Seit der russischen Ukraine-Invasion sind die Meldungen von der weltberühmten russischen Kultur so schlecht, dass um ihr Überleben gebangt wird. Zu Beginn sprachen sich sehr viele Musiker, Schauspieler und Künstlerinnen öffentlich gegen den Krieg aus. Als das nichts änderte, zerfielen die kulturell Aktiven in drei Fraktionen, wie die Musikwissenschaftlerin Anna Wilenskaja für die Musikbranche und der Journalist Andrej Perzew in der Film- und Theaterwelt beobachten: Es gibt erstens diejenigen, die bei der öffentlichen Verurteilung der Invasion bleiben, zweitens die, die verstummen, aber jede öffentliche Unterstützung vermeiden, und drittens die, die sich dem Feldzug ihrer Mächtigen öffentlich anschließen.

Gegen die erste Gruppe begann umgehend eine umfassende staatliche Repressionskampagne, die viele bekannte Künstler ins Ausland drängte oder ihnen die Arbeitsgrundlage und damit das Einkommen entzog. Selbst wer sich mit ihnen solidarisiert, gefährdet sein kulturelles Schaffen. Gegen den Krieg öffentlich Stellung bezog beispielsweise die 84-jährige bekannte Schauspielerin Lina Achedschakowa. Sie wurde aus dem Ensemble ihres Theaters, in dem sie seit 1977 tätig war, entfernt, ihr Stück abgesetzt. Nach einer Solidaritätsbekundung in Sozialen Netzwerken durch ihre Petersburger Kollegin Xenia Rappoport wurde auch deren Stück unvermittelt vor der Premiere abgesetzt.

Wer nicht zum neuen, totalitären Kulturkurs der russischen Staatsmacht passt, kann aktuell seinen Posten verlieren.

Doch auch wer nicht offen gegen den Kreml rebelliert, jedoch nicht zum neuen, totalitären Kulturkurs der russischen Staatsmacht passt, kann aktuell seinen Posten verlieren. Ein prominentes Beispiel ist Zelfira Tregulova, die bisherige Leiterin der Tretjakow-Galerie in Moskau. Die bekannte Kunsthistorikerin leistete unzweifelhaft eine herausragende Arbeit mit erfolgreichen Ausstellungen, dem Zukauf vieler moderner Werke und nicht zuletzt mit der Gründung einer Außenstelle in Samara. Dennoch musste Tregulova nun im Februar 2023 gehen, da sie nicht mehr zum ultrakonservativen politischen Kurs passe, wie die Onlinezeitung Meduza unter Berufung auf eine Quelle im Russischen Kulturministerium berichtet. Kritisiert wurde von nationalpatriotischen Kreisen in Moskau, dass ihre Ausstellungen nicht den „traditionellen Werten“ Russland entsprächen.

Der reaktionäre, also antimodernistische und nationalistische, neue Kriegs-Mainstream in der staatstragenden Elite Russlands spiegelt sich zu 100 Prozent auch in seinen Vorstellungen von Kultur. Kunst oder Musik ist nicht nur dann „unpassend“, wenn sie von offenen Oppositionellen kommt, sondern auch wenn sie ausländische oder gar westliche Einflüsse integriert. Wegen der Radikalität der Repression in allen Bereichen können Kulturschaffende vor allem aus dem klassischen Bereich oder dem Theater in keine noch so kleine Nische verschwinden, wenn sie in politische Ungnade fallen. Wenn also jeder auch nur minimal abweichende Geist in der Versenkung verschwindet, muss mit einer Verkümmerung des künstlerischen Niveaus in russischen Museen und Theatern gerechnet werden. Das wesentliche Kriterium sei nicht mehr das Wissen oder die Kompetenz der Menschen, sondern die Bereitschaft, sich das kriegbefürwortende „Z“ umzuhängen, stellt der Analyst Alexander Baunov von Carnegie fest.

