In seinem letzten Buch vor seinem Tod machte sich Samuel Huntington mit „Who are we?“ Gedanken über die „Hispanisierung“ großer Teile des amerikanischen Südwestens. Er beschrieb die Durchdringung der alten amerikanisch-protestantischen, englisch geprägten Kultur durch die Einwanderung spanischsprachiger katholischer Süd- und Mittelamerikaner – vor allem aus Mexiko. Von einem (auch gewalttätigen) „Aufeinanderprallen“ (engl. „clash“) der Kulturen/Zivilisationen ist darin nicht die Rede. Konflikte treten in der Gesellschaft (Zivilisation) auf, nicht an deren vermeintlichen Bruchlinien. Ergebnis ist die Herausbildung einer neuen Identität. Man merkt dem Text an, dass Huntington diese Entwicklung bedauerte, er hielt sie wohl aber für unvermeidlich. Damit widersprach er, ohne dies auszuführen, seiner berühmten These vom „clash of civilizations“.

Huntingtons These ist kein analytisches Instrument, sondern ein politisches Argument.

 

Solche Prozesse gegenseitiger Durchdringung prägen die globale Geschichte spätestens seit dem Zeitalter des Imperialismus/Kolonialismus. In der Folge waren die Grenzen zwischen Kulturen/Zivilisationen sehr bald nicht mehr klar zu bestimmen. Der Kolonialismus führte in religiöser, sprachlicher und kultureller Hinsicht zu einer irreversiblen Durchdringung. So führte die Herrschaft Frankreichs in Nordafrika zur Herausbildung spezifischer politischer Systeme, die Einwanderung von islamisch geprägten Menschen ins Mutterland veränderte wiederum die französische Gesellschaft. Das ist nur ein Beispiel, es ließen sich viele andere finden.

Das Ende des (ideologisch begründeten) Kalten Krieges führte also nicht zu einem „Aufeinanderprallen“ verschiedener, seit langem bestehender, aber durch die bipolare Welt verdeckter Zivilisationen an deren Bruchstellen. Vielmehr setzte sich ein jahrhundertealter Prozess fort. Die Attentäter von Paris sind ohne die Banlieues der französischen Großstädte, der Folge von Einwanderung und Kolonialismus, nicht zu verstehen. Auch sie sind somit Bestandteil einer „westlichen“ Zivilisation, die ständiger Veränderung unterliegt.

Schon vor dem „Zeitalter der Ideologien“ fanden die heftigsten Auseinandersetzungen innerhalb von Zivilisationen statt. Dabei entstanden kulturell recht unterschiedliche Bewegungen, die eine gewichtige Rolle spielten, aber nicht klar einer einzigen Zivilisation zuzuordnen sind. Der 1851 ausbrechende Taiping-Aufstand im China der Qing-Dynastie, der zur Ausrufung einer christlich inspirierten Theokratie führte, ist hierfür ein beredtes Beispiel. Der von diesem Aufstand ausgelöste Bürgerkrieg dürfte die folgenschwerste und an Menschenleben verlustreichste Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts gewesen sein.

Statt der von Huntington angenommenen, wieder zum Vorschein gekommenen Konfliktlinien entwickelten sich seit langem Synkretismen. Der Begriff einer abgrenzbaren Zivilisation taugt daher kaum als analytisches Instrument. Sicherlich führen Sprache und ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem kulturellen Zentrum zum Versuch der Abgrenzung, zumindest dann, wenn diese Elemente unterdrückt werden. Dieser Prozess ist jedoch nur ein Faktor unter vielen – ebenso von Bedeutung wie die Renaissance der Großmachtpolitik in der gegenwärtigen multipolaren Welt.

Notwendig wären eine Neubestimmung der verschiedenen Gesellschaften im Sinne einer beschreibenden Analyse und das Aufzeigen ihrer Abhängigkeiten und Verbindungen. Dies gilt gerade auch für die islamische Welt. Schon im späten 19. Jahrhundert stellte sich für muslimische Reformer wie Scheich Mohammed Abduh oder al-Sayyid Jamal al-Din al-Afghani die Frage, warum die islamische Gesellschaften den Kolonialisten unterlagen und wie sie in eine Situation der Abhängigkeit geraten waren. Beide wollten westlich inspirierte Reformen, die (europäische) Idee der Nation und eine Rückbesinnung auf die alte Dynamik des Islams miteinander verbinden.

Huntingtons These ist ein Argument in der politischen Auseinandersetzung, sie ist kein brauchbares analytisches Instrument zum Verständnis bestehender oder kommender Konflikte.