Am 24. Februar überfiel der russische Präsident Wladimir Putin sein ukrainisches Brudervolk, um es endgültig als souveränen Staat zu vernichten. Wenn dies eine Zeitenwende war, war es eine Zeitenwende mit Ansage. An Zeichen, die auf Russlands Absicht hinwiesen, sich die Ukraine einzuverleiben, gab es keinen Mangel: Der monatelange, als Manöver getarnte massive Aufmarsch der russischen Streitkräfte an den ukrainischen Grenzen, die gebetsmühlenartig vorgetragenen erlogenen Anschuldigungen gegen die Ukraine vom „Genozid an der russischen Bevölkerung“, die mythische Erzählung von der historischen und spirituellen Einheit der Brudervölker und nicht zuletzt die 2014 erfolgte Annexion der Krim. Die Anklagen gegen die NATO und die westliche Politik waren Anzeichen, die man als das hätte erkennen können, was sie waren: Eine Kriegserklärung an den Westen und die Demokratie.

Mit diesem Angriffskrieg stellt Russland die Weltsicherheitsordnung infrage, die mit der Gründung der UNO 1945 als Reaktion auf den Horror des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde. Ihr Ziel ist es laut VN-Charta, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges“ zu bewahren. Kollektivmaßnahmen sollen „Bedrohungen des Friedens“ beseitigen, „Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche“ unterdrücken und internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel beilegen. Dafür nennt die Charta ein breites Spektrum an nicht-militärischen Mitteln, darunter Sanktionen, die der VN-Sicherheitsrat einsetzen kann. Im Extremfall kann der Sicherheitsrat auch eine militärische Intervention dekretieren.

Die Anklagen gegen die NATO und die westliche Politik waren Anzeichen, die man als das hätte erkennen können, was sie waren: Eine Kriegserklärung an den Westen und die Demokratie.

Nur greifen diese Möglichkeiten oft nicht, weil die fünf Nuklearmächte mit einem Veto eine Entscheidung verhindern können. Hier liegt ein gravierender Grund für die mangelnde Wirksamkeit der UNO. Die augenblickliche Situation im VN-Sicherheitsrat zeigt eine kafkaesk-grotesk pervertierte Situation: Den Vorsitz des Gremiums, welches der Hüter des Weltfriedens sein soll, hat das Land inne, das soeben völkerrechtswidrig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat. Der VN-Sicherheitsrat ist gelähmt. Ein Klima der Straflosigkeit wurde geschaffen, in dem Putin das Völkerrecht ignoriert – es ist in seinem brutalen Machtspiel keine Kategorie mehr.

Auch die euro-atlantische Sicherheitsordnung, die über Jahrzehnte mühsam aufgebaut worden ist, erodiert seit Jahren. Durch Putins Angriffskrieg wird sie grundsätzlich infrage gestellt. Festgeschrieben ist sie in politisch bindenden Verträgen in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Heute gehören der OSZE 57 Staaten aus Europa, Nordamerika und Zentralasien an.

Die OSZE ist in einem jahrelangen Verhandlungsprozess aus der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Zeiten des Kalten Krieges entstanden. Hatte es in den 1950er und 1960er Jahren schon Signale des Ostblocks gegeben, die eine Konferenz zu Fragen der europäischen Sicherheit vorschlugen, ebneten doch vor allem Willy Brandts Entspannungspolitik mit den Ostverträgen und dem Grundlagenvertrag mit der DDR sowie das Viermächteabkommen den Weg zur KSZE. Die Schlussakte von Helsinki von 1975 gilt zurecht als Meilenstein der europäischen Friedenspolitik, da sie die Normen und Werte definiert, die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens der Völker sein müssen. Sie orientieren sich an denjenigen, die bereits in der VN-Charta festgelegt sind: souveräne Gleichheit, Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Wahrung der Grundfreiheiten und Menschenrechte.

Die augenblickliche Situation im VN-Sicherheitsrat zeigt eine kafkaesk-grotesk pervertierte Situation.

„Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen“, verkündete 1990 verkündet die „Charta von Paris für ein neues Europa“. 1994 – mit dem Budapester Dokument der KSZE – werden dann bereits erste Bruchlinien sichtbar, die den Keim künftiger Konflikte der Organisation aufzeigen. Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie werden als Grundlage von Frieden und Sicherheit beschworen.

