Der G20-Gipfel auf Bali setzte ganz auf die Kraft der Bilder: Die Mächtigen der Welt unter Palmen und im Schatten von Buddha-Statuen, in großen Runden und vertraulichen Zirkeln. Für den kuriosesten Moment des Gipfels sorgten allerdings Bundeskanzler Olaf Scholz und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Nach der Explosion einer Rakete auf polnischem Boden traten auf Initiative von US-Präsident Joe Biden kurzfristig die Staats- und Regierungschefs zusammen, um über eine Reaktion zu beraten. Der Bündnisfall stand im Raum, sollte sich herausstellen, dass die Rakete von Russland auf NATO-Territorium abgefeuert worden war. Bundeskanzler Scholz sprach im Anschluss an das Treffen davon, dass sich die NATO-Partner hierzu beraten hätten – obgleich mit Recep Tayyip Erdoğan der Präsident des Landes mit der zweitgrößten Armee der NATO nicht teilgenommen hatte. Erdoğan erklärte später lapidar, er sei nicht verpflichtet, an unwichtigen Sitzungen teilzunehmen.
Es ist immer noch unklar, ob es sich lediglich um ein Kommunikationsproblem, ein Missverständnis oder um eine bewusste Aktion handelte. Allein die Tatsache, dass ein solcher Vorfall die meisten Beobachter und selbst die betroffenen Akteure gar nicht groß zu überraschen schien und auch keine nennenswerten Konsequenzen zeitigte, verweist indes auf ein gewaltiges Problem, dem sich das transatlantische Verteidigungsbündnis gegenübersieht: das Abgleiten verbündeter Staaten zu misstrauisch beäugten Wackelkandidaten, zu „hybriden Partnern“, die einerseits zwar Verbündete sind, deren Verhalten aber längst nicht mehr als den Bündnisnormen entsprechend wahrgenommen wird. Dieses Phänomen betrifft nicht nur die NATO – und innerhalb der NATO nicht nur die Türkei. An ihrem Beispiel wird die Problematik aber besonders deutlich.
Die Türkei treibt den Botschaftern im NATO-Hauptquartier in Brüssel schon seit geraumer Zeit tiefe Sorgenfalten auf die Stirn. Das liegt auch daran, dass das Land einen besonderen Rang innerhalb des Bündnisses einnimmt. Fachpublikationen, Militärs und Politiker verweisen seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zu Recht und in großer Regelmäßigkeit auf die Wichtigkeit der Türkei als Bündnispartner. Die Südostflanke der NATO reicht tief hinein in die geostrategisch wichtige und latent instabile Region des Nahen und Mittleren Ostens. Gleichzeitig fungiert die Türkei als Schwarzmeermacht und dort als Gegengewicht zu Russland. UN-Generalsekretär António Guterres und selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lassen derzeit kaum eine Gelegenheit aus, die Türkei und ihren Präsidenten zu umschmeicheln. Und dennoch scheint die Türkei längst in eine Art zweiten Rang der Bündnismitglieder zurückgefallen zu sein. Das Fehlen bei den Beratungsgesprächen auf Bali wäre hierfür nur das letzte Beispiel in einer langen Reihe von Unstimmigkeiten, Krisen und Eklats, die das Verhältnis der letzten Jahre prägten.
Der Höhepunkt der Entfremdung von der NATO wurde bereits Jahr 2017 erreicht, als die Türkei gegen den erklärten Willen der NATO-Mitglieder und insbesondere der USA das Raketensystem S-400 aus Russland kaufte. Als Reaktion hierauf halten die USA bis heute die Lieferung bereits bezahlter F-35-Kampfjets zurück – ein unerhörter Vorgang zwischen Verbündeten. Und doch kein Einzelfall: Anfang dieses Jahres erregte die Weigerung der Türkei den Ärger seiner europäischen und transatlantischen Partner, als sich der Staatspräsident nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht nur gegen die Beteiligung an Sanktionen gegen Russland aussprach, sondern aktiv nach Wegen suchte, diese zu umgehen. Dass sich die Türkei zudem zunächst gegen einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands stellte und diesen trotz mittlerweile erzielter grundsätzlicher Einigung auf Ebene der Regierungschefs bis heute nicht ratifiziert hat, löst im Bündnis nurmehr allgemeines Seufzen und chronisches Genervtsein aus.