Die Polarisierung spiegelt sich im Ausland, wo der angepasste Teil der russischen Kulturszene kaum für Engagements gebucht wird, während umgekehrt regimekritische Künstlerinnen umso mehr gefeiert werden. So nahmen bekannte russische Filmemacher 2022 am Filmfestival in Cannes teil, Kiril Serebrennikows Film Tschaikowskys Frau ging in den Hauptwettbewerb. Der Regisseur war nach einer kurzzeitigen Verhaftung zuvor aus Russland geflohen.

Unklar ist, ob und wie lange sich kritisches Theater oder Autorenkino aus Russland im Exil halten kann.

Unklar ist dabei natürlich, ob und wie lange sich kritisches Theater oder Autorenkino aus Russland im Exil halten kann. Denn als zahlendes Publikum steht vor allem die russische Diaspora zur Verfügung, zumal in den allermeisten Ländern die russische Sprache sehr wenig verbreitet ist. So kommen als Überlebensoasen fast nur Länder der ehemaligen Sowjetunion infrage, wo auch die Einheimischen häufig über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen. Nicht umsonst sind bekannte russische Künstler vor der staatlichen Verfolgung oft in Länder des Kaukasus und nach Mittelasien geflohen – nicht in den zahlungskräftigen, aber sprachlich meist inkompatiblen Westen.

Anders ist die Situation nur in der Musikszene. Hier gibt es zwar ebenfalls angepasste Künstlerinnen und Künstler, welche die Musikwissenschaftlerin Anna Wilenskaja „Propagandamusiker“ nennt. Allerdings gebe es kein Konzept, die Offiziellen wüssten noch nicht, was sie wollen. Und vor allem sei die Qualität nicht mit dem vergleichbar, was dissidente kreative Köpfe produzierten. Dieser Auffassung ist auch der russische TV-Moderator Dmitry Nagijew, der sich in diesem Jahr weigerte, den renommierten Musikpreis des russischen Clipkanals Muz-TV zu moderieren. Dort werden nun natürlich nur noch angepasste Acts prämiert. Nagijew wolle lieber warten, bis dort wieder die „wirklich besten Musiker“ ausgezeichnet würden.

Anders ist die Situation nur in der Musikszene.

Viele der besten Musiker aller Genres haben das Land verlassen, wie etwa die Singer-Songwriterin Zemfira, die Band Little Big (bekannt vom Eurovision Song Contest 2020) oder das experimentelle Elektroprojekt Ic3peak. Doch das Exil schneidet, anders als etwa bei Theaterkünstlern, den Kontakt zum Publikum in Russland nicht ab. Über das Internet findet unangepasste Musik auf vielen, kaum kontrollierbaren Wegen immer noch zum heimischen Publikum, Live-Events oder Sessions im Exil werden gestreamt, Musikfiles werden ausgetauscht.

Die erfolgreichsten russischen Musiker sind tatsächlich noch immer die unangepassten. Andrej Perzew verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass etwa auf YouTube Little Big 7,2 Millionen Abonnenten habe, während die meisten „patriotischen“ Acts mit junger Zielgruppe im fünf- bis sechsstelligen Bereich dümpeln, obwohl sie in den Inlandsmedien im Gegensatz zu den Abweichlern omnipräsent sind. Das neuste Video des zum ausländischen Agenten erklärten Rappers Oxxxymiron erreichte auf YouTube 14 Millionen Klicks. Es ist daher kein Wunder, dass die russische Regierung sich aktuell bemüht, YouTube zu sperren, das letzte frei zugängliche westliche Soziale Netzwerk.

Die russische Regierung bemüht sich aktuell, YouTube zu sperren, das letzte frei zugängliche westliche Soziale Netzwerk.

