Die erste große außenpolitische Rede des neuen US-Präsidenten Joe Biden enthielt nicht viel Überraschendes. Bislang bleibt Biden konsequent bei seinen Talking Points: Amerika meldet sich zurück, die Diplomatie wird wieder im Mittelpunkt der Außenpolitik stehen, Washington übernimmt erneut die Führungsrolle der westlichen Welt und eint den Westen wieder im Namen der Demokratie. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten werden sich der zentralen Herausforderung des Autoritarismus stellen, der sich in den Ambitionen Chinas und im destruktiven Verhalten Russlands artikuliert.
Zugleich werde Washington mit seinen Rivalen und Gegnern in Peking und Moskau das Gespräch suchen, wenn es um US-Interessen geht oder Amerikas nationale Sicherheit es erfordert. Außerdem werden die Vereinigten Staaten bei der Bewältigung globaler Herausforderungen vom Klimawandel über die Pandemie und die nukleare Aufrüstung bis hin zur Cybersicherheit eine führende Rolle in der Welt übernehmen.
Ein wirklich neuer konzeptioneller Baustein in der Rede des Präsidenten ist der Gedanke, dass die amerikanische Außenpolitik mit den Interessen der großen Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung – also der Mittelschicht – im Einklang stehen sollte, aber das ist ein innenpolitisches Thema. Dass die USA ihre weltweite Vormachtstellung nicht China überlassen werden, hat Biden natürlich auch deutlich gemacht. Die Gegenoffensive hat also begonnen.
Was sollen die Russen davon halten? Für eine Reihe von einsamen US-Verbündeten, die in den vergangenen Jahren so wirkten, als hätte ihr Anführer sie im Stich gelassen oder vernachlässigt, dürfte die Nachricht, dass Amerika sich zurückmeldet, eine ermutigende Botschaft sein. Auf die Beobachter in Moskau und wahrscheinlich auch in Peking hingegen machten die USA unter Donald Trump natürlich einen ausgesprochen aktiven – wenn auch spektakulär chaotischen – Eindruck.
Dabei gehörte es zu den Besonderheiten von Trumps Präsidentschaft, dass die USA in diesen vier Jahren keine neuen Kriege angefangen haben.
Der Gedanke, dass die Diplomatie wieder in den Mittelpunkt der Außenpolitik rückt, macht neugierig und stutzig zugleich. Gemeint ist damit, dass militärische Aktionen zugunsten diplomatischer und anderer gewaltfreier Maßnahmen in den Hintergrund treten. Dabei gehörte es zu den Besonderheiten von Trumps Präsidentschaft, dass die USA in diesen vier Jahren keine neuen Kriege angefangen haben – eine seltene Ausnahme. Vor diesem Hintergrund wird man Bidens Botschaft im Kreml wohl so interpretieren, dass die Vereinigten Staaten künftig umso intensiver mit nicht militärischen Mitteln gegen ihre erklärten Gegner inklusive Russland zu Felde ziehen werden.
Eine weitere Schlussfolgerung dürfte lauten: An der grundsätzlichen Stoßrichtung der US-Außenpolitik hat sich nicht viel geändert. Die Trump-Regierung bezeichnete China und Russland als Amerikas Hauptrivalen um die Macht; Biden nennt die beiden Länder die Hauptgegner der freiheitlich-demokratischen Ordnung, deren Stütze und Anführer die Vereinigten Staaten seien. In der Sache ändert sich nichts. Es mag und wird wahrscheinlich stilistische Unterschiede geben, aber keine substanziellen Veränderungen.
Gegenüber Peking werden die USA sich vielleicht flexibler zeigen, aber der Grundantagonismus wird bestehen bleiben. Russland wird von den USA auch künftig mit Sanktionspaketen belegt werden, wobei die Aussicht besteht, dass Biden sie intelligenter und strategischer gestaltet. Einerseits werden die USA und Russland in Fragen der strategischen Stabilität, die die Demokraten-Regierung ernsthafter angehen will als die republikanische Vorgänger-Administration, miteinander interagieren. Andererseits wird Amerika beharrlich verurteilen, was Joe Biden die „Entschlossenheit Russlands“ nennt, der amerikanischen Demokratie „zu schaden und sie zu lähmen“, und diese Entschlossenheit mit Vergeltungsmaßnahmen beantworten. Bleibt zu hoffen, dass bei dieser Zweigleisigkeit die Gleise wirklich parallel verlaufen und die Weichen nicht so gestellt werden, dass die Züge kollidieren.
Ebenso wie China wird Russland die amerikanischen Verbündeten als stärker geeinte Front erleben. Als Biden die sofortige Freilassung des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny forderte, schlossen Angela Merkel, Emmanuel Macron, Boris Johnson und viele andere Staats- und Regierungschefs der westlichen Welt sich dieser Forderung an. Beim jüngsten Prozess gegen Nawalny in Moskau fanden sich Diplomaten aus 20 Botschaften im Gerichtssaal ein.
