Anfang 2024 ist die Anzahl der Mitglieder in der Staatenallianz BRICS von fünf (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) auf insgesamt neun teilnehmende Länder angewachsen. Die Aufnahme von Iran, Ägypten, Äthiopien und den Vereinigten Arabischen Emiraten war die zweite Erweiterung der Staatenallianz, die 2006 gegründet worden und 2010 mit Südafrika auf fünf Mitglieder angewachsen war. Seit der diesjährigen Ausdehnung etabliert sich das Kürzel „BRICS+“. Damit aber nicht genug. Aus neun Ländern könnte demnächst sogar eine zweistellige Mitgliederzahl werden. Dieses Jahr haben bereits die beiden südostasiatischen Staaten Malaysia und Thailand sowie Aserbaidschan einen Mitgliedsantrag gestellt. Anfang September kündigte nun auch die Türkei offiziell an, Teil der Allianz werden zu wollen.
Das Ansinnen Ankaras kommt nicht überraschend. Wiederholt hatte Präsident Erdoğan darüber spekuliert, dass die Türkei Mitglied werden solle. Sein Außenminister Hakan Fidan hatte bereits im Juni während des Treffens des „BRICS+“-Ministerrats im russischen Nischni Nowgorod die politische Absicht der Türkei angekündigt. Russland signalisierte sofort Zustimmung. Die Türkei wäre das erste BRICS-Mitglied, welches gleichzeitig Mitglied der NATO-Allianz ist, und – zumindest formal – immer noch ein EU-Beitrittskandidat. Diese strategische Ambiguität ist politisch jedoch gewollt und kennzeichnet die zunehmende Pluralität institutioneller Anbindungen der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Es wäre allerdings zu kurz gedacht, in den BRICS-Antrag Ankaras eine Infragestellung seiner NATO-Bündnistreue hineinzuinterpretieren. Vielmehr spiegelt sich in dem Vorgehen Erdoğans demonstrative Absicht, einseitig alternative Handlungsoptionen zu verfolgen, ohne sich durch westliche oder europäische Verpflichtungen gebunden zu fühlen. Dafür bietet sich die BRICS+-Allianz geradezu an. Kritiker wie Befürworter sehen in dem erweiterten Staatenbund ein symbolisches Gegengewicht zur G20 und zur EU. Allerdings mangelt es BRICS+ bisher an formalen Strukturen, die auch nicht durch ein jährliches Gipfeltreffen kompensiert werden können. Zudem sind keine einheitlichen Regeln und Standards für koordiniertes Handeln der BRICS-Mitglieder, etwa in der Außenwirtschaftspolitik, erkennbar.
Durch eine BRICS-Mitgliedschaft eröffnen sich der Türkei auf anderen Politikfeldern neue Handlungsoptionen, insbesondere hinsichtlich finanzieller Ressourcen. So haben BRICS-Mitglieder Zugang zur New Development Bank. Die multilaterale Entwicklungsbank, welche 2014 gegründet wurde, fungiert in ihrem Selbstverständnis als Alternative zu den westlich geprägten Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Dieser finanzielle Aspekt kann noch einen Schritt weiter operationalisiert werden. Die neun BRICS-Mitglieder und ihre zukünftigen Anwärter eint eine währungspolitische Zielsetzung. Sie sind zunehmend bestrebt, ihren Handel miteinander sowie Investitionen in anderen Währungen als dem US-Dollar zu gestalten. Die Hinwendung zum chinesischen Renminbi findet bereits in den Energietransfers und Kreditlinien einzelner BRICS-Länder statt.
Seit 2016 besteht bereits eine Währungsaustauschvereinbarung zwischen den Zentralbanken der Türkei und Chinas. Diese sogenannten „Swap-Geschäfte“ haben formal zum Ziel, die Bedeutung der lokalen Währungen gegenüber dem US-Dollar zu stärken. In der Praxis handelt es sich allerdings um eine Finanzhilfe in Milliardenhöhe von Peking an Ankara. Der langfristige Kredit wird im Rahmen eines Lira-Renminbi-Swap-Abkommens abgewickelt. Damit werden die Devisenreserven der Türkei mit Chinas Hilfe aufgestockt.
Die angestrebte BRICS+-Anbindung unterstreicht die wachsenden wirtschaftspolitischen Verflechtungen zwischen Ankara und Peking.
Die angestrebte BRICS+-Anbindung unterstreicht die wachsenden wirtschaftspolitischen Verflechtungen zwischen Ankara und Peking. Letzteres ist auch in den bilateralen Investitionsbeziehungen zu beobachten. Der chinesische Elektroautohersteller BYD kündigte im Juli 2024 eine Milliardeninvestition in der Türkei an. Im Westen des Landes, in der Industriestadt Manisa, soll ein Werk entstehen, das jährlich 150 000 Elektro- und Hybridfahrzeuge produziert. In der Nähe von Izmir plant BYD zudem ein Forschungs- und Entwicklungszentrum. Die Standortwahl zugunsten der Türkei ist ein industriepolitischer Erfolg für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Die BYD-Investition unterstreicht die Integration der Türkei in Chinas geopolitische Industriestrategie der „Neuen Seidenstraße“. Die Geografie der Türkei und die erfolgten Infrastrukturmaßnahmen des vergangenen Jahrzehnts – zum Beispiel im Schienengüterverkehr des Landes – ermöglichen es Präsident Erdoğan, die Türkei als wichtigen Transportkorridor zwischen China und teilnehmenden Ländern der Seidenstraße zu positionieren. Dieser Integrationsprozess hat strategischen Charakter. Er ist zwischen Ankara und Peking politisch koordiniert und verstärkt die Rolle der Türkei als „Mittlere Macht“ zwischen Ost und West. Als in-between state kann die Türkei seine strategische Flexibilität erweitern, mit potenziell neuen institutionellen Optionen wie BRICS+ und Milliardeninvestitionen chinesischer Elektroautoproduzenten wie BYD.