Die allgemeine Ernüchterung mit der Türkei ist nicht nur bei der NATO festzustellen.
Die allgemeine Ernüchterung mit der Türkei ist indes nicht nur bei der NATO festzustellen, sondern auch in allen anderen westlichen Bündnissen und Institutionen. Beispiel EU: Der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil und Bundeskanzler Scholz betonten jüngst unabhängig voneinander die Wichtigkeit, die EU zu stärken und geopolitischer aufzustellen. Hierzu gehöre auch die strategische Erweiterung der EU. Beide nennen den Westbalken, Moldau, die Ukraine und sogar Georgien als perspektivische EU-Mitgliedsstaaten. Die Türkei, immerhin seit 2004 Beitrittskandidatin und längst per Zollunion mit dem europäischen Binnenmarkt verwoben, wird hier nicht einmal mehr erwähnt.
In diese Position hat sich die Türkei insbesondere durch ihr außenpolitisches Verhalten selbst gebracht. Und doch ist es mehr als das Resultat eigensinnigen oder gar irrationalen Handelns. Eine Betrachtung der Türkei mit dem gebotenen analytischen Abstand und ohne überwölbende Moralvorstellungen ergibt ein Muster. Denn die maximale bündnispolitische Flexibilität beschränkt sich längst nicht nur auf den Bereich der militärischen Kooperation, sondern folgt eng der außenpolitischen Agenda der türkischen Regierung.
Die Türkei tummelte sich zuletzt auf allen anderen möglichen internationalen Foren, in Bündnissen, Plattformen, Regionalorganisationen sowie anderen Vereinigungen. Für Aufsehen sorgte Erdoğan Mitte September 2022 in Samarkand, als er wie beiläufig äußerte, die Türkei wolle Mitglied in der Shanghai Cooperation Organization werden – immerhin eine Organisation, die sich die Eindämmung des Einflussbereichs der NATO in ihre Charta geschrieben hat. Kurze Zeit später tauchte der Präsident des OSZE-Mitglieds Türkei beim Gipfel der Conference on Interaction and Confidence-Building Measures in Asia (CICA) im kasachischen Astana auf. Diese Aufzählung ließe sich fortführen: Die Türkei, die einerseits länger Mitglied des Europarats ist als Deutschland, ist ebenso aktives Mitglied in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OWZ), der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) und der Organisation der Turkstaaten, um nur einige Beispiele zu nennen.
Beobachtern und selbst Verbündeten fällt es schwer, in diesem Wirrwarr von Bündnissen mit wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Ansprüchen den Überblick zu bewahren. Die Türkei hingegen weiß sehr genau, aus welchem Forum sie welchen Benefit schlagen kann. Denn nichts anderes dürfte das Ziel sein. Die Bündnisvielfalt ermöglicht es dem türkischen Präsidenten, sich à la carte zu bedienen, je nach aktuellen Erfordernissen. Bündnisse werden entsprechend der eigenen Interessenlage eingegangen oder auf Eis gelegt, gestärkt oder geschwächt, betont oder verschwiegen. Solange die Türkei in der Lage ist, sich als wertvolles Mitglied eines Bündnisses zu erweisen, kann sie hieraus politisches Kapital schlagen. Genau dies tut die türkische Regierung, und viele Staaten blicken durchaus bewundernd nach Ankara.
Die Bündnisvielfalt ermöglicht es dem türkischen Präsidenten, sich à la carte zu bedienen.
Das Verhalten der Türkei ist Ausdruck einer veränderten Weltordnung, deren Pole zugleich zahlreicher werden und ihre klar umrissenen Konturen verlieren. Die Zeit des globalen Dualismus ist lange vorbei, die Idee einer führungslosen Welt zerschellt an der Realität. Globale und regionale Mächte formen Bündnisse, werben um Verbündete und versuchen, die Welt nach ihren Vorstellungen in Einflusssphären zu ordnen. Die Türkei am Knotenpunkt von Europa, Russland, dem Kaukasus, Zentralasien, der arabischen Welt und Afrika ist nicht zufällig auf verschiedenen Hochzeiten ein gern gesehener Gast. Erdoğan versteht es, seine Karten ohne größere Rücksicht auf historische Bündnisse auszureizen. Er geht hierbei weiter als die meisten anderen, und doch kann man davon ausgehen, dass es mehr ist als persönliches Taktieren.
