Dass in den USA Republikaner und Fox News sich über das angebliche Canceln von beliebten Kinderbüchern echauffieren, ist nicht weiter verwunderlich: Sie können der nach Trumps Krawallshow so wohltuend sachlichen Biden-Regierung im Moment nicht viel mehr entgegensetzen als Kulturkampf. Auch dass in Frankreich von Staatsseite das Gespenst islamogauchisme an die Wände der Hochschulen gemalt wird, ist nicht überraschend: Ein Macron, von dem Linke und Linksliberale tief enttäuscht sind, bedient schon mal die Themen der Rechtspopulisten, in der wohl vergeblichen Hoffnung, für die Wahl 2022 Le Pen-Anhänger abspenstig zu machen.

Aber warum verfallen in der Bundesrepublik sozialdemokratische Intellektuelle und sich selbst als Liberale bezeichnende Journalisten in eine Art moralische Panik angesichts von Identitätspolitik? Das hat nicht nur mit grundsätzlichen Missverständnissen des Phänomens zu tun bzw. mit Verallgemeinerungen über Zustände an „den Universitäten“ und in „Amerika“, die man offenbar nur so vom Hörensagen kennt. Es verrät auch eine Wandlung im Demokratieverständnis, jenseits aber auch diesseits des Atlantiks.

Es ist gar nichts schlimm daran, wenn Bewegungen von starken Emotionen getrieben werden.

Identitätspolitik wird immer wieder als eine Art Luxusproblem aggressiver, dauernervender Minderheiten kritisiert. Für manche Parteistrategen ist sie zudem eine Ablenkung von den eigentlich wichtigen – sprich: sozialen – Themen. Nun ist schon oft gezeigt worden, dass es sich hier normativ um einen falschen Gegensatz handelt: Identitäten und materielle Interessen lassen sich nicht trennen (und inzwischen, so könnte man sagen, nerven die stereotyp das Gleiche wiederholenden Kritiker der Identitätspolitik weit mehr als die vermeintlich dauerbeleidigten Minderheiten).

Es ist ein Mythos, man müsse jetzt endlich mal wieder irgendwie autoritär eingestellte Arbeiter ansprechen. Empirische Untersuchungen zeigen: Wer prinzipiell sozialer eingestellt ist, ist beispielsweise auch eher für die Ehe für alle. Und die Arbeiterinnen und Arbeiter, welche den linken Volksparteien weggelaufen sind, haben sich nicht den Rechtspopulisten in die Arme geworfen, sondern sich resigniert ganz aus dem politischen Leben verabschiedet. Denn ihnen wird kein plausibles sozial- und wirtschaftspolitisches Angebot mehr gemacht.       

Auf einer Art Meta-Ebene, wo man sich weniger um Prinzipien oder Parteistrategien als etwas betulich um die Qualität von Debatten sorgt, wird oft behauptet: Identitätspolitik ist nicht nur aggressiv und selbstgerecht, sondern ausgesprochen gefühlsbetont (wenn nicht gar von quasi-religiösem Erweckungseifer beseelt). Das ist in zweierlei Hinsicht irreführend. Es ist gar nichts schlimm daran, wenn Bewegungen von starken Emotionen getrieben werden. Und überhaupt: Einerseits beschwert man sich über mangelnde Partizipation, aber wenn rohe politische Energie spürbar wird, ist es auch wieder nicht recht. 

Zum anderen ist aber die krude Gegenüberstellung Gefühl auf der einen Seite und vernünftige Gründe auf der anderen fatal falsch. Wut – um nur das offensichtlichste Beispiel zu nehmen – kommt nicht einfach so über Menschen; vielmehr hat Wut immer Gründe: Man ist verärgert, weil man sich unfair behandelt fühlt. Wer Emotionen immer sofort vom Debattentisch wischt, weil da ja angeblich gar keine Verständigung möglich sei, wird auch gar nicht an den entscheidenden Punkt einer Auseinandersetzung kommen: den Moment, wenn man beispielswese über einen verletzten Sinn für Gerechtigkeit mit prinzipiell für alle nachvollziehbaren Gründen reden kann. Am Ende eines solchen Gesprächs wird man dann im Übrigen sehr wohl schlussfolgern können, ob Gefühle berechtigt sind oder nicht. Wir können Bürgerinnen und Bürgern Emotionen nicht einfach ausreden – aber Kritik an ihrer Begründung ist möglich und manchmal effektiv.