Während in zahlreichen Ländern Europas Optionen für De-Risking-Strategien gegenüber China auf den Weg gebracht werden, entscheidet sich die Türkei schrittweise für die entgegengesetzte Richtung. Neben einer möglichen BRICS+-Mitgliedschaft Ankaras gibt es weitere Annäherungsversuche an nicht-westliche Kooperationsformate, wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Dieses Vorgehen entspricht dem geopolitischen Selbstverständnis von Präsident Erdoğan. Der darin angelegte Gestaltungswille äußert sich in unterschiedlichen Politikfeldern, zum Beispiel in der politischen Ambition Ankaras, die Handelsbeziehungen und die verteidigungspolitische Kooperation mit einer wachsenden Zahl afrikanischer Staaten auszuweiten. Der sich ausdehnende rüstungspolitische Fußabdruck der Türkei zeigt sich ebenso in der Bereitschaft, in Libyen, im Nordirak und in Syrien militärisch einzugreifen.
Der Türkei gelingt es sogar, sowohl Russland als auch die Ukraine diplomatisch und verteidigungspolitisch zu unterstützen. Ankaras Vermittlungsbemühungen zwischen Moskau und Kiew – unter anderem beim Getreideabkommen 2022/23 oder beim Zustandekommen regelmäßiger Gefangenenaustausche – signalisieren, was „mittlere Macht“ in Ankara bedeutet. Ein steigender bilateraler Handel, insbesondere bei Energieausfuhren aus Russland, und die anhaltenden Hinweise auf den Export von Dual-Use-Gütern durch die Türkei für die russische Rüstungsproduktion (zum Beispiel Halbleiter, Transistoren und Gasfedern) versetzt Moskau in die Lage, westliche Sanktionen zu umgehen. Im Gegensatz dazu steht die parallele Unterstützung türkischer Rüstungsfirmen für die Drohnenproduktion und deren Anwendung in der Ukraine zur Verteidigung gegenüber den russischen Invasoren.
Es ist nicht zu erwarten, dass der türkische BRICS-Antrag eine schnelle Zustimmung erfährt.
Trotz scharfer politischer Polarisierung, trotz sozialer Verwerfungen durch die horrende Preisinflation und anhaltende Währungsinstabilität ist es der türkischen Regierungspolitik in den vergangenen Jahren gelungen, ihr internationales Prestige zu steigern, insbesondere gegenüber afrikanischen Ländern, den Turkstaaten sowie Russland und China. Diese strategische Aufwertung der Mittelmacht Türkei auf internationalem Parkett wird unter Präsident Erdoğan übersetzt in ein außenpolitisches Interessenprofil, in dem die Türkei Einfluss auf geopolitische Entwicklungen nehmen und deren Resultate mitgestalten will. Ein beabsichtigter Beitritt des Landes zur erweiterten BRICS-Gruppe unterstützt die Strategie Ankaras.
Es ist nicht zu erwarten, dass der türkische BRICS-Antrag eine schnelle Zustimmung erfährt. Die neun BRICS+-Mitgliedstaaten treffen sich vom 22. bis zum 24. Oktober zu ihrem diesjährigen Gipfel in Kasan, an dem auch Präsident Erdoğan teilnehmen wird. Die Integration der 2024 neu aufgenommenen Mitglieder erfordert jedoch Zeit und politisches Kapital. Vor diesem Hintergrund ist hier Ankaras Geduld gefragt.
Die türkische Außenpolitik hat in den vergangenen Jahren diplomatische Vorarbeiten geleistet, um eine eventuelle BRICS-Mitgliedschaft zu ermöglichen. Die Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu den neuen BRICS-Mitgliedern Vereinigte Arabische Emirate und Ägypten hat Präsident Erdoğan durch seine Reisediplomatie und Rüstungsvereinbarungen zielstrebig vorangetrieben. Mit der anvisierten Mitgliedschaft Aserbaidschans würde die Türkei zudem einen wichtigen regionalpolitischen Bündnispartner im erweiterten BRICS-Zusammenschluss antreffen. Die Einbeziehung beider Turkstaaten wäre ein wichtiges energiepolitisches Signal bei gleichzeitiger Ausweitung der multimodalen Transportkorridore.
Mit der formalen Bereitschaft der Türkei, BRICS+ beizutreten, bestätigt Präsident Erdoğan abermals seinen Anspruch auf eine Sonderrolle im transatlantischen Bündnis. Wie mit einem Partnerland umzugehen wäre, welches gleichzeitig Mitglied in der NATO und BRICS+ ist, stellt die beteiligten Akteure vor gänzlich neue strategische Herausforderungen.