Ob mit einer YouTube-Sperre der Einfluss oppositioneller Musiker auf die Hörerschaft Russlands eingedämmt werden kann, ist jedoch sehr zweifelhaft, selbst wenn man Umgehungsmöglichkeiten wie VPN außer Acht lässt. Anna Wilenskaja stellt fest, dass gerade für Russinnen und Russen, die sich im aktuellen System einsam fühlen, oft die Musik der emigrierten Künstlerinnen ihre Bedürfnisse und ihre Lebenswelt am besten anspricht – und eben nicht irgendein Propaganda-Pop. Perzew verweist in diesem Zusammenhang auf die Erfahrungen aus der späten Sowjetzeit, als junge Leute Kassetten mit „verbotener“ Musik kopierten und diese Musik den Ruf echter Qualität hatte – nicht der angepasste Sowjetsound. Sogar Konzerte wurden in den 80er Jahren im Untergrund organisiert, verfolgt von der Polizei. Ein Szenario, wie es in der Subkultur von Moskau oder Sankt Petersburg in den nächsten Jahren wieder denkbar ist. Nach dem Ende der sowjetischen Repression füllten diese Künstler Fußballstadien – anders als ihr angepasstes Gegenstück aus dem offiziellen UdSSR-Kulturprogramm.

Die größere Widerstandskraft der Musikszene gilt nicht nur für die Stars der russischen Jugend. Gerade die Generation der Musiker, die in der Sowjetunion schon auf Verbotslisten stand und meist ältere Zuhörer hat, steht dem innerrussischen Umschwung in Richtung reiner „Patriotenmusik“ kollektiv ablehnend bis feindselig gegenüber. Klassische Rocklegenden wie DDT oder Aquarium bezogen schnell aktiv Stellung gegen den russischen Angriffskrieg . Sogar die mittlerweile 73-jährige Alla Pugatschowa, eine der wichtigsten russischen Popsängerinnen des 20. Jahrhunderts ging unter Protest ins Exil.

All diese Musiker verschwanden damit zwangsweise von den Playlisten russischer Radiostationen. Doch wie in Mitteleuropa reicht die Macht der leicht zu kontrollierenden, klassischen Medien nicht aus, um erfolgreiche Musik mundtot zu machen. Auch älteres Publikum ist online unterwegs oder verschafft sich Zugang zur Musik unerwünschter Künstler für zu Hause. Bei Musik lässt sich echte Popularität schwerer unterdrücken, als in anderen Bereichen.

Die größte Hoffnung der russischen Kultur liegt tatsächlich auf der kreativen Musikszene – ob jung oder alt.

Moderne, junge Projekte mit einem zeitgemäßen Sound haben zusätzlich die Chance, sich außerhalb Russlands neue Fans zu verschaffen. So gastiert das schon zeitlebens kremlkritische Elektronikduo Ic3peak in Kürze in Finnland auf einem großen Elektrofestival zusammen mit den britischen Szenelegenden The Chemical Brothers. Nach ihrer Ausreise aus Russland waren die beiden Moskauer auf einer internationalen Clubtournee mit 16 Auftritten, 15 davon waren ausverkauft. Ein Wermutstropfen bei all diesem Erfolg ist es, dass sich immer wieder ukrainische Musiker weigern, selbst mit offen kriegskritischen Russinnen und Russen auf der Bühne zu stehen. Eine internationale Solidarität der Kriegsgegner aus dem Westen und Russland ist hier – wie in anderen Bereichen – nicht zu spüren, wäre aber dringend nötig.

So liegt die größte Hoffnung der russischen Kultur tatsächlich auf der kreativen Musikszene – ob jung oder alt. Sie ist auch geeignet, Anti-Kriegs-Helden wie einst John Lennon hervorzubringen und ein Licht für den Frieden zu verbreiten, inmitten einer trüben, rückwärts gewandten „Russischen Welt“ des grauen Heldenpatriotismus. Für die übrige Kulturwelt sind innerhalb dieser „Russischen Welt“ die Prognosen so grau wie das aktuelle russische TV- und Radioprogramm.