Wie sollten EU und NATO mit dieser realistischen Erwartung umgehen? Es hilft, den Blick auf das wesentliche Motiv des unsteten Handelns zu richten, nämlich auf die außenpolitischen Interessen. Eine nüchterne Betrachtung kann helfen zu verstehen, welche roten Linien auch unsichere Kantonisten nicht überschreiten werden. Während Appelle an Moral und Normen regelmäßig ungehört bleiben, dürfte im Falle der Türkei klar sein: Die NATO-Mitgliedschaft ist zwar nicht die einzige außenpolitische Absicherung, sie bleibt aber mit Abstand die wichtigste. Sie ist im Zweifelsfall die einzig verlässliche Schutzmauer gegen den ewigen eurasischen Rivalen Ankaras: Russland. Was angesichts der Avancen der Türkei gegenüber Russland seit Beginn des Krieges in der Ukraine widersprüchlich klingen mag, folgt aus Erdoğans Sicht der Logik von Annäherung und Abschreckung. Sein breitbeiniges Auftreten gegenüber Russland ist nur möglich durch den Schutz der NATO. Aus der Rivalität mit Russland erwächst sowohl die NATO-Mitgliedschaft als auch der für Europa befremdliche Kuschelkurs mit Putin.
Die Kehrseite einer solch nüchternen Interessenanalyse ist dann allerdings eben die Einsicht, dass die Türkei auch in einer Post-Erdoğan-Ära kaum bereit sein dürfte, alle ihre Eier in einen einzigen politischen Korb zu legen. NATO oder SCO, EU oder OWZ: Künftige Unterschiede dürften in unterschiedlichen Gewichtungen liegen, nicht in exklusiven Mitgliedschaften. Die Politik des Sowohl-als-auch, fluide Bündnispolitik und hybride Partnerschaften sind Phänomene, die die angebrochene Epoche der Zeitenwende prägen werden.
Während die Bedeutung von Bündnissen wächst, sinkt deren innere Kohärenz.
Solche Einsichten mögen weit entfernt sein von einer Idealvorstellung für partnerschaftliche Beziehungen, sie ermöglichen es aber, eine sinnvolle Außenpolitik zu formulieren. Denn egal ob die Türkei unter Erdoğan, die USA unter Donald Trump, Italien unter Giorgia Meloni oder vielleicht bald ein Frankreich unter Führung des Rassemblement National: Das bloße Beschwören bündnispolitischer oder gar wertegebundener Verbundenheit verliert an Bindungskraft. Während die Bedeutung von Bündnissen wächst, sinkt deren innere Kohärenz.
Eine ehrliche Analyse der zugrunde liegenden Dynamiken und Interessen ist hierauf noch keine Antwort, sie kann aber diese Lücke überwinden, indem sie in politische Angebote übersetzt wird. Im Hinblick auf die Türkei stehen entscheidende Monate bevor. Spätestens im Juni nächsten Jahres finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. In Zeiten von Wirtschafts- und Währungskrise stehen die Chancen der Opposition besser denn je, nach 20 Jahren die Herrschaft Erdoğans zu beenden.
Europa muss sich jetzt darauf vorbereiten, ein Angebot zu machen, dass der Türkei eine echte europäische Perspektive jenseits des ewigen EU-Beitrittskandidatenstatus bietet. Die Mitgliedschaft in der als „zweiten Liga der EU“ wahrgenommenen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPC) reicht hierfür nicht aus. Nur wenn das europäische Angebot den Interessen der Türkei in einem Mindestmaß entspricht, wird diese eine Neugewichtung ihres Bündnisengagements erwägen. Diese wenig Begeisterung auslösende Perspektive wäre dennoch ein gradueller außenpolitischer Erfolg, der einen Weg aufzeigen könnte, wie mit hybriden Partnern ein konstruktiver Umgang möglich ist.