In Washington ist die Ukraine-Krise auch ein Anlass, sich mit Zustand und Wahrnehmung amerikanischer Macht und der globalen Rolle der USA auseinanderzusetzen. Die Entwicklung wird dabei von vielen, insbesondere aber den Kritikern Präsident Obamas, als schmerzliche Demonstration der Grenzen amerikanischen Einflusses wahrgenommen. Denn die amerikanische (Vor)Macht habe den Konflikt weder verhindern, noch bislang beenden können.

Die Antwort auf die Frage nach dem Schuldigen ist für Republikaner und konservative Analysten eindeutig: Ein führungsschwacher Präsident Obama hat US-Glaubwürdigkeit insbesondere durch seine Syrienpolitik untergraben. Damit hat er nach ihrer Auffassung die Ukraine-Krise mit heraufbeschworen. Moderate und progressive Analysten hingegen verteidigen Obamas Entscheidungen. Doch auch sie sind alles andere als zuversichtlich und fordern ein grundsätzliches Überdenken der außen- und sicherheitspolitischen US-Strategie.

Die aktuelle Debatte begann mit der Frage, ob und wie umfassend Sicherheit und Interessen der USA durch die Ukraine-Krise überhaupt tangiert werden. Dabei lassen sich die Positionen kaum nach „Demokraten hier“ und „Republikaner dort“ aufteilen. In der Frühphase der Krise betonten Analysten jeglicher Couleur, dass die Ukraine-Krise die amerikanische Sicherheit nur am Rande berühre. Russland sei lediglich eine Regionalmacht, der metastasierende Bürgerkrieg in Syrien beträfe die amerikanische Sicherheit sehr viel unmittelbarer.

Die Stabilität der internationalen Ordnung gilt durch Russlands eklatante Aggression als kompromittiert.

Mittlerweile aber herrscht über Parteigrenzen hinweg Konsens, dass US-Interessen durch die gewaltsame Verschiebung der ukrainischen Grenze nachhaltig betroffen sind. Die Stabilität der internationalen Ordnung gilt durch Russlands eklatante Aggression als kompromittiert. Damit sind die USA, die sich als Architekt und Garant der internationalen Ordnung verstehen, unmittelbar (heraus)gefordert. „Das gesamte Modell unserer globalen Führungsrolle steht auf dem Spiel”, erklärte US-Außenminister John Kerry auf einer Tagung zum 10. Jahrestag der NATO- und EU-Osterweiterung in Washington Ende April.

Doch zur Frage, wie auf diese Entwicklung zu reagieren ist, herrscht alles andere als Konsens. Zumindest in einem Grundsatz besteht Einigkeit: Eine militärische Auseinandersetzung mit Russland soll auf jeden Fall vermieden werden. Geteilt wird dabei aber auch die Sicht, dass Tatenlosigkeit nur zu weiteren Aggressionen einlade. Die Lösung: Sanktionen. Doch auch hier gehen die Meinungen im Detail auseinander.

 

Streit um Sanktionen

Die Obama-Administration argumentiert, dass die bisherigen Sanktionsmaßnahmen Wirkungen erzielen und die russische Wirtschaft empfindlich träfen. Laut Außenminister Kerry bezahlt Russland einen hohen Preis, ablesbar etwa an der aktuellen Herabstufung durch Rating-Agenturen, Kapitalflucht und Zurückhaltung von Investoren. Das ist sicher der Fall.

Aber nicht nur republikanische Kongressabgeordnete, sondern auch Vertreter der Obama-Administration selbst  erwarten – als Bestätigung amerikanischen Einflusses – sehr viel schneller und umfassendere Veränderungen. Sie stellen folglich die Wirksamkeit der Maßnahmen in Frage. Schließlich habe Russland sein Verhalten nicht verändert. Die Ursache: Die Sanktionen seien „zu langsam und nur reaktiv“. Sie sollten abschrecken aber sie „bestrafen Russland nicht für das, was es schon getan hat“, so Stephen Hadley, der frühere Sicherheitsberater von George W. Bush.

Republikanische Stimmen fordern mittlerweile auch eine militärische Unterstützung der Ukraine.

