Mit der Dynamik von Klimaprotesten ist das so eine Sache. Auf der einen Seite ist das Thema breit und gefällig genug (Wer ist schon gegen Klimaschutz?), um allerlei Menschen auf die Straße zu bringen. Darunter auch solche, die nicht unbedingt dem Sozialtypus des ständigen Demogängers entsprechen. Auf der anderen Seite ist das Thema aber weder unmittelbar noch eindeutig materialisiert – mit einer Zeitprojektion, die deutlich über die prognostizierte Lebensdauer der meisten Menschen hinausreicht. Insofern eignet sich „Klima“ in der öffentlichen Wahrnehmung zwar ausnehmend gut als Lückenfüller, muss aber regelmäßig gegen härtere, lebensnähere und akutere Problemlagen zurückstecken.

Erinnert sei hier nur an die Proteste von Fridays for Future, die das reichlich träge 2019 maßgeblich geprägt hatten, 2020 aber angesichts der krisenhaft hereinbrechenden Covid-19-Pandemie fast augenblicklich verpufften. Nicht nur, weil aus rechtlichen Gründen keine Protestveranstaltungen mehr möglich waren, sondern auch, weil der virologische Ernstfall eine viel intensivere Gefahrenqualität zeitigte. Dasselbe Spiel zwei Jahre später, als sich der Wahrnehmungsraum nach dem Abklingen von Corona wieder ein Stück weit geöffnet hatte: Dieses Mal waren es die russischen Panzerketten, die jede Hoffnung auf eine zeitnahe Krisenhegemonie der Klimafrage gnadenlos einzustampfen wussten. Wer den Krieg vor der Haustüre hat (und die Kriegsflüchtlinge dahinter), findet andere Sorgensgründe als Monsunfluten irgendwo am entgegengesetzten Ende des Erdballs.

Das alles wäre wenig bemerkenswert, hätte sich nicht in den vergangenen anderthalb Jahren, wohl auch befeuert durch den Wirkungskollaps von Fridays und Konsorten, ein internationaler Klimaaktivismus herausgebildet, der mit besonderer Strenge und Kompromisslosigkeit auftritt: Just Stop Oil (Großbritannien), Renovate Switzerland (Schweiz), Debt for Climate! (Globaler Süden) – wohin man auch schaut, schießen Gruppen aus dem Boden, deren Protest auf einer recht rabiaten Schock- und Störstrategie gründet.

In Deutschland ist es vor allem die Letzte Generation, die seit geraumer Zeit mit apokalyptischer Klimaprophetie und öffentlichkeitswirksamer Protestpraxis die Gemüter zum Kochen bringt. Ursprünglich wenig mehr als eine befremdliche Episode im Vorfeld der Bundestagswahl 2021, finden sich ihre Kartoffelbreiwürfe und Straßenklebereien inzwischen im festen Wochentakt in der überregionalen Presse. Die Gruppe, so muss man neidlos anerkennen, weiß augenscheinlich, how to play the media game. In einer Aufmerksamkeitsökonomie ist das Gold wert.

In den vergangenen anderthalb Jahren hat sich ein internationaler Klimaaktivismus herausgebildet, der mit besonderer Strenge und Kompromisslosigkeit auftritt.

Flankiert wird der letztgenerationale Protest von einem bunten Strauß an Forderungen, wobei die jüngste näherer Aufmerksamkeit wert ist. Angesichts der Bedrohung durch den bald eintretenden Klimakollaps verlangen die Aktivisten nämlich seit Beginn des Jahres, „dass die Gesellschaft in einer Notfallsitzung zusammenkommt“. Ein Gesellschaftsrat, ein repräsentatives und zufällig ausgelostes Gremium, solle, von Expertinnen und Experten beraten, Vorgaben für ein klimaneutrales Deutschland bis zum Jahr 2030 machen.

An gewählten Volksvertretern vorbei würde so eine para-demokratische Entscheidungsstruktur mit einigem Spaltungspotenzial ins Leben gerufen, wobei unklar ist, ob deren Entschlüsse unmittelbar bindend sein sollen (so die ursprüngliche Forderung) oder am Ende doch die Parlamentarier entscheiden, wie sie mit den „erarbeiteten Maßnahmen umgehen“ (so ein neuerer Einschub). Zumindest eine Selbstverpflichtung von Regierungsseite hätte die Letzte Generation augenscheinlich gerne.

Der eigentliche Clou ist jedoch, dass besagter Gesellschaftsrat keineswegs als Diskursformat mit offenem Ausgang konzipiert ist. Die völlige Klimaneutralität bis 2030 (und damit das outcome) wird von den Aktivisten nämlich für unverhandelbar erklärt. Einzig den Weg dahin sollen die Gesellschaftsräte „sozial gerecht“ abstecken dürfen. Anstatt den Bürgerinnen und Bürgern wieder „mehr zuzutrauen“, wird also in Wahrheit einer eigentümlichen Entscheidungsperformanz das Wort geredet, bei der jeder ernsthafte Dissens und jede ablehnend-skeptische Ausformung des Bürgerwillens angesichts der Unabänderlichkeit der Zielvorgabe von vornherein ausgeschlossen sind. Im Grunde ist das fast ein wenig so (man verzeihe den Vergleich), als würde man einem Todeskandidaten die Wahl überlassen, ob er lieber via Strang oder Erschießungskommando aus dem Leben treten möchte. Entscheiden kann er sich frei, gewiss. Nur: Wenn er lieber gar nicht sterben will, hilft ihm das herzlich wenig.

