Der Anstieg des Antisemitismus in Deutschland bekümmert uns alle. Nach dem Schock des 7. Oktobers und Israels Krieg gegen Gaza kam es auch in Deutschland zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Anschläge und Angriffe. Es ist gut, dass nicht nur Polizei und Gerichte hier massiv eingreifen, sondern dass auch viele von uns klar einschreiten und mit Demonstrationen und Stellungnahmen deutlich machen, dass wir das nicht dulden. Es ist auch verständlich, dass sich der Bundestag mit einem Entschließungsantrag einschalten will. Auch dabei sollte es darum gehen, klar gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen und gegen Rassismus, insbesondere antimuslimischen und antipalästinensischen Rassismus, vorzugehen. Was bisher über den geplanten Antrag zu lesen ist, der wohl noch in dieser Woche verabschiedet werden soll, ist jedoch im Hinblick auf Form und Inhalt mehr als problematisch.
Klar ist doch, dass Politik Vertrauen braucht. Das ist eine Binsenweisheit und gerade in einer so aufgeheizten Auseinandersetzung wie der aktuellen um die Bekämpfung von Antisemitismus essenziell. Vertrauen ist eine grundlegende Voraussetzung für politische Stabilität. Die zahlreichen internationalen Krisen und Konflikte verunsichern heute viele Menschen. Besonders entsetzt blicken Viele in den Nahen Osten: Der Überfall und das Hinschlachten von mehr als tausend hilflosen jüdischen Menschen am 7. Oktober vor einem Jahr setzten den schockierenden Anfang. Die täglichen Bombardements und die Tötung tausender hilfloser Zivilisten in Gaza und im Libanon durch die Regierung Netanjahus, die das als legitime Selbstverteidigung versteht, und das Leiden vieler Frauen und Kinder, die in Israel, in Palästina und im Libanon täglich um ihr Leben fürchten müssen, erschüttern uns. Um ihr Leid geht es und darum, es möglichst schnell zu beenden.
Die Frage, welche Mittel in einem solchen Krieg mit dem Völkerrecht vereinbar sind, ist zweifellos wichtig und muss untersucht werden. Es ist gut, dass der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) sich damit befasst. Auch die Prüfung des Antrags des Generalanwalts des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, auf Erlass von Haftbefehlen unter anderen gegen den israelischen Premierminister und den israelischen Verteidigungsminister, wird dazu beitragen. Die Haftbefehle gegen die beschuldigten Hamas-Führer werden nicht weiterverfolgt werden können; beide sind tot.
Hierzulande eskalieren Debatten zum Nahostkonflikt oft in einseitige Schuldzuweisungen.
Wer sich in Deutschland mit diesen Fragen auseinandersetzt, muss das Völkerrecht und das internationale Strafrecht als Maßstäbe heranziehen. Das gebietet nicht allein unser völkerrechtsfreundliches Grundgesetz, sondern auch unsere eigene Geschichte – unser Grundsatz des „Nie wieder“ umfasst auch unseren Einsatz für Rechtsstaat und Völkerrecht. Doch hierzulande eskalieren Debatten zum Nahostkonflikt oft in einseitige Schuldzuweisungen, die zu heftigen Vorwürfen führen: Wer Entscheidungen Benjamin Netanjahus mit seiner rechtsextremen Regierung, ihrer Besatzungspolitik und den immer gravierenderen Schritten gegen eine Zweistaatenlösung kritisiert, wird leider häufig und fälschlicherweise als Feind Israels und Gegner der besonderen Verantwortung Deutschlands als Konsequenz der Shoah „entlarvt“ – was für ein Elend. Wer in die Diskussion um Israels Selbstverteidigungsrecht und seine Verantwortung in der Kriegsführung Aspekte des Völkerrechts einbringt, wird ebenfalls oft fälschlich als Antisemit abgestempelt. Viele entscheiden sich dann, lieber zu schweigen oder sich anzupassen – eine fatale Haltung.
In der öffentlichen Debatte läuft einiges schief, und dazu gehören auch die schlimmen Jubelszenen am 7. Oktober und Aufrufe zur Zerstörung Israels. Nochmals: Antisemitische Angriffe und Hetze müssen selbstverständlich geahndet werden. Der Anstieg des Antisemitismus in Deutschland hat auch innenpolitisch viel Unsicherheit um den richtigen Umgang mit diesem wichtigen Thema gebracht. Während alle dasselbe Ziel – den entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus – verfolgen, herrscht über den richtigen Weg erheblicher Streit. Seit über einem Jahr verhandeln Abgeordnete des Bundestags über einen gemeinsamen Entschließungsantrag, der ein klares Zeichen gegen Antisemitismus setzen soll. Dabei eint das Kernanliegen des Antrags, der Schutz jüdischen Lebens und der zentrale Einsatz gegen Antisemitismus in Deutschland, hoffentlich alle.
Das zu sichern, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die alle demokratischen Kräfte unterstützen sollten. Im Hinblick auf die Bedeutung dieses Anliegens – und hier beginnt meine Kritik – hätte der geplante Antrag von Anfang an veröffentlicht und die Diskussion von Anfang an öffentlich geführt werden müssen. Wer Vertrauen fördern will, muss gerade in Zeiten wie diesen eine offene und faire Auseinandersetzung suchen und fördern. Es darf auch nicht geduldet werden, dass im Zuge einseitiger Stellungnahmen ganze Gruppen von Einwanderern in eine falsche Ecke gestellt werden. Und es stünde uns in Deutschland gut an, schwerpunktmäßig unseren eigenen Antisemitismus zu bekämpfen – eine Aufgabe, die nicht nur Medien und Zivilgesellschaft, sondern auch die Politik, insbesondere die Bundesregierung und der Bundestag, übernehmen müssen.
