„Every war must end“, brachte es der helvetisch-amerikanische Stratege Fred Iklé auf den Punkt in seinem gleichnamigen Klassiker aus dem Jahr 1971. Er warnte aber zugleich, dass in den meisten Kriegen das Kämpfen über den Zeitpunkt hinaus fortgesetzt werde, an dem eine rationale Bestandsaufnahme eigentlich die Beendigung zwingend nahelegen würde – selbst um den Preis weitreichender Konzessionen.

Nach über zweieinhalb Jahren verlustreichen Krieges mehren sich selbst in der Ukraine die Stimmen, die eine verhandelte Lösung des Konflikts befürworten. Völlig unklar bleibt dabei, wie eine solche Lösung aussehen könnte. Die kompromissloseste Position wurde vor fast genau zwei Jahren von der damaligen finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin geäußert: Der Krieg ende, wenn der letzte Russe die Ukraine verlassen habe. Außerhalb selbstreferentieller Social Media Bubbles hört man dergleichen kaum noch und auch Frau Marin ist seit ihrer Abwahl von der Bildfläche verschwunden und demonstriert mit ihrer Anstellung in Tony Blairs illustrem Thinktank bestenfalls, dass völkerrechtliche Bedenken den eigenen pekuniären Interessen nicht immer im Wege stehen müssen.

Der entstehende Konsens konzediert nun – realistisch in Anbetracht der militärischen Lage, wenngleich mit spürbarem Widerwillen – die wahrscheinliche Abtrennung ukrainischen Territoriums, wenigstens wohl erheblicher Teile der Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja, die Russland bereits im Herbst 2022 in einem vonseiten des UN-Generalsekretärs als illegal bewerteten Schritt annektiert hatte. Dazu kommt die Krim-Halbinsel, bereits vor zehn Jahren von Russland besetzt und ebenfalls annektiert.

Nun sind es vor allem Stimmen aus dem anglo-amerikanischen Kommentariat wie Stephen Kotkin, Niall Ferguson, und auch jüngst Joseph Nye, die immer wieder eine sogenannte „koreanische Lösung“ ins Spiel bringen. Gemeint ist damit – in Anspielung auf die Beendigung des Korea-Krieges vor über 70 Jahren – die Idee eines dauerhaften Waffenstillstands anstelle eines Friedensabkommens. Also eigentlich eine Nicht-Lösung. Die Befürworter verweisen auf die Erfolgsgeschichte Südkoreas im Vergleich zum Norden, die Durchsetzung einer liberalen Demokratie und das Erreichen eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Analog dazu stellt man sich die Zukunft der Ukraine vor. Mit westlicher Hilfe solle die Rest-Ukraine nach Einfrieren des Konflikts an der Waffenstillstandslinie, also dem dann bestehenden Frontverlauf, zu einem erfolgreichen und demokratischen Musterstaat entwickelt werden, der seinen Anspruch auf Rückgewinnung des verlorenen Gebiets aufrechterhalte, wenngleich derselbe (vorerst) nicht durchzusetzen wäre.

Für den in den letzten Jahren stark gebeutelten Kontinent wäre ein schwelender Dauerkonflikt in der Ukraine eine kaum tragbare Belastung.

Für die Ukrainer muss eine solche Vorstellung angesichts der Zerstörungen und Menschenverluste einem Trugbild gleichen. Selbst ein Gleichziehen im Pro-Kopf-Einkommen mit Russland erscheint auch auf Jahrzehnte hinaus illusorisch. Die in den Ideen der transatlantischen Vordenker im Hintergrund mitschwingende Neuauflage der alten westdeutschen „Magnettheorie“ aus dem Kalten Krieg, also eine Wiedervereinigung infolge wirtschaftlicher Anziehungskraft, erscheint völlig unrealistisch – und führte offensichtlich bislang auch nicht zur Lösung der koreanischen Frage. Die Korea-Analogie demonstriert nur ein weiteres Mal die Geschichtsvergessenheit dieser strategischen Eliten. Das südkoreanische Beispiel kennzeichnet mehr als Gangnam, High-Tech und verstörend-unterhaltsame TV-Serien. Es umfasst ebenfalls vier Jahrzehnte einer der brutalsten Diktaturen weltweit, Massaker an zehntausenden Zivilisten, zum Beispiel im Jeju-Aufstand oder auch die Ermordung des Präsidenten durch den Direktor der südkoreanischen CIA im Jahr 1979. Und schaut man sich diese Geschichte genauer an, kommt man nicht umhin, das Ausbleiben einer friedlichen Beilegung des Korea-Konflikts und das Fortdauern des Kriegszustandes als einen wichtigen Faktor zu identifizieren, der eben diese Gewalt maßgeblich mit erzeugt hat.

Nehmen wir einmal an, Russland würde einem bedingungslosen Waffenstillstand zustimmen. Selbst für diesen Fall ist die angepriesene „Korea-Lösung“ nicht viel mehr als Augenwischerei. Für Joseph Nye, eine der in Europa weniger bekannten Schlüsselfiguren hinter dem Aufbau unserer heutigen Weltordnung und zugleich hoch angesehener Politikwissenschaftler, würde die Ukraine lediglich auf ihre „Maximalziele“ verzichten. Ihre Weiterexistenz als selbstbestimmter Staat, wenngleich mit reduziertem Territorium, sei Sieg genug. Und da sie bei einem Waffenstillstand die russischen Gewinne nicht formal anerkennen müsse, bliebe auch die Legitimität ihrer Position langfristig erhalten.