Dass das Ganze keine reale Chance auf Umsetzung haben dürfte, liegt auf der Hand. Vielmehr wirkt es wie die jüngste Volte einer Bewegung, die ihren Protest zwar in konkrete Forderungen ummünzen muss, dabei aber nie so recht weiß, was sie gerade fordert und was schon wieder nicht mehr. Zunächst war da der schon erwähnte Hungerstreik vor der Bundestagswahl, durch den ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten erzwungen werden sollte. Hernach folgte der monatelange Einsatz für ein Essen-retten-Gesetz („wie in Frankreich!“) und eine umfassende Agrarwende. Als auch das nicht mehr wirklich zog, zündete man die nächste Stufe im Forderungsfeuerwerk: Ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde (das andere bereits auf eigene Faust durchzusetzen versuchen) und eine Verstetigung des temporär eingeführten Neun-Euro-Tickets in Bus und Bahn. Und jetzt, nachdem man erkannt hat, dass all das ja nur „erste Sicherheitsmaßnahmen“ seien, wird der Gesellschaftsrat in seinen verschiedenen Verbindlichkeitsvarianten noch obendrauf gepackt.

Das große Protestvorbild Extinction Rebellion hat diesen Januar angekündigt, von seiner disruptiven Strategie abzulassen.

Dieses stete Lavieren zwischen klimapolitisch marginalen Symbolthemen und großangelegtem system change ist einerseits im Vorgehen der Bewegung angelegt (nämlich in ihrer Strategie, immer neue Aufmerksamkeit zu generieren), andererseits aber auch ihr Verhängnis. Denn würde man als Politiker der Forderung von heute nachgeben, hätte man schon morgen eine neue, noch radikalere, noch weitreichendere und mutmaßlich noch weniger mehrheitstaugliche auf dem Tisch. Der Aktivist, der mit Handankleben sein Recht auf die Neun-Euro-Permanenz erzwingen kann, entdeckt zweifelsohne ständig weitere „Sicherheitsmaßnahmen“ auf dem Weg zum angestrebten Gesellschaftsumbau. Und umgekehrt geht der Politiker, der sich einmal dem Druck der Straße gebeugt hat, jedes Prinzipienarguments verlustig, es künftig nicht wieder zu tun.

Auch wenn man alle (berechtigten) Zweifel an der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit der Proteste beiseiteschiebt, kommt man insofern nicht umhin, zu fragen, was die Letzte Generation mit ihren Forderungsläufen eigentlich zu bezwecken beabsichtigt. Will sie Druck zu tagespolitischen Fragestellungen ausüben, deren Effekt auf das Weltklima aber eher vernachlässigbar sind? Glaubt sie wirklich an Regulativutopien wie die vom Gesellschaftsrat? Oder ist sie unter Zugzwang, nicht nur mit ihren Protestaktionen, sondern auch mit ihrem Protestbegehren im Gespräch zu bleiben – und ordnet die einzelnen Nahziele insofern dem Primat der Aufmerksamkeitserregung unter? Das Abarbeiten an bestimmten Reizthemen legt diesen Schluss nahe, doch ist es natürlich ebenso möglich, dass die Bewegung weit weniger planvoll vorgeht, als gemeinhin angenommen wird. Vielleicht lässt sie sich am Ende schlicht von der „Gunst des Augenblicks“ (Schiller) und den eigenen Rationalitätswahrnehmungen treiben.

So oder so stellt sich ihr und ihren europäischen Anverwandten aber die Frage, wie man in dem selbst aufgerufenen Handlungsfenster von zwei bis drei Jahren (das sich freilich immerzu nach hinten verschieben lässt) einen klimagerechten Umbau der hiesigen Industriegesellschaften realistisch zustande bekommen möchte. Dass ein solches Ziel am besten erreicht werden kann, indem man einen Rat von ohnehin schon Überzeugten (wer sonst würde unter den genannten Bedingungen teilnehmen?) Emissionseinsparungspfade ausbaldowern lässt, ist zumindest stark zweifelhaft. Entscheidender scheint, einer breiten Bevölkerungsmehrheit glaubhaft zu vermitteln, dass – und mehr noch: wie – sich dieser Umbau in einer Form bewerkstelligen lässt, die nicht mit beträchtlichen Wohlstandsverlusten und Freiheitsbeschneidungen des Einzelnen einhergeht. Gelingt das nicht, dann lässt sich kein Klimaprogramm der Welt auf Dauer stellen.

Unbestritten ist ein solcher Vermittlungsprozess um einiges schwerer und tückenreicher als das Einrichten in bequemen Gedankenwelten, in denen ein concilium ex machina schon die nötige Veränderung anstoßen wird. Allein: In einer Zeit, in der das Wiederaufkommen sozialer Fragen an jeder Ecke droht (und nicht ewig mit diversen Sonderzahlungen abgefedert werden kann), in der die der Letzten Generation nahestehende Klimaliste selbst in Berlin Wahlergebnisse im unteren Nachkommastellenbereich einfährt und im Ausland munter neue Ölpipelines abgesegnet werden, wäre etwas mehr Pragmatismus und Stringenz anzuraten.

Der britische Hauptzweig des großen Protestvorbilds Extinction Rebellion hat etwa erst diesen Januar angekündigt, von seiner disruptiven Strategie ablassen und sich mehr auf das Brückenbauen verlegen zu wollen. In einer Pressemitteilung hieß es, auch angesichts der zunehmend ungemütlichen Rechtslage priorisiere man bis auf weiteres „das Teilnehmen gegenüber dem Verhaftetwerden und den Aufbau von Beziehungen gegenüber dem Durchführen von Straßensperren“. Vielleicht können die Briten ja dieses Mal Vorbild für den Kontinent sein?