Die dringend erforderliche Bekämpfung des Antisemitismus kann nur erfolgreich sein, wenn sie öffentlich und gesamtgesellschaftlich geführt wird.
Diametral falsch indes ist das bisherige Vorgehen, das in dieser Woche wohl durch einen Bundestagsbeschluss bekräftigt werden soll. Wer meint, mit einer nur kleinsten abgehobenen Zirkeln bekannten Festlegung durch einen Bundestagsbeschluss Verhalten und Meinung regulieren, ja mit finanziellen Sanktionen die Zivilgesellschaft disziplinieren zu sollen oder auch nur zu können, der tut das Gegenteil. Der sät Wind und wird – wieder einmal – Sturm ernten. Zum Nachteil aller, auch der Wissenschaftsfreiheit und den Teilen der Zivilgesellschaft, die sich für das Ende des Leidens und für eine friedliche Zukunft im Nahen Osten einsetzen. Nochmals: Die dringend erforderliche Bekämpfung des Antisemitismus kann nur erfolgreich sein, wenn sie öffentlich und gesamtgesellschaftlich geführt wird – alles andere erweist ihr einen Bärendienst. Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und dann ein eiliges Abstimmen über einen Antrag, der den Bundestagsmitgliedern erst wenige Stunden davor überhaupt zur Kenntnis gegeben wird, sind falsch und kontraproduktiv. Dieses Vorgehen entspricht auch nicht der Bedeutung des Anliegens.
Ohne die Einbeziehung der gesellschaftlichen Debatte in den parlamentarischen Raum kann der Kampf gegen Antisemitismus nicht erfolgreich sein. Es ist entscheidend, die Vielfalt der Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu hören und ihre Anregungen einzubeziehen. Besonders wichtig ist es, die Pluralität der jüdischen Stimmen anzuerkennen. Auch prominente jüdische Autorinnen und Autoren haben sich hier in Deutschland sehr kritisch mit dem Text auseinandergesetzt, soweit er ihnen bekannt war. Aus Kultur, Wissenschaft, juristischen Fachkreisen und von Menschenrechtsorganisationen kamen viele wichtige Anregungen und ebenfalls massive Kritik. Leider war das alles umsonst – das geht nicht bei einem so wichtigen gesamtgesellschaftlichen Thema.
Hinzu kommen mittlerweile auch kritische Stimmen aus Israel. Kann und will der Bundestag es sich wirklich leisten, über den offenen Aufruf führender israelischer Menschenrechtsorganisationen einfach hinwegzugehen? Wollen wir den eindringlichen Aufruf der Leiterin von HaMoked, einer langjährigen Stimme aus der israelischen Zivilgesellschaft, überhören, die vor einer gefährlichen Verquickung von Antisemitismusbekämpfung und legitimer Kritik an israelischer (Besatzung-)Politik warnt? Auch der New Israel Fund Deutschland hat sich mittlerweile an die deutsche Öffentlichkeit gewandt und fordert das eigentlich Selbstverständliche: die Sorgen der liberalen Zivilgesellschaft Israels ernst zu nehmen, die in einem erbitterten Kampf für demokratische Werte steht, während die israelische Regierung zunehmend illiberale Tendenzen verstärkt. Eine derartige Missachtung unterminiert nicht nur die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland, sondern gefährdet auch ihre Menschenrechtsarbeit in Israel und Palästina.
Eine derartige Missachtung unterminiert nicht nur die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland, sondern gefährdet auch ihre Menschenrechtsarbeit in Israel und Palästina.
Insbesondere die ausschließliche Verwendung der IHRA-Antisemitismusdefinition stößt vielen liberalen Kräften aus der jüdischen Gesellschaft und aus Israel negativ auf. Im Textentwurf wird die umstrittene IHRA-Antisemitismusdefinition als „maßgeblich“ herangezogen. Gerade aber diese Definition wirft zahlreiche Fragen auf, vor allem weil unklar bleibt, welche Teile dieser ja als Arbeitsdefinition gedachten Formulierung wie angewandt werden sollen. Fachkreise kritisieren die Definition mit guter Begründung als zu unpräzise und unscharf. Insbesondere aus der wissenschaftlichen Fachgemeinschaft hört man seitens führender (israelischer) Holocaustforscher wachsende Kritik und die Forderung nach einer wissenschaftlichen Debatte um diese Definition. Richtig ist, dass sie zu viele unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und damit die Gefahr in sich birgt, verhindern zu wollen, was doch notwendig ist: eine auf dem Völkerrecht basierende, legitime und notwendige Kritik am Regierungshandeln der Netanjahu-Regierung. Genau das befürchten auch die liberalen Regierungskritiker in Israel. Vor diesem Hintergrund wäre es nötig, vorhandene Alternativen zum Antragstext zu diskutieren. Das ist bisher nicht geschehen. Leider.
Jetzt haben der Bundestag und die mit dem Beschluss befassten Ministerien die Verpflichtung sicherzustellen, dass im Laufe der weiteren Debatte und Umsetzung auch alternative Definitionen, wie die Jerusalem Declaration, berücksichtigt werden. Das würde wenigstens dazu beitragen, auch die Pluralität innerhalb der (jüdischen) wissenschaftlichen Meinung anzuerkennen. Es ist falsch, den – mangels Transparenz bisher öffentlich nicht diskutierten – Antrag jetzt durch den Bundestag zu jagen. Wir brauchen eine Weitung des gesellschaftlichen und politischen Diskurses – keine Verengung. Der eingeschlagene Weg ist falsch. Der Bundestag sollte ihn daher nicht weitergehen, sondern stattdessen die offene Debatte eröffnen, etwa mit einer parlamentarischen Anhörung.