Ebenso problematisch ist das Argument, man könne sich ja über Identitäten gar nicht austauschen bzw. sie seien letztlich – anders als Interessen – politisch nicht verhandelbar. Oft wird dann auch behauptet, radikale Linke würden Leuten mehr oder weniger ungefragt eine kollektive homogene Identität verordnen, was Identität zum Zwang mache. Nur: Es geht bei der sogenannten Identitätspolitik – eigentlich besser gesagt: Politik für Minderheiten – immer auch um Prinzipien.

Es geht bei der sogenannten Identitätspolitik – eigentlich besser gesagt: Politik für Minderheiten – immer auch um Prinzipien.

Deren Anwendung versteht sich jedoch nicht von selbst: Mal gelten sie nur sehr selektiv, mal verfehlt eine vermeintlich universalistische Anwendung ihre intendierte Wirkung. Black Lives Matter beispielsweise forderte Grundrechte – wie das Recht, nicht von der Polizei malträtiert oder gar getötet zu werden – für alle Amerikaner ein; andere Gruppen wollen nicht diskriminiert werden, appellieren aber an ein allgemeines, für andere an sich nachvollziehbares Prinzip von Gleichbehandlung. 

Eine Ironie des Gebrauchs von Identitätspolitik als Schlagwort besteht darin, dass es eigentlich um das Nicht-Identische geht – das, was in ein Verständnis von demokratischer Gleichheit als Gleichmacherei oder gar Homogenität der Staatsbürger gerade nicht passt und deswegen ungerecht behandelt oder gar unterdrückt wird. Anders sein ohne Angst – diese von Adorno inspirierte Formulierung trifft, worauf Identitätspolitik eigentlich abzielt. Und es ist gerade kein Identischmachen.

Darüber hinaus ist es aber auch befremdlich, wenn jegliche Rede von „kollektiven Identitäten“ für suspekt erklärt wird. Hätten Sozialisten nie von der Arbeiterklasse sprechen dürfen? Ist es gefährlich, wenn man von Europa (Vorsicht: Kollektive Identität!) eine herausragende Rolle beim weltweiten Menschrechtsschutz fordert? Repräsentative Demokratie kann ohne Verallgemeinerungen über Gruppen gar nicht funktionieren. Selbstverständlich müssen solche Ansprüche und Appelle (Wir als Partei möchten Euch vertreten!) für Widerspruch und Revisionen offenbleiben. Aber nicht jede Verallgemeinerung ist eine illegitime Vereinnahmung.

Wenn es keine Konflikte gäbe, bräuchte man auch keine Demokratie, die dazu dient, mit ihnen auf friedliche Weise umzugehen – alles andere ist kommunitaristischer Kitsch.

Diese Angst vor kollektiven Zuschreibungen erklärt vielleicht auch eine eigentümliche Konfliktscheu. Dass die SPD im Zweifelsfalle staats- und vor allem demokratietragend agieren will, ist eine große und verdienstvolle Tradition. Dass sie klar für Verfassungspatriotismus – und nicht für einen Neonationalismus, der kleine Abstecher ins Völkische nicht verbietet – steht, ist ebenso ein Verdienst ums Ganze.

All das heißt aber nicht, dass sich alle Debatten immer nur um das „Gemeinsame“ drehen dürfen. Nicht jeder Konflikt ist schon etwas Schlechtes oder Zeichen einer fatalen „Spaltung der Gesellschaft“. Wenn es keine Konflikte gäbe, bräuchte man auch keine Demokratie, die dazu dient, mit ihnen auf friedliche Weise umzugehen – alles andere ist kommunitaristischer Kitsch. Und wenn Konflikte ausgetragen werden, gibt es notwendigerweise Verlierer – und das wiederum ist nicht per se illegitim, vor allem, wenn man ungerechtfertigte Privilegien verliert.

Der dezidiert politische Imperativ in einer Demokratie lautet immer noch: Mehrheiten suchen (und nicht: das absolut alle Verbindende suchen). Derzeit haben Sozialdemokraten eine enorme Chance, sich deutlich von einer in vieler Hinsicht ausgelaugten und sachlich wie moralisch diskreditieren CDU/CSU zu distanzieren. Das geht nur, indem man offen Kontraste und Konflikte markiert, anstatt Politik in einer Word Cloud von vermeintlichen Gemeinsamkeiten verschwinden zu lassen.