Die Forderung nach einer harten Behandlung Großbritanniens in Folge des Brexit-Votums hat Hochkonjunktur. Mit größter Selbstverständlichkeit wird nun verlangt, an Großbritannien ein Exempel zu statuieren – allein schon, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Mag die Enttäuschung verständlich sein, so knüpfen die daraus geborenen Forderungen führender Europapolitiker an ein Reaktionsmuster an, das sich schon in der Vergangenheit immer dann gezeigt hat, wenn sich ein Volk gegen die erhoffte Dramaturgie gewendet hat.

Nur wird dabei zweierlei vergessen: Das Ergebnis ist auch und gerade ein Beleg für das Legitimitätsdefizit der Gemeinschaft. Und zweitens: Die Erfahrung lehrt, dass die Forderungen nach einer harten Haltung unrealistisch sind. Das aktuelle Entsetzen dürfte sich alsbald im Sande intergouvernementaler Verhandlungen verlaufen und die nun so kalte Schulter wird nicht lange kalt bleiben. Die europäischen Partner werden zu nüchterneren Verhandlungen übergehen. Die Aussagen der Bundeskanzlerin, die Abschreckung und Aktionismus ablehnt, deuten diese Tendenz schon an. Für diese Position gibt es gute Gründe: Denn erstens passt die harte Haltung nicht zum Modus europapolitischer Verhandlungsführung. Zweitens kann an einer dauerhaften Verschlechterung der Beziehungen zu Großbritannien niemandem gelegen sein. Die Forderung nach einer Bestrafung der Briten ist also irrational. Und drittens schließlich würde das Statuieren eines solchen Exempels eher die Gräben vertiefen, als sie zuzuschütten – und dies nicht nur im Vereinigten Königreich selbst, sondern in ganz Europa. Ein solches Vorgehen wäre äußerst schädlich.

 

Von der Aussichtslosigkeit der Abschreckung

Die EU ist kein einheitlicher Akteur, sondern ein intergouvernementaler Kompromissfindungsapparat zuzüglich einer supranationalen Bürokratie. Wenn es um die großen historischen Entscheidungen wie die Bewältigung des Brexit geht, ist der intergouvernementale Kreis gefragt. Das Europäische Parlament hat gemäß dem zu Recht geforderten geordneten Verfahren nach Art. 50 EUV erst in gut zwei Jahren eine Mitsprache über das fertige Paket. Die Kommission indes wird allenfalls Verhandlungs-, aber keine Entscheidungskompetenz in diesem Verfahren haben. Der Europäische Rat selbst verfügt aber über keine Faust, mit der er auf den Tisch schlagen könnte. Er wird zu keiner einheitlichen Position finden, die Großbritannien aufgrund eines demokratischen Mehrheitsvotums effektiv in den Senkel stellt. Zum Ersten nämlich wissen viele im Kreis der Staats- und Regierungschefs, dass sie ein ähnliches Referendum in ihrem Land nicht verhindern, geschweige denn mit Sicherheit gewinnen könnten. Dies spricht für Empathie und Milde zumindest hinter verschlossenen Türen. Hinzu kommt die mangelnde Homogenität zwischen den Mitgliedstaaten sowohl im Hinblick auf ihre generelle europapolitische Positionierung, ihre Betroffenheit vom Brexit, die Präferenzen hinsichtlich seiner Ausgestaltung als auch die Zukunftspläne für die Gemeinschaft. Schließlich ist in diesem Kreis von Pragmatismus auszugehen: Mit dem Votum der Briten wurde eine neue Sachlage geschaffen. Auf ihrer Grundlage müssen sachgemäße Entscheidungen gefällt werden.

 

Von der Irrationalität der Abschreckung

Ist also das Zustandekommen der Abschreckung schon fraglich, so ist es auch ihre potenzielle Wirkung: Denn es ist mitnichten gesagt, dass sich euroskeptische Kräfte dadurch tatsächlich aufhalten lassen würden. Kommt es zu weiteren Volksabstimmungen – auch dies zeigt das britische Beispiel –, werden diese nicht einfach durch Appelle an die ökonomische Vernunft und insbesondere nicht durch Drohkulissen zu gewinnen sein. Jenseits der Abschreckungsrhetorik ist erst recht keinem Mitgliedstaat in der EU durch eine anhaltende Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Großbritannien gedient. Wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas aus dem Binnenmarkt gedrängt würde, bekämen das alle zu spüren. Die Verhandlungen werden also vom geteilten Interesse geleitet sein, das Land im gemeinsamen Wirtschaftsraum zu halten. Dafür werden beide Seiten zu Zugeständnissen bereit sein.

 

Von der Schädlichkeit der Abschreckung

Knapp 50 Prozent der Briten haben für einen Verbleib in der EU votiert. Ganze Regionen haben mit deutlichen Mehrheiten gegen den Landestrend abgestimmt. Junge Menschen bringen aktuell ihre Enttäuschung und ihre Begeisterung für das europäische Projekt zum Ausdruck. Nicht zuletzt um diese Menschen an Europa zu binden und die in Großbritannien entstandenen Gräben nicht weiter zu vertiefen, sollten beide Seiten an einer möglichst behutsamen Entkopplung des Königreichs vom Kontinent interessiert sein. Auch in Schottland darf man das Solidaritätsgefüge nicht falsch einschätzen. Ein zu harter Umgang mit Großbritannien könnte auch hier einen Stimmungsumschwung bewirken. Die größte Gefahr aber besteht in der verstärkenden Wirkung auf das euroskeptische Lager in Großbritannien und darüber hinaus, wenn die EU ein Land wegen eines demokratischen Votums bestrafen sollte. Nicht wenige werden geneigt sein, dies als Beleg für die undemokratischen Tendenzen der Brüsseler Konstruktion zu werten und sich in die Arme der Populisten begeben.

Bei aller Enttäuschung über den Ausgang des Referendums gilt es nun, nicht die Fassung zu verlieren. Die Abschreckungsforderung führt zu nichts und passt nicht zur EU. Sie ist entgegen der kursierenden Annahmen nicht klug. Und sie wird die Krise nicht überwinden, sondern allenfalls vertiefen. Es gehört zu einer Politik der abgestuften Integration, dass sie Annäherungsstufen unterhalb der Vollmitgliedschaft ermöglicht. Die Briten werden nicht die ersten sein, die eine solche Position beziehen. Die EU kann immer noch Anreize bieten, um den (Wieder-)Aufstieg in den engeren Kreis zu befördern. Umgekehrt wird sie kein Land durch Gewalt und Abschreckung im inneren Kreis halten können, sondern nur durch Leistung und Legitimität.