Russland ist von der Erderwärmung stärker betroffen als viele andere Länder.
Moskau sieht darin ein Zeichen eklatanter ausländischer Einmischung in die russische Innenpolitik und weist sämtliche Vorwürfe von sich. Die Einigkeit der westlichen Front dürfte zwar in ideologischen Fragen ausgeprägter sein als in Interessenfragen, aber Moskau wird mehr Mühe haben, Differenzen zwischen den Verbündeten für sich auszunutzen. Es wird schwieriger, zwischen Russlands Konfrontation mit den USA und seiner Entfremdung von der EU zu unterscheiden.
Gleichzeitig lässt manches in der Rede von Präsident Biden den Schluss zu, dass sich für Russland womöglich Spielräume für eine Zusammenarbeit mit den USA ergeben, die über strategische Stabilität und Waffenkontrolle hinausgeht. Das gilt für globale Themen wie den Klimawandel, die Covid-19-Pandemie und die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen.
Russland ist von der Erderwärmung stärker betroffen als viele andere Länder. Einerseits nutzt es die Vorteile, die sich etwa durch das Abschmelzen der Eismassen in der Arktis ergeben; andererseits muss es mit den negativen Auswirkungen wie dem schmelzenden Permafrost in weiten Teilen des eigenen Staatsgebiets zurechtzukommen. Und mit seinem Covid-19-Impfstoff „Sputnik V“ beweist Russland, dass es in der Lage ist, Viren in den Griff zu bekommen.
Wie dem auch sei, die Kooperation in Klima- und Gesundheitsfragen wird weder sehr eng noch besonders intensiv sein und sicherlich nichts am rauer werdenden Gesamtklima in den Beziehungen zwischen den USA und Russland ändern. Beim Thema der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen sieht die Sache allerdings anders aus. Russland würde es begrüßen, wenn die USA dem Atomabkommen mit dem Iran wieder beitreten, aber was die Biden-Regierung konkret vorhat, ist noch nicht klar.
Insgesamt nimmt der Kreml die Demokraten-Regierung als außen- und sicherheitspolitisch berechenbarer und professioneller als die Vorgängerregierung wahr.
Die einzige wichtige Entscheidung, die der US-Präsident in seiner ersten außenpolitischen Rede bekannt gab, war die, dass die USA den Saudis die Unterstützung für ihren Krieg gegen die mit Iran verbündeten Huthis im Jemen entziehen. Gleichzeitig bekräftigte Biden jedoch, dass Washington sich der Sicherheit Saudi-Arabiens gegenüber dem Iran verpflichtet fühle.
Moskau, das mit Teheran engen Kontakt hält, ist nach wie vor ein maßgeblicher Akteur in der iranischen Nuklearfrage und müsste von Washington eingebunden werden, wenn die Vereinigten Staaten ihre diplomatischen Bemühungen wiederaufnehmen wollen. Weitaus geringer ist Russlands Einfluss natürlich in Nordkorea; dort ist Peking der wichtigste externe Akteur. Wie das Weiße Haus mit dieser Thematik strategisch umgehen will, hat Biden noch nicht verlauten lassen.
Insgesamt nimmt der Kreml die Demokraten-Regierung als außen- und sicherheitspolitisch berechenbarer und professioneller als die Vorgängerregierung wahr. Präsident Biden als Person ist in Moskau seit Leonid Breschnews Zeiten bestens bekannt – beim besten Willen nicht als Russlandfreund, sondern als Veteran des Kalten Krieges, auf den aber Verlass ist.
Die US-Regierung, die unter Trump an innerer Spaltung litt, wirkt auf einmal in sich geschlossen. Bidens außenpolitisches Führungspersonal, darunter Außenminister Antony Blinken und der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, entstammt seinem bisherigen Beraterstab und wird gegenüber seinem Chef loyal sein. Die Demokratische Partei hat in beiden Kammern des US-Kongresses die Mehrheit. Die traditionellen Medien und die Social-Media-Konzerne sind den Demokraten weit überwiegend freundlich gesonnen und somit eine Verstärkung für das Lager des Wahlsiegers.
Alles in allem bleibt Washington in seiner Grundhaltung ein Russlandgegner und stärkt den innenpolitischen Widersachern des Kremls offen den Rücken. Zugleich wird erwartet, dass Biden politisch vorsichtiger agieren wird, wenn es um die nationale Sicherheit der USA geht, und dass er dort, wo US-Interessen berührt werden, sogar eine pragmatische Politik entwickelt. Im Kreml wird man auf der Hut sein, aber damit kann man dort wohl leben.
Der Artikel wurde zuerst vom Carnegie Moscow Center veröffentlicht und ist Teil des von der US-Botschaft in Russland unterstützten Projekts „Relaunching U.S.-Russia Dialogue on Global Challenges: The Role of the Next Generation“. Er gibt ausschließlich die Meinung des Autors wieder.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld