Wirklich überrascht sein durfte eigentlich niemand, dafür waren die Umfragen zu eng. Und doch: Das Brexit-Votum hat das politische Großbritannien mit der Wucht eines Erdbebens getroffen. Eigentlich sollte das Referendum endlich Gewissheit bringen. Aber die  zentralen Fragen bleiben offen. Wer wird neuer britischer Regierungschef? Tritt Großbritannien tatsächlich aus der Union aus, und wenn ja: wann und wie? Was passiert nach dem Austritt? Und wird Schottland unabhängig – und bleibt dann womöglich in der EU? Eindeutige Antworten auf die großen Fragen gibt es bisher kaum. Aber auf welcher Grundlage sie zu suchen sind, wird zunehmend klarer. Vier wichtige Anhaltspunkte:

 

Das Referendum ernst nehmen

Der Ausgang des Referendums muss akzeptiert werden. Das klingt banal, ist es aber nicht. Denn in den Tagen nach der Entscheidung hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Ergebnis in Frage zu stellen. Millionen Briten schlossen sich einer Forderung nach einem zweiten Referendum an; Wahlrechts-Experten prüften, ob das Ergebnis angefochten werden könne – etwa weil die Brexiteers falsche Versprechungen machten; Kommentatoren aller Couleur diskutierten über ein mögliches schottisches Veto und darüber, ob das Parlament in Westminster sein Volk überstimmen könne. Von all dem ist wenig geblieben. Die schottische Regierung hat akzeptiert, dass sie den Austritt Großbritanniens rechtlich nicht verhindern kann; die dem schottischen Parlament für den Normalfall eingeräumten Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung geben das schlicht nicht her. Wahlanfechtungen werden nicht ernsthaft verfolgt, Pläne für ein zweites Referendum sind zumindest vertagt. Und selbst in Westminster, dem Zentrum der parlamentarischen Demokratie, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man das Votum von über 17 Millionen Bürgern nicht per Parlamentsbeschluss umkehren kann. Dass manches einfacher wäre, wenn die Regierung das Volk dann und wann auflöste und neu wählte, wusste schon Bertolt Brecht. Aber nicht mal ihm schien es ein probates Mittel. Auch für Parlamente taugt es nicht. Es gibt also kein Zurück zur Zeit vor dem 23. Juni.

 

Der Austrittsprozess: Anstoß Großbritannien

Nach Artikel 50 des EU-Vertrags beginnen die Verhandlungen, wenn ein Mitgliedstaat seinen Wunsch, aus der EU auszutreten, gegenüber dem Europäischen Rat erklärt. Mit anderen Worten: Der austrittswillige Staat gibt den Startschuss, Großbritannien muss sich gegenüber den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten äußern. Diese Erkenntnis hat sich nun auch in Brüssel durchgesetzt, das damit von zwei Thesen abgerückt ist. Erstens: Das Referendum selbst ist keine Austrittserklärung im Sinne des Artikel 50. Und zweitens: Großbritannien muss nicht sofort den Antrag auf Austritt stellen. Weiterhin drängen europäische Politiker auf schnelle Klarheit. Aber eine Schwebephase bis zum Amtsantritt der neuen britischen Regierung ist nun offenbar akzeptiert. Und so verständlich der Wunsch nach schneller Klarheit sein mag: Eine Schwebephase ist sinnvoll; zu bedeutsam sind die anstehenden Entscheidungen, die nur mit einer stabilen britischen Regierung getroffen werden können.

 

Spielregeln: Knackpunkt Binnenmarkt

Was exakt das in Artikel 50 vorgesehene „Abkommen über die Einzelheiten des Austritts“ regeln wird, ist offen – und bleibt bis auf weiteres offen, denn erst nach dem britischen Startschuss beginnen die Verhandlungen. Doch auch hier gibt es Bewegung. Schemenhaft werden die großen Themenblöcke sichtbar, über die verhandelt werden muss, wenn es gilt, abstrakte Forderungen nach „mehr Souveränität“ in konkrete Politik umzusetzen. Der Binnenmarkt, Kern der europäischen Wirtschaftsintegration, steht im Zentrum dieser frühen Debatten und ist auch für das austrittswillige Großbritannien wirtschaftlich bedeutsam. Doch wie verträgt sich das mit Forderung nach Begrenzung der Zuwanderung aus EU-Mitgliedstaaten? In Brüssel, Paris, Berlin und anderswo heißt es unisono, dass Großbritannien nicht auf einen „Binnenmarkt à la carte“ hoffen solle: Wer Marktzugang wolle, müsse die Marktfreiheiten anerkennen, einschließlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Daraus mag man ableiten, dass Begrenzungen bei der Freizügigkeit – wie sie die Bewerber um David Camerons Nachfolge als Premierminister nun erneut versprechen – in Verhandlungen teuer erkauft werden müssen: eventuell mit Abstrichen beim Zugang britischer Firmen zum Markt oder bei der Lizenzierung Londoner Finanzdienstleister.

 

Und Schottland?

In Schottland hat eine klare Mehrheit gegen den britischen Trend gestimmt – 62 Prozent der Schotten wollen in der EU bleiben, in keinem einzigen Wahlbezirk gab es eine Mehrheit für den Brexit. Schnell hat die schottische Regierung daher ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum – das zweite nach dem recht knapp gescheiterten vom September 2014 – gefordert. Falls Großbritannien tatsächlich, entgegen der schottischen Mehrheitsmeinung, en bloc aus der EU austreten sollte, wird sich ein solches nicht verhindern lassen. Doch auch in diesem Punkt hat sich die Debatte seit dem 23. Juni fortentwickelt. Bei Gesprächen in Brüssel ist die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon für Schottlands EU-freundliche Haltung gelobt worden. Aber ihr Wunsch, die EU möge nun separat mit Schottland über dessen Status in der EU verhandeln, blieb unerfüllt. Vielmehr haben Donald Tusk, François Hollande und andere klargestellt: Schottland mag am Ende des Austrittsprozesses besonders behandelt werden. Aber das muss im Rahmen von Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich diskutiert werden; schottische Separatverhandlungen gibt es nicht. Damit ist der Ball zurück auf die Insel gespielt. Ganz wesentlich kommt es nun darauf an, wie Schottland im gesamt-britischen „Team Brexit“ vertreten sein wird – und ob Schottlands besondere Rolle in den Austrittsverhandlungen berücksichtigt wird.

Zu frühe inhaltliche Festlegungen zu vermeiden – auch das ist eine Position; ja, sie scheint das Verhalten vieler Akteure in den ersten Wochen nach dem Referendum zu prägen. Man kann das als Zeitspiel kritisieren und schnelle Klarheit fordern. Aber das wäre kurzsichtig. Denn wenn Großbritannien und seine europäischen Partner nach dem Erdbeben vom 23. Juni eines brauchen, so ist es Zeit zum Nachdenken.