Noch voller Optimismus verständigten sich die Teilnehmerstaaten 1999 auf dem Gipfel von Istanbul auf die „Europäische Sicherheitscharta“ und das sogenannte „Wiener Dokument“ zu Transparenz und Vertrauensbildung. Der Vertrag zur konventionellen Abrüstung in Europa, der auf diesem Gebiet für signifikante Fortschritte gesorgt hatte, war erweitert worden, um – nach der Auflösung des Warschauer Pakts – den neuen geopolitischen Bedingungen Rechnung zu tragen. Allerdings ratifizierten ihn nur Russland, Belarus und Kasachstan. Alle anderen Teilnehmerstaaten verweigerten dies unter Verweis auf Russlands Verpflichtung zum Rückzug seiner Truppen aus Georgien und Transnistrien. Dies war ein gravierender Fehler: eine solche Forderung war im Vertragstext nicht enthalten. Aus russischer Sicht sicherlich ein Vertrauensbruch.

Im Laufe der Jahre kamen weitere Vertrauensbrüche hinzu: die Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA 2001 sowie der Aufbau eines Raketenabwehrsystems durch die USA und die NATO, verbunden mit der Weigerung, dies in Kooperation mit Russland zu tun. Diese Schritte trugen zu einem erheblichen Vertrauensverlust bei und führten zu einem neuen Wettrüsten. Mit der Kündigung weiterer wichtiger Abrüstungsverträge durch Präsident Trump wurde diese Entwicklung noch weiter beschleunigt.

Auch die euro-atlantische Sicherheitsordnung, die über Jahrzehnte mühsam aufgebaut worden ist, erodiert seit Jahren. Durch Putins Angriffskrieg wird sie grundsätzlich infrage gestellt.

Bereits 2008 hatte der damalige russische Präsident Medwedew einen neuen Sicherheitsvertrag vorgeschlagen. Seine Pfeiler sollten die unteilbare Sicherheit, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Unantastbarkeit der Grenzen sein. Das Recht auf freie Bündniswahl und weitere OSZE-Kriterien wie Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte fehlten. Die russische Seite hatte sich von wesentlichen Aspekten der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris entfernt.

Im Dezember 2009 überreichte Außenminister Lawrow der NATO einen weiteren Vertragsentwurf, der weit detaillierter in seinen Forderungen war. Er berief sich auf alle gemeinsam beschlossenen politischen Vereinbarungen der OSZE und auf die Verträge mit der NATO, wie die NATO-Russland Grundakte von 1997 und die Gründungsakte des NATO-Russland-Rates von 2002. Damit bestätigte dieser Vertragsentwurf die bisher vereinbarten Normen und Kriterien. Gleichzeitig aber versuchte er, die NATO-Erweiterung, die seit 1999 stattgefunden hatte, zu unterlaufen. Er enthielt die Forderung, in diesen Ländern keine NATO-Truppen zu stationieren und wurde somit nicht weiter verfolgt.

Einen ähnlichen Vertragsentwurf legte Putin den USA und der NATO am 17. Dezember 2021 vor: Die zentrale Forderung lautet ebenfalls, keine NATO-Truppen mehr in Ländern zu stationieren, die nicht bereits 1997 der NATO angehörten. Russland versuchte damit, seine alte Einflusssphäre neu abzustecken und eine neue euro-atlantische Sicherheitsordnung im Sinne Russlands zu etablieren. Eine solche Vereinbarung würde die in der OSZE und der VN-Charta garantierte freie Bündniswahl obsolet werden lassen. Auch alle Kooperationsprogramme der NATO wie die „Partnerschaft für den Frieden“ könnten dann keinen Bestand haben.

Der brutale Überfall auf die Ukraine hat nun die alte Sicherheitsordnung außer Kraft gesetzt. Putin droht jedem, der sich ihm in den Weg stellt, mit der Vernichtung der Zivilisation durch seine Nuklearwaffen. „Wenn die Ukraine nicht überlebt, werden die Vereinten Nationen nicht überleben“, prophezeite am 1. März der ukrainische Botschafter in der Generalversammlung. Die regelbasierte Weltordnung und ihre Normen wären zerstört. Die Generalversammlung verurteilte am selben Tag mit großer Mehrheit den Überfall Russlands auf die Ukraine. Der Krieg gegen die Ukraine ist seither jedoch in aller Brutalität weiter gegangen.