Gegenoffensiven Kiews dürften aber nicht nur extrem verlustreich, sondern auch erfolglos sein. General Milleys Vorschlag, die Winterzeit für Verhandlungen zu nutzen, ist daher vernünftig und richtig. Das verbreitete Gegenargument, unter anderem vom NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Moskau sei nur an einer operativen Pause interessiert, um im Frühjahr wieder anzugreifen, mag zutreffen. Aber auch die ukrainische Armee würde mit westlicher Hilfe eine Waffenpause nutzen, um ihre Verteidigungs- und Gegenangriffsfähigkeiten zu verstärken und damit ein glaubwürdiges Abschreckungspotential aufbauen.

Inzwischen liegen eine Vielzahl an Initiativen und Vorschlägen für Waffenstillstands- beziehungsweise Friedensverhandlungen vor. All diese wohlgemeinten Vorschläge enthalten Mosaiksteine für einen Ausweg aus dem Krieg. Echte Verhandlungen zur Beendigung des Krieges können indessen nicht öffentlich geführt werden, sondern erfordern einen längeren und mühsamen Dialogprozess hinter verschlossenen Türen. Sie können vermutlich nur mit Aussicht auf Erfolg geführt werden, wenn Moskau und Washington einen Verhandlungsrahmen abstecken, in dem Kompromisse zwischen Russland und der Ukraine möglich erscheinen.

Territoriale Lösungen dürften der schwierigste Verhandlungsgegenstand sein.

Kiew muss dabei nicht nur eingebunden werden, sondern selbstverständlich als Hauptverhandlungspartner am Tisch sitzen. Eine Kontaktgruppe mit wenigen Staaten, die in der Lage sind, vermittelnden Einfluss zu nehmen, könnte Kompromisse erleichtern. Neben Russland und den USA könnten die Türkei, China und die Europäische Union in eine solche Kontaktgruppe eingebunden werden. Ein echtes Friedensabkommen dürfte es auf absehbare Zeit jedoch nicht geben. Eine internationale Anerkennung der von Russland annektierten Gebiete einschließlich der Krim ist praktisch ausgeschlossen. Denn die Ukraine hat bei ihrem Anspruch, die besetzten Räume zurückzuerhalten, das Völkerrecht auf ihrer Seite. Territoriale Lösungen dürften der schwierigste Verhandlungsgegenstand sein und sind nur in sehr langfristiger Perspektive vorstellbar.

Allein die Aufgabe, zeitnah einen kriegsbeendenden Modus Vivendi zu finden, gleicht der Quadratur des Kreises. Sie sollte dennoch angegangen werden. In kurzfristiger Perspektive sollten die Beendigung der verheerenden russischen Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine, die militärische Entflechtung und unabhängige internationale Überwachung eines Waffenstillstands in den Mittelpunkt rücken. Ebenso notwendig ist die entscheidende Verbesserung der humanitären Situation in den noch besetzten Gebieten der Ukraine, die Verfolgung der verübten Kriegsverbrechen und der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur in der Ukraine.

Über all diesen brennenden Fragen, wie der russische Angriffskrieg gestoppt werden kann, schwebt ein übergreifendes Thema, von dem auch Deutschland unmittelbar betroffen ist. Nachdem der Eiserne Vorhang wieder gefallen ist, müssen über den Krieg hinaus Perspektiven entwickelt werden, wie die künftige Russlandpolitik in NATO und Europäischer Union sicherheits- und friedenspolitisch gestaltet werden soll. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt: Effektive militärische Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO werden notwendig, aber nicht hinreichend sein für eine künftige belastbare Koexistenz mit Russland.