Die Szenen scheinen sich auf verblüffende Weise zu ähneln – ein britischer Premier verspricht vor den Wahlen, nur mit ihm könne das Volk entscheiden, ob es in der kritisch beäugten Europäischen Gemeinschaft bleiben wolle. Nach dem Wahlsieg folgen rasche Verhandlungen, ein Kompromiss wird präsentiert und als Erfolg verkauft. Jetzt, so hört man aus London, sei die Grundlage gelegt, um für ein deutliches „Ja“ zu Europa zu werben, schließlich hänge die wirtschaftliche Zukunft der Insel von der Mitgliedschaft ab. Und schließlich folgt tatsächlich ein mehrheitliches und doch irgendwie halbherziges Bekenntnis zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Brüsseler Organisation – mit zahlreichen Konflikten zur Wiedervorlage.

All das ist tatsächlich schon über 40 Jahre her, dennoch scheint der einzig offensichtliche Unterschied zu heute, dass damals ein Labour-Premierminister in der Downing Street residierte. Natürlich ist vieles anders als 1975. Zu jener Zeit versuchte Großbritannien vor allem, seine Handelspräferenzen mit dem Commonwealth zu schützen sowie seine überproportionalen Beiträge zum EG-Haushalt zu verringern. Heute geht es der Regierung darum, den Zugang von EU-Ausländern zu den ohnehin chronisch unterfinanzierten Sozialsystemen zu begrenzen und Londons Rolle als Finanzplatz zu verteidigen. Auch war Europa in den 1970ern, trotz Ölkrise und des Schlagworts der Eurosklerose, nicht in einem auch nur annähernd vergleichbar schlechten Zustand. Heute brennt es an allen Ecken und Enden; zumindest Mitschuldige scheinen immer in Brüssel zu sitzen. Gerade im ohnehin europaskeptischen Großbritannien mag die EU daher manchem als sinkendes Schiff erscheinen, das man besser verlässt, solange man noch ein Rettungsboot erreicht.

Heute brennt es an allen Ecken und Enden; zumindest Mitschuldige scheinen immer in Brüssel zu sitzen.

Und doch gibt es eine große Parallele zu 1975, die kaum angesprochen wird: Weder EU-Befürworter noch -Gegner in Großbritannien haben eine klare Vorstellung davon, welche Rolle ihr Land in der Welt spielen kann und soll. In dieser Frage ist Nigel Farage in Wahrheit genauso ratlos wie David Cameron oder Jeremy Corbyn. Nach 1945 versuchten verschiedene britische Regierungen jahrzehntelang, mehr oder weniger pragmatische Lösungen zu finden, um die zahlreichen imperialen Rückzugsgefechte zu beenden und gleichzeitig global weiter mitzureden. Wichtigste Säule dieser Politik war dabei spätestens ab 1956 das Bündnis mit Washington und die Hoffnung, über den besonderen Draht zu den USA deren Einfluss nutzen zu können. Die europäische Integration – mit dem Leitmotiv der deutsch-französischen Aussöhnung – konnte hingegen nie wirklich überzeugen. Als dann die überraschenden wirtschaftlichen Erfolge und das zunehmende politische Gewicht der EG eine britische Mitgliedschaft letztlich alternativlos erscheinen ließen, lehnte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle 1963 und 1967 zwei Bewerbungen ab. Zu skeptisch war er ob des neugefundenen Europa-Willens der Briten; zu offensichtlich erschienen ihm die egoistischen Beweggründe hinter den Beitrittsgesuchen.

Vom britischen Widerwillen, sich in positiver Weise zur europäischen Integration zu bekennen, gab es im Grunde nur eine Ausnahme. Der konservative Premier Edward Heath sah sein Land weniger als Juniorpartner Washingtons, sondern wollte es im Zentrum eines eigenständigen und vereinigten Europas sehen. Nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen, sondern vor allem aus politischer Überzeugung führte er daher Großbritannien nach de Gaulles Rücktritt 1973 in die EG. Doch selbst unter Heath wurde dem britischen Volk die Mitgliedschaft in erster Linie mit wirtschaftlichen Argumenten verkauft; die politischen Beweggründe und strukturellen Zwänge einer postimperialen Außenpolitik traten demgegenüber in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund. Bedenkt man, dass der verspätete Beitritt dann auch noch mit dem Ölschock und fast einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Krisen zusammenfiel, ist es kein Wunder, dass das britische Volk auch innerhalb der EG keinen sonderlichen Enthusiasmus für das Integrationsprojekt entwickeln konnte.

Und so führt Großbritannien auch 40 Jahre nach dem ersten Referendum erneut eine Phantomdebatte.

In der Tat ist es der offensichtliche Widerspruch zwischen den entscheidenden politischen Beweggründen für die EG-Mitgliedschaft und den wirtschaftlich dominierten innenpolitischen Legitimationsstrategien sukzessiver Regierungen, die die britische Debatte über Europa so absurd erscheinen lässt. So stimmte die Bevölkerung im Juni 1975 unter Heaths Nachfolger Harold Wilson zwar mit fast zwei Dritteln für den Verbleib in der EG, doch auch hier wurde von den EG-Befürwortern vor allem auf pragmatisch-wirtschaftlicher Ebene argumentiert. Das daraus folgende Bekenntnis zu Europa war dementsprechend zwar breit, aber eben auch nicht sonderlich tiefgehend. Als dann die eiserne Lady Margaret Thatcher in den 1980er Jahren handtaschenschwingend den „Britenrabatt“ erkämpfte und in ihrer Brügge-Rede die zunehmend aufdringliche Rolle der EG-Kommission geißelte, jubelte ihr das wirtschaftlich und politisch neu erstarkte Königreich selbstbewusst zu. Angesichts des Sieges im Falklandkrieg und dem erfolgreichen Wiederaufstieg des globalen Finanzzentrums London schien eine ernsthafte Debatte über die eigene Rolle in Europa und der Welt gar nicht nötig. Dabei wird oft vergessen, dass Thatcher die Briten mit dem Unterzeichnen der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 tiefer in der EG verankerte als all ihre Vorgänger oder Nachfolger – mit der Ausnahme Edward Heaths.

Und so führt Großbritannien auch 40 Jahre nach dem ersten Referendum erneut eine Phantomdebatte. Gegner der EU-Mitgliedschaft wie der Londoner Bürgermeister Boris Johnson verlieren sich in abenteuerlichen Argumenten über britische Souveränität und Selbstbestimmung; Befürworter versuchen, die Bevölkerung mit einer Angstkampagne über die vermeintlich desaströsen wirtschaftlichen Folgen eines Austritts zu verschrecken. Doch vor einer ernsthaften Auseinandersetzung über Großbritanniens zukünftige Rolle in einer sich rasant verändernden Welt schrecken beide Seiten weiterhin zurück. Egal, wie das Referendum am 23. Juni ausgehen mag – die britische Debatte über Europa wird es so nicht beenden können.