Problematisch an dieser Sichtweise ist, dass sie die Folgen eines solchen schwelenden Konflikts für die Ukraine selbst und den europäischen Kontinent systematisch ausblendet. Eine geteilte Ukraine im andauernden Kriegszustand mit dem übermächtigen Nachbarn wäre gezwungen, einen gewaltigen Militärapparat zu unterhalten, könnten doch die Kampfhandlungen jederzeit wieder aufflammen. Dies hätte auch in Anbetracht des sich verschärfenden demografischen Kollapses und des dann wohl kaum zu stemmenden gleichzeitigen Wiederaufbaus der im Krieg massiv in Mitleidenschaft gezogenen Infrastruktur erhebliche Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung. Das Kopieren des südkoreanischen Erfolgs dürfte da in weite Ferne rücken, zumal die für die Umsetzung in Aussicht gestellte umfangreiche Wirtschaftshilfe angesichts des stetigen Erlahmens der Hilfsbereitschaft in den USA und Europa keineswegs gesichert wäre.

Für den in den letzten Jahren stark gebeutelten Kontinent wäre ein schwelender Dauerkonflikt in der Ukraine eine kaum tragbare Belastung zu einem Zeitpunkt, in der das eigene europäische Erfolgsmodell sozialen, wirtschaftlichen und politischen Belastungen ausgesetzt ist. Die Folgen des Ukraine-Krieges sind in den allermeisten Staaten der EU spürbar: finanziell durch die präzedenzlosen Unterstützungsmaßnahmen, militärisch durch die Erosion der eigenen Verteidigungsfähigkeit infolge der Waffenlieferungen, politisch nicht zuletzt durch die Präsenz von über vier Millionen ukrainischer Flüchtlinge. Hinzu kämen infolge einer „Korea-Lösung“ zusätzliche Belastungen.

Die Folgen des Ukraine-Krieges sind in den allermeisten Staaten der EU spürbar.

Da eine NATO-Mitgliedschaft einer Rest-Ukraine politisch nicht durchzusetzen wäre und im Übrigen auch nicht von der amerikanischen Vormacht gewünscht wird, sollen nunmehr die Europäer in die Bresche springen und die internationale Friedenstruppe entlang der Waffenstillstandslinie stellen, organisiert in einer als „Freunde der Ukraine“ titulierten Ad-hoc-Allianz. Angedacht ist dabei, dass diese Gruppierung im Falle einer Wiederaufnahme der russischen Aggression militärisch reagieren würde, also eine Beistandsgarantie nach dem Muster des Artikels 5 im Nordatlantikvertrag. Warum europäische Staaten, die im gegenwärtigen Konflikt einen eigenen Kriegseintritt vermeiden, sich für die Zukunft zu einem solchen quasi-automatischen Beistand verpflichten sollten, bleibt in den Vorschlägen unerklärt – nur einer der vielen Widersprüche.

Fraglich bleibt auch, wie sich eine einmal wiedererstarkte, irredentistische Ukraine in Zukunft verhalten würde angesichts der dann im eigenen Land präsenten europäischen Verbände und mit einer Beistandsgarantie im Rücken. Im Falle eines Angriffs könnten sich zudem auch die Regierungen derjenigen NATO-Staaten, die nicht vor Ort eigene Soldaten stationiert hätten, kaum der Unterstützung ihrer Allianzpartner entziehen.

Selbst im weniger wahrscheinlichen Szenario eines stabilen Waffenstillstands wäre die Konstellation äußerst nachteilig für die Zukunft Europas. Vor Ort in der Ukraine präsent, aber gegenüber einem militärisch wiedererstarkten Russland in konventioneller Hinsicht hoffnungslos unterlegen, müsste Europa massiv aufrüsten, sich aber zugleich auf eine Verteidigung der Ukraine statt die Verteidigung des eigenen Territoriums ausrichten. Eine militärische Machtprojektion, zu der man absehbar auf Jahrzehnte hinaus kaum fähig sein wird. Umso größer wäre somit die militärische und politische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Eine eigenständige Rolle Europas in der Weltpolitik wäre spätestens dann endgültig verspielt.

Letztlich ist die Korea-Analogie ein recht augenfälliger Versuch, das Scheitern der eigenen Politik zu kaschieren und die Torpfosten einfach nach hinten zu verschieben. Was zuvor als krachende Niederlage eingeschätzt worden wäre, ist nun plötzlich ein auf lange Sicht angelegter Sieg. Als erwünschter Nebeneffekt der Fortsetzung des Ausnahmezustands bleibt auch eine Bestandsaufnahme der Verantwortlichkeiten für dieses Scheitern auf der Strecke, insbesondere eben jenes Kommentariats, das zuvor auf eine Aufkündigung des Minsk-Prozesses, eine rigorose Westbindung der Ukraine und anschließend auf einen militärischen Sieg gegen Russland gesetzt hatte.

Aus amerikanischer Sicht ergibt eine solche Wirklichkeitsverweigerung tatsächlich auch strategisch Sinn und würde zudem die eigene Position auf dem Kontinent stärken. Den Europäern, gerade den wirklichen Freunden der Ukraine, wäre zu raten, diesen Irrweg nicht zu beschreiten. Benötigt wird eine politische Lösung dieses Konflikts und keine unbegrenzte Fortsetzung desselben. Nur so haben Europa und die Ukraine selbst eine Zukunft.