Kritiker fordern daher weit umfassendere „sektorale Sanktionen“ – wenn nötig auch unilateral verhängt. Europa werde sich der US-Position am Ende schon anschließen. Doch damit nicht genug. Republikanische Stimmen fordern mittlerweile auch eine militärische Unterstützung der Ukraine. Die Entsendung von 600 US-Soldaten nach Polen und ins Baltikum als Rückversicherung für die NATO-Partner greift in ihren Augen zu kurz. Sie kritisieren, dass die Obama-Administration so bemüht sei, jede Provokation zu vermeiden, dass sie nicht einmal die harmlosesten Hilfsgüter in amerikanischen Flugzeugen nach Kiew fliegen lasse.

Eine der Schlüsselfiguren ist hier der ehemalige Präsidentschaftskandidat John McCain. Er schloss in der Frühphase des Konflikts militärische Aktionen aus. Nun jedoch unterstützt er mit 18 anderen Senatoren einen Gesetzesentwurf, der den Präsidenten im Fall weiterer Eskalation autorisieren würde, Sanktionen gegen russische Unternehmen zu erlassen, Russland vom globalen Finanzsystem abzuschneiden und die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Zudem sieht der Entwurf die beschleunigte Aufstellung eines Raketenabwehrsystems in Europa vor. Dagegen hat sich die Obama-Administration eindeutig gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, da dies das Kriegsrisiko erhöhe. Verteidigungsminister Chuck Hagel betonte die Notwendigkeit, eine „weise, friedliche Lösung zu finden“. Für viele Republikaner hingegen macht die unzureichende Unterstützung durch die USA einen Konflikt nur wahrscheinlicher. Doch angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Senat hat dieser Entwurf derzeit keine Chance, Gesetz zu werden.

 

Im Hintergrund: Kollidierende Ansprüche und das Menetekel Syrien

In der aktuellen Krise kollidiert die Erwartung, globale Politik nachhaltig zu gestalten mit der Erfahrung begrenzter Wirkung. In gewisser Weise war dies schon immer so. Denn die Annahme weitgehender Kontrollfähigkeit stimmte mit der Realität amerikanischer Macht nie überein. Doch die Realität eingeschränkter Macht (von Präsident Obama weit bereitwilliger akzeptiert als von der Mehrheit in Washington) ist derzeit für viele Akteure in der US-Politik nur schwer erträglich. Dabei geht der Selbstanspruch umfassender Verantwortung für die Gestaltung globaler Politik eine ungute Verbindung ein mit der Verunsicherung in Folge von Terroranschlägen, erfolglosen Kriegen im Irak und Afghanistan, einer katastrophalen Finanzkrise und der sichtbaren Verschiebung ökonomischer Macht nach Asien. Amerika sieht sich umgeben von endlosen Krisen – ohne eine klare Vision eigener Prioritäten.

In der Diskussion um die US-Strategie in der akuten Krise gibt es derzeit auch vor diesem Hintergrund keine umfassende Antwort. Madeleine Albright fasste den derzeitigen US-Ansatz daher wie folgt zusammen: Unterstützung für die Ukraine, Russlands Kosten hochtreiben, NATO stärken, Commitment für Europa demonstrieren.

Obgleich die Ukraine also von der Peripherie ins Zentrum gerückt ist, ist der Ausgangspunkt der Strategie-Debatten dabei immer wieder auch die als Wendepunkt wahrgenommene Syrienpolitik Obamas. Selbst für Unterstützer des Präsidenten wie Anne Marie Slaughter (ehemals Leitern des Planungsstabs im Außenministerium und nun Präsidentin der New America Foundation) beginnen erfolgreiche Bemühungen, Putin zu stoppen, oft in Syrien.

Auch sie erklärt die Bereitschaft, militärische Mittel offensiv zu nutzen, zum „entscheidenden Element für eine Veränderung des strategischen Kalküls“ – nicht nur in Damaskus, sondern auch in Moskau und darüber hinaus in Peking und Tokio. Obama sei angetreten, um Kriege zu beenden, nicht um sie zu beginnen. Aber, so die in Washington vielfach geteilte Annahme, „wenn die USA auf Kugeln mit Worten antworten, werden Tyrannen ihre eignen Schlüsse ziehen, und das gilt auch für Verbündete“. Die USA müssten bereit sein, „die volle Verantwortung der Macht zu schultern“. Ein Militärschlag in Syrien „würde den dortigen Bürgerkrieg möglicherweise nicht beenden, aber er könnte den Ausbruch eines neuen Bürgerkriegs in der Ukraine verhindern“.